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Abteilung VI

F-6330/2020

 

 

 

 

 

Urteil vom 18. Oktober 2021

Besetzung

 

Richterin Susanne Genner (Vorsitz),

Richterin Esther Marti,

Richter Daniele Cattaneo,

Richter Yanick Felley,

Richter Gregor Chatton,

Gerichtsschreiberin Eliane Kohlbrenner.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

B._______, geboren am (...),

Somalia,

beide vertreten durch Laura Heimgartner-Castelnovi,

Rechtsschutz für Asylsuchende - Bundesasylzentrum

Region Bern,

Beschwerdeführende,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern,  

Vorinstanz.

 

 

 

 

Gegenstand

 

Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung

(Dublin-Verfahren);

Verfügung des SEM vom 4. Dezember 2020 / N (...).

 

 


Sachverhalt:

A. 
A._______ (nachfolgend: Beschwerdeführerin) ersuchte am 27. März 2019 in der Schweiz um Asyl. Ein Abgleich mit dem zentralen Visa-Informationssystem (CS-VIS) ergab, dass ihr von Italien ein vom 7. Januar 2019 bis 31. Januar 2019 gültiges Visum ausgestellt worden war. Gestützt darauf ersuchte das SEM (Vorinstanz) die italienischen Behörden um Übernahme der Beschwerdeführerin gemäss Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend: Dublin-III-VO). Zuerst nahmen die italienischen Behörden innert der festgelegten Frist keine Stellung. Nachdem ihnen die Vorinstanz am 6. Juni 2019 mitgeteilt hatte, die Beschwerdeführerin habe am (...) in der Schweiz ihren Sohn, B._______ (nachfolgend: Beschwerdeführer), zur Welt gebracht, stimmten sie am 11. Juni 2019 dem Übernahmeersuchen unter Verwendung des Formulars "nucleo familiare" ausdrücklich zu.

B. 
Am 18. Juni 2019 trat die Vorinstanz auf das Asylgesuch der Beschwerdeführenden nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Italien an. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil F-3306/2019 vom 12. November 2019 gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück. In der Begründung führte das Gericht aus, die Vorinstanz hätte angesichts des Ausschlusses von Familien vom Zweitaufnahmesystem die konkreten Unterbringungsmodalitäten in Italien prüfen und allenfalls weitere Zusicherungen bezüglich familiengerechter Unterbringung und medizinischer Versorgung einholen müssen. Sie habe den Sachverhalt im Hinblick auf die Anwendung der Souveränitätsklausel nicht rechtsgenüglich abgeklärt und sei ihrer Pflicht zur Ermessensausübung nicht nachgekommen.

C. 
Am 19. Dezember 2019 trat das SEM erneut auf das Asylgesuch der Beschwerdeführenden nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Italien an. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil F-33/2020 vom 10. Januar 2020 wiederum gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurück. In der Begründung führte das Gericht aus, ein Verweis auf das Rundschreiben der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 und die Angabe, dass in den Erstaufnahme- und Notaufnahmezentren Räume für Familien reserviert seien, seien keine ausreichenden Zusicherungen. Die Vorinstanz habe den Sachverhalt nach wie vor nicht rechtsgenüglich abgeklärt, da sie es unterlassen habe, in einer Einzelfallprüfung abzuklären, ob ein Verzicht auf den Selbsteintritt angezeigt sei.

D. 
Auf Ersuchen der Vorinstanz vom 18. September 2020 übermittelten die italienischen Behörden am 4. November 2020 ein aktualisiertes Formular "nucleo familiare" mit der Zusicherung einer adäquaten, familiengerechten Unterbringung.

E. 
Mit Verfügung vom 4. Dezember 2020 (eröffnet am 8. Dezember 2020) trat die Vorinstanz auf das Asylgesuch der Beschwerdeführenden nicht ein und ordnete deren Wegweisung nach Italien an.

F. 
Am 15. Dezember 2020 erhoben die Beschwerdeführenden beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde. Sie beantragten, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, auf das Asylgesuch einzutreten. Eventualiter sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Vor-instanz anzuweisen, individuelle Zusicherungen bezüglich des Zugangs zum Asylverfahren, adäquater medizinischer Versorgung sowie Unterbringung von den italienischen Behörden einzuholen. Der vorliegenden Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu gewähren. Die Vorinstanz und die Vollzugsbehörden seien im Rahmen von vorsorglichen Massnahmen unverzüglich anzuweisen, bis zum Entscheid über das vorliegende Rechtsmittel von jeglichen Vollzugshandlungen abzusehen. Ihnen sei die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. Insbesondere sei auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.

G. 
Am 16. Dezember 2020 ordnete die Instruktionsrichterin einen superprovisorischen Vollzugsstopp an. Gleichentags lagen die vorinstanzlichen Akten dem Bundesverwaltungsgericht in elektronischer Form vor.

H. 
Mit Zwischenverfügung vom 18. Dezember 2020 gewährte die Instruktionsrichterin der Beschwerde die aufschiebende Wirkung und forderte die Vorinstanz auf, sich im Rahmen der Vernehmlassung zum Beschwerdevorbringen, die Überstellungsfrist sei abgelaufen, zu äussern.

I. 
Mit Vernehmlassung vom 28. Dezember 2020 nahm die Vorinstanz zu einem möglichen Ablauf der Überstellungsfrist Stellung.

J. 
Am 28. Januar 2021 reichten die Beschwerdeführenden eine Replik ein.

K. 
Mit Duplik vom 25. März 2021 äusserte sich die Vorinstanz zum Selbsteintrittsrecht. Der Duplik waren ein Rundschreiben der italienischen Behörden vom 8. Februar 2021 und ein Schreiben der italienischen Behörden vom 23. März 2021 beigelegt.

L. 
Am 5. Mai 2021 reichten die Beschwerdeführenden eine Triplik ein.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden auf dem Gebiet des Asyls zuständig und entscheidet über diese in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (vgl. Art. 83 Bst d Ziff. 1 BGG). Die Beschwerdeführenden sind zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 108 Abs. 3 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG).

1.2  Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

2. 
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG). Das Bundesverwaltungsgericht wendet im Beschwerdeverfahren das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG nicht an die Begründung der Begehren gebunden und kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen. Massgebend ist grundsätzlich die Sachlage zum Zeitpunkt des Entscheids (BGE 139 II 534 E. 5.4.1; BVGE 2014/1 E. 2).

3. 
Dieses Urteil ergeht gestützt auf Art. 25 Abs. 2 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) i.V.m. Art. 32 Abs. 3bis des Geschäftsreglements vom 17. April 2008 für das Bundesverwaltungsgericht (VGR, SR 173.320.1).

4.   

4.1  Die Beschwerdeführenden monieren, die Vorinstanz sei seit Erlass des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts F-33/2020 am 10. Januar 2020 bis zum Ersuchen der italienischen Behörden um Zusicherungen bezüglich Unterkunft am 18. September 2020 untätig geblieben. Aus den Akten seien keine Gründe ersichtlich, die eine derartige Verzögerung rechtfertigen würden. Folglich sei das Verbot der Rechtsverzögerung nach Art. 29 Abs. 1 BV (SR 101) verletzt.

4.2  Das Verbot der Rechtsverzögerung ergibt sich aus Art. 29 Abs. 1 BV. Danach hat jede Person Anspruch auf eine Beurteilung ihrer Sache innert angemessener Frist (sog. Beschleunigungsgebot). Von einer Rechtsverzögerung ist auszugehen, wenn behördliches Handeln zwar nicht (wie bei einer Rechtsverweigerung) grundsätzlich infrage steht, aber die Behörde nicht binnen gesetzlicher oder - falls eine solche fehlt - angemessener Frist handelt und für das "Verschleppen" keine objektive Rechtfertigung vorliegt (BGE 144 II 486 E. 3.2; 130 I 312 E. 5; Müller/Bieri, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum VwVG, 2. Aufl. 2019, Art. 46a N. 16). Wird gegen den mittlerweile ergangenen Akt beschwerdemässig ins Feld geführt, die Behörde habe diesen hinausgezögert, handelt es sich nicht um eine Rechtsverzögerung. Nach der Lehre wird hier im Rahmen einer allgemeinen Verwaltungsbeschwerde geltend gemacht, die Behörde habe im Verfahren auf Erlass der konkreten Verfügung bestimmte Verfahrensregeln (z.B. Behandlungsfristen) missachtet. Eine solche Rüge wird nur dann materiell behandelt, wenn noch ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Verzögerung besteht (Müller/Bieri, a.a.O., Art. 46a N. 24).

4.3  Die Vorinstanz ist mit Verfügung vom 4. Dezember 2020 auf das Asylgesuch der Beschwerdeführenden nicht eingetreten und hat deren Wegweisung angeordnet. Das vorinstanzliche Verfahren wurde damit mit einer anfechtbaren Verfügung abgeschlossen. Die Rüge der Rechtsverzögerung erweist sich zum heutigen Zeitpunkt als obsolet, womit kein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung einer Verzögerung besteht.

5.   

5.1  Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durchführung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zuständig ist (Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG). In diesem Fall verfügt das SEM in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an (Art. 44 AsylG).

5.2  Gemäss Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO wird jeder Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 8-15 Dublin-III-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird (vgl. auch Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-VO). Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Asylantrag gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO). Im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens (Art. 23-25 Dublin-III-VO) findet grundsätzlich keine (neue) Zuständigkeitsprüfung nach Kapitel III Dublin-III-VO mehr statt (vgl. zum Ganzen BVGE 2017 VI/5 E. 6.2 und 8.2.1).

Die italienischen Behörden stimmten dem Übernahmeersuchen der Vor-instanz innert der in Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO festgelegten Frist zu. Die Zuständigkeit Italiens ist somit grundsätzlich gegeben.

5.3  Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann keine Überstellung gemäss diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).

5.4  Abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat beschliessen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO). Dieses sogenannte Selbsteintrittsrecht wird durch Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) konkretisiert. Gemäss dieser Bestimmung kann das SEM das Asylgesuch aus humanitären Gründen auch dann behandeln, wenn dafür gemäss Dublin-III-VO ein anderer Staat zuständig wäre. Liegen individuelle völkerrechtliche Überstellungshindernisse vor, ist der Selbsteintritt zwingend (BVGE 2015/9 E. 8.2.1).

6.   

6.1  Die Beschwerdeführenden rügen, die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Italien gemäss Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO habe mit der Verfügung vom 19. Dezember 2019 zu laufen begonnen und sei mittlerweile abgelaufen. Folglich habe ein Zuständigkeitsübergang auf die Schweiz stattgefunden. Schliesslich könne es nicht sein, dass die Überstellungsfrist mit einer Beschwerde immer wieder unterbrochen werde und nach einem Rückweisungsentscheid und Erlass einer neuen Verfügung erneut zu laufen beginne. Dadurch könnten Verfahren unverhältnismässig verlängert werden, was dem Charakter des Dublin-Verfahrens als beschleunigtes Verfahren zuwiderlaufe.

6.2  Vorab ist festzuhalten, dass die Bestimmungen zur Überstellungsfrist in der Dublin-III-VO "self-executing"-Charakter haben (BVGE 2015/19 E. 4.5), weshalb sich die Beschwerdeführenden darauf berufen können.

6.3  Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Bst. c oder d Dublin-III-VO (Drittstaatsangehörige, die ihren Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen oder nach abgelehntem Antrag einen neuen Antrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt haben) aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäss den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder einer Überprüfung, wenn diese gemäss Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat (Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO).

Der Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung ist unter schweizerischem Recht die Beschwerde gemäss Art. 107a AsylG. Die Beschwerde hat von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung (Art. 107a Abs. 1 AsylG). Auf Antrag hin kann das Gericht die aufschiebende Wirkung gewähren (Art. 107a Abs. 2 und 3 AsylG). Demnach kommt es nur zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO, wenn der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gerichtlich zuerkannt worden ist. Wird der entsprechende Antrag in einer Zwischenverfügung abgelehnt oder gegenstandslos durch einen direkten Beschwerdeentscheid, so wird die Überstellungsfrist nicht unterbrochen. Die Aussetzung des Vollzugs gestützt auf Art. 56 VwVG bis zum Eintreffen der Akten hat keine unterbrechende Wirkung. Wird allerdings die Vollzugsaussetzung in einer Zwischenverfügung nicht aufgehoben, kommt dies faktisch einer Gewährung der aufschiebenden Wirkung während des ganzen Beschwerdeverfahrens gleich. In einem solchen Fall erfolgt eine Unterbrechung der Frist, und die Überstellungsfrist beginnt mit der endgültigen Entscheidung über die Beschwerde neu zu laufen (BVGE 2015/19 E. 5.4; Urteil des BVGer D-1980/2019 vom 13. Juni 2019 E. 4).

Ein Rückweisungsentscheid im Dublin-Verfahren ist zwar ein Endentscheid im Sinne von Art. 61 VwVG, der das Verfahren vor der Beschwerdeinstanz abschliesst, aber es handelt sich dabei nicht um eine endgültige Entscheidung über die Zuständigkeitsfrage. Die Dauer des Rückweisungsverfahrens ist deshalb der Beschwerde als Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung zuzurechnen. Dies hat zur Folge, dass die Überstellungsfrist erst nach Vorliegen einer zweiten (nicht angefochtenen) Verfügung der Vorinstanz mit einer neuen negativen Zuständigkeitsentscheidung oder eines Gerichtsurteils, mit dem die zweite Beschwerde gegen den Zuständigkeitsentscheid endgültig abgewiesen wird, neu zu laufen beginnt (BVGE 2015/19 E. 5.4; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 29 K7).

6.4  Am 11. Juni 2019 haben die italienischen Behörden dem Übernahmeersuchen der Vorinstanz zugestimmt. Im Beschwerdeverfahren gegen den Nichteintretensentscheid vom 18. Juni 2019 setzte das Gericht den Vollzug im Sinne einer vorsorglichen Massnahme einstweilen per sofort aus. Der Vollzugsstopp wurde bis zum Rückweisungsentscheid vom 12. November 2019 nicht aufgehoben, womit es sich bei der Beschwerde um einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung handelte und die Überstellungsfrist unterbrochen war. Während des wiederaufgenommenen erstinstanzlichen Verfahrens blieb die Überstellungsfrist weiterhin ausgesetzt, da das Verfahren der Beschwerde mit aufschiebender Wirkung zuzurechnen ist. Die Überstellungsfrist, welche mit dem zweiten Nichteintretensentscheid vom 19. Dezember 2019 neu zu laufen begonnen hatte, wurde durch das anschliessende Beschwerdeverfahren, in welchem ebenfalls ein bis zum Urteil vom 10. Januar 2020 geltender Vollzugsstopp angeordnet wurde, erneut unterbrochen. Dasselbe gilt für den dritten Nichteintretensentscheid vom 4. Dezember 2020 und das vorliegende Beschwerdeverfahren, in welchem der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde. Folglich ist die sechsmonatige Überstellungsfrist durch die jeweiligen Beschwerdeerhebungen unterbrochen worden. Die Überstellungsfrist ist somit nicht abgelaufen und es hat kein Zuständigkeitswechsel auf die Schweiz stattgefunden.

7.   

7.1  Die Beschwerdeführenden monieren, seit der Zustimmung Italiens zum Überstellungsgesuch seien 18 Monate vergangen. Eine weitere Verlängerung des Verfahrens sei mit dem beschleunigten Charakter des Dublin-Verfahrens nicht vereinbar. Angesichts des Beschleunigungsgebots und der Dauer des vorliegenden Dublin-Verfahrens rechtfertige sich die Aufnahme des nationalen Verfahrens.

7.2  Das Dublin-System dient dazu, die Einleitung paralleler oder einander nachfolgender Asylverfahren in verschiedenen Staaten des Vertragsgebiets (sog. "asylum shopping") zu verhindern. Zugleich soll es den Antragstellern innert vernünftiger Frist einen effektiven Zugang zum Asylverfahren in einem der Vertragsstaaten gewährleisten (Urteil des BVGer
E-6654/2017 vom 23. März 2020 E. 6.1). Das Bundesverwaltungsgericht hat nur in seltenen Ausnahmefällen einen Selbsteintritt aufgrund der langen Verfahrensdauer bejaht. So beispielsweise wenn das Zuständigkeitsverfahren seit Stellung des Asylgesuchs bis zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts weit über zwei Jahre hinaus gedauert hat und die Verfahrensdauer nicht dem Beschwerdeführer anzulasten war (Urteile des BVGer E-6654/2017 vom 23. März 2020: 32 Monate; D-3394/2017 vom 30. August 2019: 30 Monate E-1532/2017 vom 8. November 2017: 35 Monate;
E-26/2016 vom 16. Januar 2019: 41 Monate). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es auch Zuständigkeitsverfahren gab, die trotz ähnlicher oder längerer Dauer nicht zu einem Selbsteintritt führten (Urteile des BVGer E-7092/2017 vom 25. Januar 2021; E-5474/2018 vom 21. Dezember 2018). Zu einem Selbsteintritt bei kürzerer Verfahrensdauer kam es ausnahmsweise, wenn weitere Gründe vorlagen; beispielsweise wenn eine Aufhebung der Verfügung und Rückweisung der Sache aufgrund von Verfahrensmängeln angezeigt gewesen wäre, was zu einer weiteren Verlängerung des Zuständigkeitsverfahrens geführt hätte (Urteile des BVGer
D-6982/2011 vom 9. August 2013; E-1768/2014 vom 22. Mai 2014;
E-2514/2014 vom 29. Oktober 2014; E-4664/2014 vom 1. September 2014; D-3277/2015 vom 26. August 2015).

Die Beschwerdeführerin hat am 27. März 2019 das Asylgesuch in der Schweiz eingereicht. Das Zuständigkeitsverfahren, welches bereits zwei Beschwerdeverfahren und das vorliegende Koordinationsverfahren mit einer aktuellen Analyse der Lage in Italien umfasst, dauert bis jetzt 31 Monate. Da diese Verfahrensdauer noch nicht als überaus lang eingestuft werden kann und mit vorliegendem Urteil das Zuständigkeitsverfahren endgültig abgeschlossen wird, ist ein Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO nicht angezeigt. Dies umso weniger, als die Umstände sich nicht in einer Weise geändert haben, die einen Selbsteintritt - beispielsweise wegen des Alters des Kindes - gebieten würde.

8.   

8.1  Die Beschwerdeführenden machen unter Verweis auf das Referenzurteil des Bundesverwaltungsgerichts E-962/2019 vom 17. Dezember 2019 geltend, die Zusicherungen der italienischen Behörden betreffend Unterkunft seien ungenügend. Bei einer Überstellung nach Italien drohe ihnen eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Die Schweiz sei daher gehalten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Nachfolgend ist somit zu prüfen, ob hinreichend konkrete Garantien für eine adäquate, familiengerechte Unterbringung der Beschwerdeführenden in Italien vorliegen oder ob das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 auszuüben ist.

8.2  Die Vorinstanz begründet die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts damit, Italien habe am 4. November 2020 dem Übernahmeersuchen mittels des Formulars "nucleo familiare" ausdrücklich zugestimmt. In der Zustimmung seien die Beschwerdeführenden namentlich erwähnt und als Familie anerkannt worden. Zudem habe Italien ihre Unterbringung in einem Aufnahmezentrum garantiert, welches Familien vorbehalten und in der Liste vom 24. April 2020 aufgeführt sei sowie im Einklang mit dem Rundschreiben vom 8. Januar 2019 stehe. Die Aufnahmestruktur könne allerdings erst in der Überstellungsphase auf der Grundlage der aktuellen Verfügbarkeit und der besonderen Bedürfnisse der Familienmitglieder festgelegt werden. Die auf der Liste vom 24. April 2020 aufgeführten Unterkünfte würden kleine Strukturen aufweisen und seien Familien und alleinstehenden Frauen vorbehalten. Sie würden unter anderem gesundheitliche, psychologische und soziale Unterstützung sowie Sprachkurse bieten. Das Rundschreiben vom 8. Januar 2019 gewährleiste, dass Personen nach einer Überstellung im Dublin-Verfahren Aufnahmestrukturen zugeführt würden, die eine adäquate Aufnahme aller anspruchsberechtigter Personen bieten und die Einhaltung der Grundrechte garantieren würden, namentlich die Wahrung der Familieneinheit und den Schutz der Minderjährigen. Folglich sei mit der individualisierten Zustimmung die Wahrung der Familieneinheit und eine familiengerechte Unterkunft nach der Ankunft der Beschwerdeführenden in Italien garantiert. Ihre Überstellung nach Italien stehe somit im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesverwaltungsgerichts und stelle keine Verletzung von Art. 3 EMRK dar. Zudem sei das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 vom 21. Oktober 2020 am 22. Oktober 2020 für 60 Tage in Kraft getreten. Es erleichtere Asylsuchenden den Zugang zur Gesundheitsversorgung. In Erstaufnahmezentren ermögliche es den systematischen Zugang zu Leistungen wie soziale und psychologische Unterstützung und verbessere dadurch die Betreuung von Asylsuchenden und Identifikation von Vulnerabilitätsmerkmalen. Nach Abschluss des Identifikationsprozesses würden die Asylsuchenden im Rahmen der verfügbaren Unterbringungsplätze in die SAI transferiert, wobei Familien Priorität hätten. Es sei daher möglich, dass die Beschwerdeführenden in einem zweiten Schritt in das System SAI transferiert würden. Insgesamt gebe es keinen Grund für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 29a Abs. 3 AsylV 1.

8.3  Die Beschwerdeführenden bringen vor, das Bundesverwaltungsgericht sei im Referenzurteil E-962/2019 zum Ergebnis gekommen, die seitens Italiens im Formular "nucleo familiare" abgegebene Zusicherung einer adäquaten Unterkunft genüge seit Inkrafttreten des Salvini-Dekrets nicht mehr als Garantie. In Ermangelung detaillierter und verlässlicher Informationen betreffend die Unterbringungsverhältnisse und den Schutz der Familieneinheit sei eine Überstellung nicht zulässig, weil damit das Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK einhergehe. Weder der Verweis auf das Rundschreiben vom 8. Januar 2019 noch die Angabe, in den Erstaufnahme- und Notaufnahmezentren seien Räume für Familien reserviert, stellten konkrete Garantien im Sinne der Tarakhel-Rechtsprechung dar. Gemäss den italienischen Behörden seien die Unterkünfte auf der Liste vom 24. April 2020 zwar Aufnahmeeinrichtungen spezifisch für Familien; die Vorinstanz habe es aber versäumt darzulegen, inwiefern damit tatsächlich eine adäquate Unterkunft für Familien gewährleistet sei. Daran ändere auch das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 nichts, da es im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung noch nicht in ein Gesetz umgewandelt worden sei. Zusammenfassend sei der Sachverhalt im Hinblick auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach wie vor nicht rechtsgenüglich abgeklärt.

8.4  In der Duplik führt die Vorinstanz aus, das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 stelle eine weitreichende Reform des italienischen Aufnahmesystems für Asylsuchende und Personen mit internationalem Schutzstatus dar, indem es die Restriktionen des Salvini-Dekrets rückgängig mache. Das neue Zweitaufnahmesystem "Sistema di accoglienza e integrazione" (SAI) stehe nicht mehr ausschliesslich Personen mit einem internationalen Schutzstatus oder unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden zur Verfügung, sondern allen Asylsuchenden. Im SAI hätten die Asylsuchenden Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung, soziale und psychologische Unterstützung, kulturelle und sprachliche Vermittlung, Italienischkurse sowie Länder- und Rechtsberatung. Auf der Internetseite der SAI-Services sei eine Liste mit den laufenden Aufnahmeprojekten, den verfügbaren Plätzen und deren Art respektive Eignung für bestimmte Personen sowie der geographischen Lage geführt. Mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021 hätten die italienischen Behörden alle Dublin-Mitgliedstaaten über die jüngsten Gesetzesänderungen in Italien informiert und garantiert, dass Familien mit minderjährigen Kindern in SAI-Strukturen und im Einklang mit dem Tarakhel-Urteil untergebracht würden sowie die Einheit der Familie gewahrt werde. Mit Schreiben vom 23. März 2021 hätten die italienischen Behörden der Schweiz mitgeteilt, Familien, für welche Zustimmungen im Rahmen der "alten" Garantien vorlägen, würden im Sinne des Rundschreibens vom 8. Februar 2021 aufgenommen werden. Demnach würden die Beschwerdeführenden in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere des Tarakhel-Urteils, unter Wahrung der Familieneinheit in einer SAI-Struktur untergebracht werden. Gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stelle es keine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn die italienischen Behörden die konkrete Unterkunft, in welcher die Beschwerdeführenden untergebracht würden, zum jetzigen Zeitpunkt nicht genannt hätten. Insgesamt hätten sich die Rechtslage und die Aufnahmesituation in Italien seit dem Referenzurteil
E-962/2019 und dem Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 entscheidend weiterentwickelt, womit die im Referenzurteil zusätzlich gestellten Anforderungen an die einzuholenden Garantien obsolet geworden seien. Es gebe keine Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts.

8.5  Die Beschwerdeführenden bringen in der Triplik vor, das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 sei erst seit einigen Monaten in Kraft. Die Vorinstanz stütze ihre Ausführungen lediglich auf den Gesetzestext und nicht auf Erfahrungswerte. Verschiedene Berichte liessen darauf schliessen, dass sich die Rechtsstellung von Familien beziehungsweise Flüchtlingen in Italien seit dem Referenzurteil E-962/2019 und im Anschluss an das Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 nicht entscheidend positiv weiterentwickelt habe. Der pauschale Verweis auf die Gesetzesänderung stelle keine hinreichend konkrete Garantie im Sinne der Tarakhel-Rechtsprechung dar. Eine Überstellung nach Italien berge das Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK.

9.   

9.1  Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Italien Signatarstaat der EMRK, des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105) und des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) sowie des Zusatzprotokolls der FK vom 31. Januar 1967 (SR 0.142.301) ist und seinen entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Es darf davon ausgegangen werden, dass dieser Staat die Rechte, die sich für Schutzsuchende aus den Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (sog. Verfahrensrichtlinie) sowie 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (sog. Aufnahmerichtlinie) ergeben, anerkennt und schützt. Das italienischen Asylverfahren und Aufnahmesystem weisen demnach keine systemischen Mängel auf (Referenzurteil des BVGer E-962/2019 vom 17. Dezember 2019 E. 6.3; Urteil des BVGer F-685/2021 vom 23. Februar 2021 E. 6).

9.2  Diese Ansicht wird durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigt, indem er in seiner bisherigen Rechtsprechung festhält, dass die Unterstützung und Einrichtungen für Asylsuchende in Italien keine systematische Mängel aufwiesen, obwohl die allgemeine Situation und insbesondere die Lebensumstände von Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und Personen mit einem subsidiären Schutzstatus in Italien gewisse Mängel aufweisen würden (Urteile des EGMR Mohammed Hussein und andere gegen die Niederlande und Italien vom 2. April 2013, Nr. 27725/10, Ziff. 78; Tarakhel gegen die Schweiz vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, Ziff. 114 f.; S.M.H. gegen die Niederlande vom 17. Mai 2016, Nr. 5868/13, Ziff. 46). Folglich liegen keine Gründe für die Annahme vor, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien würden systemische Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO aufweisen. Eine Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO ist daher nicht gerechtfertigt.

10.   

10.1  Der EGMR stellte im Urteil vom 4. November 2014 in Sachen Tarakhel gegen die Schweiz fest, angesichts der Zweifel an der Kapazität der italienischen Aufnahmestrukturen bestehe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Dublin-Rückkehrer/innen in Italien keine oder nur eine überfüllte Unterkunft vorfinden würden, in welcher keine Privatsphäre und allenfalls sogar gesundheitsgefährdende und gewaltgeprägte Bedingungen herrschten. Im Hinblick auf die Verletzlichkeit von Asylsuchenden im Allgemeinen und von Kindern im Besonderen würde es daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen, wenn die Schweizer Behörden eine Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien vornähmen, ohne zuvor von den italienischen Behörden eine individuelle Garantie für eine kindgerechte und die Einheit der Familie wahrende Unterbringung erhalten zu haben (Urteil des EGMR Tarakhel gegen die Schweiz, a.a.O., Ziff. 115 und 120-122).

10.2  Das Bundesverwaltungsgericht präzisierte im Grundsatzurteil vom 12. März 2015 das Tarakhel-Urteil dahingehend, dass die einzuholenden Garantien einer kindgerechten und die Einheit der Familie wahrenden Unterbringung eine Voraussetzung der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Anordnung einer Überstellung seien. Demzufolge müsse im Zeitpunkt der vor-
instanzlichen Verfügung eine konkrete und individuelle Zusicherung, insbesondere unter Namens- und Altersangaben der betroffenen Personen, vorliegen, mit welcher namentlich garantiert werde, dass eine dem Alter des Kindes entsprechende Unterkunft bei der Ankunft der Familie in Italien zur Verfügung stehe und die Familie bei der Unterbringung nicht getrennt werde (BVGE 2015/4 E. 4.3).

In einem weiteren Grundsatzurteil vom 7. April 2016 stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, das Schreiben der italienischen Behörden, in welchem die Beschwerdeführenden unter Namensnennung und Altersangabe als Familiengemeinschaft (nucleo familiare) anerkannt werde, stelle eine ausreichende individuelle Zusicherung im Sinne von BVGE 2015/4 dar. Das Schreiben äussere sich zwar nicht zur konkreten Unterbringung, müsse aber im Zusammenhang mit den vom italienischen Staat abgegebenen allgemeinen Garantien (sog. Rundschreiben) gesehen werden. In den Rundschreiben werde die Unterbringung der im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellten Familien in familiengerechten Unterkünften unter Wahrung der Familieneinheit zugesichert und eine Liste der Einrichtungen des "Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati" (SPRAR) aufgeführt (BVGE 2016/2 E. 5.2).

Der EGMR bestätigte ebenfalls in mehreren Urteilen, dass eine ausreichende Garantie gemäss Tarakhel-Urteil vorliege, wenn der überstellende Staat die italienischen Behörden über die familiäre Situation und die geplante Ankunft der nach Italien zurückzuführenden Personen informiere und die italienischen Behörden durch eine allgemeine Garantie in Form eines Rundschreibens die Zusicherung abgäben, die Betroffenen in einer familiengerechten Aufnahmeeinrichtung unterzubringen. Es gebe keinen Grund zur Annahme, dass ihnen bei der Ankunft in Italien keine Plätze in einer solchen Unterkunft zur Verfügung stehen würden (Urteile des EGMR J.A. und anderer gegen die Niederlande und Italien vom 3. November 2015, Nr. 21459/14, Ziff. 30; F.M. und andere gegen Dänemark vom 13. September 2016, Nr. 20159/16, Ziff. 28; Ali und andere gegen die Schweiz und Italien vom 6. Oktober 2016, Nr. 30474/14, Ziff. 34).

10.3  Mit dem am 5. Oktober 2018 in Kraft getretenen Gesetzesdekret Nr. 113/2018 (Salvini-Dekret) und dem dazugehörigen Umwandlungsgesetz vom 1. Dezember 2018 (Gesetzesdekret Nr. 132/2018) erfuhr das italienische Asylwesen eine Umstrukturierung. Das Asylverfahren bestand zwar immer noch aus einem zweistufigen System (Erstregistrierung des Asylgesuchs mit Überprüfung der Identität und Staatsangehörigkeit [fotosegnalamento]); danach formale Registrierung des Asylgesuchs [verbalizzazione] bei der zuständigen Präfektur [Questura], womit das Asylverfahren in Gang gesetzt wurde). Eine wesentliche Änderung erfuhr aber die Unterbringung der Asylsuchenden. Das Zweitaufnahmesystem SPRAR wurde in "Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e minori stranieri non accompagnati" (SIPROIMI) umbenannt und stand nur noch Personen mit internationalem Schutzstatus und unbegleiteten Minderjährigen offen. Andere Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer, darunter auch Familien mit Kindern und vulnerable Personen, wurden in den grösseren Kollektivzentren der Erstaufnahme (Centri governativi di prima accoglienza; ehemals: Centri di accoglienza per richiedenti asilo [CARA])
oder in temporären Einrichtungen (Strutture temporanee; ehemals: Centri di accoglienza straordinaria [CAS]) untergebracht. Diese Zentren waren oftmals überfüllt und die Verfügbarkeit sowie die Qualität der Dienstleistungen hat, insbesondere infolge der Kürzung der staatlichen Finanzbeiträge, abgenommen. So wurden Italienischkurse, psychologische Unterstützung und die Organisation von Freizeitbeschäftigungen nicht mehr angeboten. Die rechtliche Unterstützung und die kulturelle Mediation wurden drastisch gekürzt. Für schutzbedürftige Personen waren keine besonderen Dienstleistungen mehr vorgesehen; ihre Betreuung erfolgte auf freiwilliger Basis (vgl. Asylum Info Database [AIDA], Country Report: Italy, Update 2019, S. 34 ff., 94 ff., < https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2020/05/
report-download_aida_it_2019update.pdf >; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien. Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, in Italien, Januar 2020, S. 40 ff. < https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Dublinlaenderberichte/
200121-italien-aufnahmebedingungen-de.pdf.pdf >, alle abgerufen am 07.05.2021).

10.4  Angesichts der geänderten Situation in Italien seit dem Erlass des Salvini-Dekrets kam das Bundesverwaltungsgericht im Referenzurteil
E-962/2019 vom 17. Dezember 2019 zum Ergebnis, die seitens Italien mittels des Formulars "nucleo familiare" abgegebene Zusicherung einer adäquaten Unterkunft reiche nicht als Garantie für die Zuweisung einer adäquaten, familiengerechten Unterbringung aus. Gemäss dem Rundschreiben der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 an die übrigen Dublin-Staaten würden fortan alle asylsuchenden Personen (mithin auch jene, die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt worden seien) in Erstaufnahmezentren oder Notaufnahmezentren untergebracht (Urteil des BVGer E-962/2019 E. 6.2.8). Obwohl im erwähnten Rundschreiben versichert werde, dass in diesen Aufnahmezentren die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen gewährleistet sei, könne im blossen Verweis auf dieses Rundschreiben keine hinreichend konkrete Garantie im Sinne des Tarakhel-Urteils erblickt werden. Es seien daher weitergehende Zusicherungen betreffend familiengerechte Unterbringung, Schutz der Einheit der Familie und Gewährleistung der nötigen medizinischen Versorgung einzuholen (Urteil des BVGer E-962/2019 E. 8.3.3 f.).

10.5  Am 20. Dezember 2020 ist das Umwandlungsgesetz Nr. 173/2020 zum Gesetzesdekret Nr. 130/2020 vom 21. Oktober 2020 (< https://www.
normattiva.it/uri-res/N2Ls?urn:nir:stato:legge:2020-12-18;173!vig=2020-12-21
. >, abgerufen am 18.05.2021) in Kraft getreten. Das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 sieht eine umfassende Reform des Aufnahmesystems für Asylsuchende in Italien vor, indem zentrale Bestimmungen des Salvini-Dekrets geändert und ein engverflochtenes Aufnahme- und Integrationssystem implementiert wurde. Das neue Aufnahmesystem ist vergleichbar mit jenem, das vor Erlass des Salvini-Dekrets geherrscht hat. Die Asylsuchenden werden für den Identifikationsprozess und die Gesundheitsuntersuchungen zur Feststellung allfälliger Schutzbedürftigkeit in Erstaufnahmezentren oder CAS untergebracht. In den Erstaufnahmezentren sind die Achtung der Privatsphäre, geschlechtsspezifische Unterschiede, altersbedingte Bedürfnisse, der Schutz der körperlichen und der geistigen Gesundheit, die Einheit der Familie, die Bereitstellung spezifischer Unterstützung für Personen mit besonderen Bedürfnissen und die Ergreifung geeigneter Massnahmen zur Verhinderung jeglicher Form von Gewalt sowie zur Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes der Asylsuchenden zu gewährleisten. Es sind angemessene Standards für Hygiene, Gesundheit, Unterbringung und Sicherheit festgelegt. Dienstleistungen wie beispielsweise Gesundheitsvorsorge, soziale und psychologische Betreuung, Beratung, sprachlich-kulturelle Vermittlung und Italienischkurse werden wiedereingeführt. Allerdings ist die Finanzierung und Erbringung dieser Dienstleistungen mit den bisherigen Ressourcen zu bewältigen (Art. 4 Gesetzesdekret Nr. 130/2020). Für das weitere Asylverfahren werden die Asylsuchenden in das Aufnahme- und Integrationssystem SAI (Sistema di accoglienza e integrazione) überführt. Das Zweitaufnahmesystem SAI, welches das SIPROIMI ablöst, bedeutet eine Rückkehr von einem zentralisierten und sicherheitsorientierten Ansatz der öffentlichen Aufnahmezentren hin zu einem von lokalen Behörden verwalteten, dezentralisierten und flächendeckenden Aufnahmesystem, ähnlich dem einstigen SPRAR. Das SAI steht wieder allen Asylsuchenden, also auch den im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellten Personen, offen. Schutzbedürftige Personen, denen eine besondere Form der Unterstützung zugesichert wurde, geniessen bei der Überstellung von einem Erstaufnahmezentrum in das Zweitaufnahmesystem SAI Priorität. Zu diesem Personenkreis zählen Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, ältere Menschen, Menschen mit schweren Krankheiten oder psychischen Störungen, Schwangere, Opfer von Menschenhandel
oder Genitalverstümmelung sowie Menschen, die nachweislich Folter, Vergewaltigung oder andere schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben (Art. 17 Gesetzesdekret Nr. 142/2015; Monia Giovannetti, La riforma del Sistema di accoglienza e integrazione per richiedenti e titolari di protezione internationale, in: Diritto, Immigrazione e Cittadinanza, Fascicolo, n. 1/2021, S. 39). Das SAI ist in zwei Stufen unterteilt. Die erste Stufe steht den Asylsuchenden offen und bietet soziale und psychologische Betreuung, Rechtsberatung, Gesundheitsversorgung, sprachlich-kulturelle Vermittlung, Italienischkurse und Überweisung an lokale Dienste. Es werden auch spezielle Projekte für die Unterstützung schutzbedürftiger Personen angeboten. Eine zweite Stufe richtet sich an Personen, die internationalen Schutz geniessen; ihnen stehen zusätzliche Dienstleistungen wie Berufsausbildung zur Verfügung, welche auf die Integration in die italienische Gesellschaft abzielen (Art. 4 f. Gesetzesdekret Nr. 130/2020; "L'ennesimo 'decreto immigrazione-sicurezza' (d.l. 21 ottobre 2020, n. 130): modifiche al codice penale e altre novità" vom 23. Oktober 2020, < https://www.sistemapenale.it/it/scheda/decreto-immigrazione-130-2020-profili-penalistici >; "Come funziona l'accoglienza dei migranti in Italia" vom 6. April 2021, < https://www.openpolis.it/parole/come-funziona-laccoglienza-dei-migranti-in-italia/ >; < https://www.retesai.it/la-storia/ >, alle abgerufen am 07.05.2021). Ziel des SAI ist es, die Asylsuchenden zu betreuen und den schutzbedürftigen Asylsuchenden, insbesondere Familien, Dienstleistungen anzubieten, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind (Monia Giovannetti, a.a.O., S. 45). Des Weiteren ermöglicht das Gesetzesdekret Nr. 130/2020 den Asylsuchenden wieder, sich im kommunalen Einwohnerregister registrieren zu lassen (Art. 3). Mit der Registrierung erhalten sie einen Ausländerausweis, der ihnen den Zugang zu den regionalen Dienstleistungen, wie beispielsweise der medizinischen Versorgung, erleichtert. Die Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen wird de facto unter dem Begriff "Aufenthaltserlaubnis für besonderen Schutz" (permesso di soggiorno per protezione speciale) wiedereingeführt. Sie ist für zwei Jahre gültig und wird Asylsuchenden erteilt, welche die Kriterien für internationalen Schutz nicht erfüllen, denen aber bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohen würde. Zudem wird sie Personen gewährt, bei denen es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass ihre Abschiebung eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens bedeuten würde ("In vigore il nuovo decreto in materia di immigrazione (D.L. n. 130 del 21 ottobre 2020): luci e ombre" vom 22. Oktober 2020, < https://www.unionedirittiumani.it/in-vigore-il-nuovo-decreto-in-materia-di-immigrazione-d-l-n-130-del-21-ottobre-2020-luci-e-ombre/ >, abgerufen am 07.05.2021). Die Aufenthaltserlaubnis kann in eine Arbeitserlaubnis umgewandelt werden. Die Aufenthaltserlaubnis zur medizinischen Behandlung (permesso di soggiorno per cure mediche) wurde auf Personen ausgeweitet, die an schweren psychosomatischen Erkrankungen leiden. Eine weitere wichtige Änderung liegt im Ausschluss schutzbedürftiger Personen vom beschleunigten Asylverfahren, welches für gewisse Herkunftsländer vorgesehen ist (Paolo Cognini, Le modifiche ai decreti-sicurezza, vom 22. Oktober 2020, < https://www.meltingpot.org/Le-modifiche-ai-decreti-sicurezza-Illustrazione-aggiornata.html#.X9iWgPlKi1t >, abgerufen am 07.05.2021).

10.6  Der EGMR setzte sich im Urteil vom 23. März 2021 in Sachen M.T. gegen die Niederlande mit der Rechtmässigkeit der Überstellung einer alleinstehenden Frau mit zwei minderjährigen Kindern im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien auseinander, unter Berücksichtigung der neuen Gesetzeslage, insbesondere des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020. Er stellte fest, die neuste Reform des italienischen Asylwesens habe zur Folge, dass Asylsuchende im Rahmen der verfügbaren Plätze wieder Zugang zum Zweitaufnahmesystem SAI (ehemals SIPROIMI) hätten. Da die italienischen Behörden die Beschwerdeführerin als Antragstellerin auf internationalen Schutz anerkannt hätten, komme sie für eine Unterbringung im SAI in Betracht. Ausserdem gehöre sie als alleinerziehende Mutter mit zwei minderjährigen Kindern zu den schutzbedürftigen Personen, die bei der Unterbringung im Zweitaufnahmesystem Vorrang geniessen würden. Es gebe keine Gründe für die Annahme, sie würden bei ihrer Ankunft in Italien keinen Platz in einem SAI-Aufnahmezentrum erhalten. Selbst bei einer vorübergehenden Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung erhielten sie die nötige Betreuung, da das Dienstleistungsangebot in diesen Zentren ausgebaut worden sei und der Zugang dazu durch die Wiedereinführung der Registrierung am Wohnsitz gewährleistet sei. Eine Überstellung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder nach Italien führe damit nicht zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK (Urteil des EGMR M.T. gegen die Niederlande vom 23. März 2021, Nr. 46595/19, Ziff. 58-62).

11.   

11.1  Die Beschwerdeführerin gehört als alleinstehende Frau mit einem minderjährigen Kind zu den schutzbedürftigen Personen gemäss Tarakhel-Urteil. Ihre Überstellung nach Italien ist folglich nur zulässig, wenn von den italienischen Behörden eine ausreichende Garantie für eine kindgerechte und die Einheit der Familie wahrende Unterbringung vorliegt. Mit dem Erlass des Salvini-Dekrets wurde Asylsuchenden, auch Familien, der Zugang zum Zweitaufnahmesystem verwehrt; ihnen standen nur die grösseren Kollektivzentren der Erstaufnahme oder temporäre Einrichtungen offen. In der Folge stufte das Bundesverwaltungsgericht das Formular "nucleo familiare" und die italienischen Rundschreiben zu den Unterbringungsplätzen als ungenügende Garantien für eine familiengerechte Unterbringung ein und wies die Vorinstanz in den zwei vorangegangenen, die Beschwerdeführenden betreffenden Urteilen an, den rechtserheblichen Sachverhalt vollständig abzuklären (Urteile des BVGer F-3306/2019 und F-33/2020). Seither haben die Rechts- und Sachlage in Italien wesentliche Änderungen erfahren. Mit dem definitiven Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 am 20. Dezember 2020 wurde das Zweitaufnahmesystem SAI wieder für alle Asylsuchenden zugänglich gemacht, wobei Familien und vulnerable Personen bei der Überstellung in eine SAI-Unterkunft Vorrang geniessen. Das Angebot der Dienstleistungen für die Asylsuchenden wurde wieder ausgebaut und auch auf die Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen ausgerichtet (vgl. E. 10.5). Im Januar 2021 umfasste das SAI 30'049 Unterbringungsplätze und 760 Projekte (< https://www.retesai.it/i-numeri-dello-sprar/ >, abgerufen am 07.05.2021).

11.2  Vor diesem Hintergrund sind die von den italienischen Behörden im vorliegenden Fall abgegebenen Zusicherungen zu werten. Im Formular "nucleo familiare" vom 4. November 2020 führten sie Vor- und Nachnamen, Geburtsdaten und Nationalität der Beschwerdeführenden auf. Sie gaben die Zusicherung ab, dass die Beschwerdeführenden als Familie in einem der Aufnahmezentren untergebracht würden, das Familien vorbehalten und in der Liste vom 24. April 2020 aufgeführt sei sowie im Einklang mit dem Rundschreiben vom 8. Januar 2019 stehe. Das konkrete Aufnahmezentrum werde zum Zeitpunkt der Überstellung anhand der verfügbaren Kapazitäten und spezifischen Bedürfnisse der Familie ausgewählt. Mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021, welches jenes vom 8. Januar 2020 ersetzt, informierten die italienischen Behörden die Dublin-Staaten über das Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 und die Schaffung des Aufnahme- und Integrationssystems SAI. Sie garantierten, dass Familien mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden, im SAI-System unter Wahrung der Einheit der Familie und in Übereinstimmung mit dem Tarakhel-Urteil untergebracht würden. Mit Schreiben vom 23. März 2021 teilten die italienischen Behörden der Schweiz mit, Familien, für welche "alte" Garantien vorlägen, würden in Übereinstimmung mit dem Rundschreiben vom 8. Februar 2021 untergebracht werden.

Es liegt somit eine genügend konkrete und individuelle Garantie der italienischen Behörden vor, dass die Beschwerdeführenden nach ihrer Überstellung in eine kindgerechte und die Einheit der Familie wahrende Unterkunft des Zweitaufnahmesystems SAI untergebracht werden. Es bestehen derzeit keine Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführenden bei ihrer Ankunft in Italien keinen Platz in einer Unterkunft des SAI erhalten würden. Folglich gibt es keinen Grund mehr zur Annahme, eine Überstellung der Beschwerdeführenden nach Italien würde zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen. Diese Schlussfolgerung stützt der EGMR mit Urteil vom 23. März 2021. Darin hält er überdies fest, dass Familien auch bei einer vorübergehenden Unterbringung in einem Erstaufnahmezentrum Zugang zu den nötigen Dienstleistungen erhalten (Urteil des EGMR M.T. gegen die Niederlande, a.a.O., Ziff. 58-62). Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Italien um einen funktionierenden Rechtsstaat handelt, auf dessen Zusicherungen die Schweiz gemäss dem völkerrechtlichen Prinzip, wonach die Staaten einen Vertrag, an den sie gebunden sind, nach Treu und Glauben zu erfüllen haben (vgl. Art. 26 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK, SR 0.111]), grundsätzlich vertrauen darf und soll. Aus diesem Prinzip folgt, dass ausser bei klar erkennbarem Rechtsmissbrauch oder bei Widersprüchen kein Anlass besteht, an den Sachverhaltsdarstellungen und Erklärungen anderer Staaten zu zweifeln (BGE 142 II 161 E. 2.1.3 am Ende). Im vorliegenden Kontext ergibt sich daraus zudem, dass keine überhöhten Anforderungen an die Zusicherung gestellt werden dürfen, indem etwa verlangt würde, dass die Unterkunft genau benannt werde; dies wäre ohnehin kaum praktikabel (BVGE 2016/2 E. 5.2).

11.3  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die mittels des Formulars "nucleo familiare" unter Namens- und Altersangaben abgegebene Anerkennung der Familieneinheit und Zusicherung einer familiengerechten Unterbringung sowie die Rundschreiben, welche eine Unterbringung im Zweitaufnahmesystem SAI zusichern, als hinreichend konkretisierte und individualisierte Zusicherungen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des EGMR zu werten sind. Angesichts dieser Zusicherungen ist nicht davon auszugehen, dass eine Überstellung der Beschwerdeführenden nach Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde. Es liegt somit kein Anlass für einen Selbsteintritt der Schweiz nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO i.V.m. Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 vor. Folglich ist auch das Eventualbegehren, die Sache zur Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen, abzuweisen.

12. 
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Mit dem vorliegenden Urteil fällt die mit Zwischenverfügung vom 18. Dezember 2020 angeordnete aufschiebende Wirkung dahin.

13.   

Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten den Beschwerdeführenden aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Da indessen von der Bedürftigkeit der Beschwerdeführenden auszugehen ist und ihre Rechtsbegehren nicht als aussichtslos betrachtet werden können, ist das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung nach Art. 65 Abs. 1 VwVG gutzuheissen. Demnach sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen.

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4. 
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

 

Die vorsitzende Richterin:

Die Gerichtsschreiberin:

 

 

Susanne Genner

Eliane Kohlbrenner

 

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