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Abteilung V

E-4410/2022

 

 

 

 

 

Urteil vom 3. August 2023

Besetzung

 

Richterin Esther Marti (Vorsitz),

Richterin Susanne Bolz-Reimann, Richterin Roswitha Petry,

Gerichtsschreiberin Carolina Bottini.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

Somalia,

vertreten durch MLaw Chantay Schelivan,
HEKS Rechtsschutz Bundesasylzentren (...),
(...),

Beschwerdeführer,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

 

 

 

Gegenstand

 

Asyl (ohne Wegweisungsvollzug)
(beschleunigtes Verfahren);
Verfügung des SEM vom 31. August 2022 / N (...).

 

 

 


Sachverhalt:

A. 
Der Beschwerdeführer verliess seinen Heimatstaat gemäss eigenen Angaben im (...) 2019 und hielt sich anschliessend in der Türkei auf, bevor er über verschiedene Länder am 19. Juni 2022 in die Schweiz gelangte, wo er tags darauf um Asyl ersuchte.

B. 
In Anwesenheit seiner zugewiesenen Rechtsvertretung, welche bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) gleichzeitig als Vertrauensperson gilt, fand am 15. Juli 2022 die Erstbefragung statt (Erstbefragung UMA; Protokoll in den SEM-Akten {...} [A] 12). Am 17. August 2022 wurde der Beschwerdeführer zu seinen Asylgründen angehört (Anhörung; Protokoll in den SEM-Akten {...} [A] 15). Im Wesentlichen machte er folgendes geltend:

Er sei somalischer Staatsangehöriger muslimischen Glaubens, zugehörig zum Clan der B._______, Subclan C._______, Subsubclan D._______. Gelebt habe er im Bezirk E._______ in F._______, zusammen mit seinem Vater, der als Soldat und Mitglied (...) gearbeitet habe, seiner Mutter und fünf Geschwistern.

Der Beschwerdeführer gab an, er habe die fünfte Klasse besucht, als sich die Gründe, die zu seiner Ausreise geführt hätten, ereignet hätten. Als er sich eines Tages - im September 2019 - mit zwei Freunden auf dem Nachhauseweg befunden habe, habe ein Onkel einer dieser Freunde sie aufgefordert, in sein Fahrzeug einzusteigen. Sie seien zu einer Baracke ausserhalb der Stadt gebracht worden. Dort seien bewaffnete Männer gewesen, die ihnen die Augen verbunden und sie in ein Zimmer eingeschlossen hätten. Am darauffolgenden Tag hätten sich die Männer als Mitglieder der Al-Shabab zu erkennen gegeben und sie aufgefordert, mit ihnen zusammenzuarbeiten, ansonsten sie getötet würden. Zunächst habe er sich geweigert, sich später allerdings zur Mitarbeit bereit erklärt, um zu seiner Familie zurückkehren zu können. Als erstes hätten sie von ihm verlangt, zu beweisen, dass er loyal sei, indem er seinen Vater töte. Deshalb sei er am vierten Tag nach der Festhaltung in Begleitung eines Mannes zu seinem Elternhaus gegangen. Dort habe er nebst seinem Vater einen Nachbarn und seinen Onkel väterlicherseits angetroffen. Nachdem er seinem Vater alles erzählt habe, hätten sie den draussen wartenden Mann mit Hilfe von Nachbarn festgenommen. Der Beschwerdeführer sei dann zu seinem Onkel gebracht worden. Zwei oder drei Tage später hätten Mitglieder der Al-Shabab ihn im Elternhaus gesucht. Sie hätten auch mehrmals bei seinem Onkel angerufen, um mit dem Beschwerdeführer zu sprechen. Eines Tages im September beziehungsweise Oktober 2019, als auf ihr Klopfen hin die Tür im Haus seines Onkels nicht geöffnet worden sei, hätten sie eine Bombe in das Haus geworfen. Sein Cousin sei verletzt worden, auch er habe eine Kopfverletzung erlitten und ein Dienstmädchen sei getötet worden. Sein Onkel habe dann die Ausreise des Beschwerdeführers beschlossen, da sie ihn nicht beschützen könnten. Mit seinem Vater sei er daher im (...) 2019 auf dem Luftweg in die Türkei gereist, wo er medizinisch behandelt worden sei. Sein Vater sei ungefähr drei Monate später alleine nach Somalia zurückgekehrt. Dort sei er ständig mit dem Tode bedroht worden, da er seinen Sohn ausser Landes gebracht habe. Schliesslich sei sein Vater im (...) 2020 getötet worden. Auch sein Onkel sei inzwischen verstorben, allerdings aufgrund einer Krankheit.

C. 
Der zugewiesenen Rechtsvertretung wurde am 29. August 2022 ein Entwurf des Asylentscheids zur Stellungnahme unterbreitet und gleichentags wurde der Beschwerdeführer für die Dauer des Verfahrens dem Kanton G._______ zugewiesen (A16 f.).

D. 
Am 30. August 2022 nahm die Rechtsvertretung zum Entscheidentwurf Stellung und reichte gleichzeitig als Schulzeugnisse sowie Geburtsurkunde bezeichnete Beweismittel ins Recht (A21).

E. 
Mit gleichentags eröffneter Verfügung vom 31. August 2022 stellte das SEM fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht (Dispositivziffer 1), lehnte sein Asylgesuch ab (Dispositivziffer 2) und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz an (Dispositivziffer 3). Den Vollzug der Wegweisung schob es zugunsten einer vorläufigen Aufnahme auf (Dispositivziffern 4-6).

F. 
Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 30. September 2022 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Er beantragt, die Verfügung des SEM vom 31. August 2022 sei in den Dispositivziffern 1-3 aufzuheben und das SEM sei anzuweisen, seine Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen sowie ihm Asyl zu gewähren, eventualiter sei die Sache zur rechtsgenüglichen Begründung sowie zur vollständigen und richtigen Sachverhaltserstellung an das SEM zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei ihm die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.

Als Beschwerdebeilage reichte er insbesondere eine Unterstützungsbestätigung der H._______ vom (...) ein.

G. 
Mit Instruktionsverfügung vom 21. Oktober 2022 verzichtete das Bundesverwaltungsgericht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und lud das SEM zur Vernehmlassung ein.

H. 
Am 8. November 2022 liess sich das SEM vernehmen. Es hielt an der angefochtenen Verfügung fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

I. 
Mit Eingabe vom 15. November 2022 replizierte der Beschwerdeführer.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG).

1.2  Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht worden. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 10 der Verordnung über Massnahmen im Asylbereich im Zusammenhang mit dem Coronavirus [Covid-19-VO Asyl, SR 142.318]; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG).

Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2. 
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

3. 
Der Prozessgegenstand beschränkt sich vorliegend auf die Dispositivziffern 1 bis 3 der angefochtenen Verfügung (Flüchtlingseigenschaft, Asyl und Wegweisung).

 

4. 
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG. Entsprechend können mit der Beschwerde die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens gerügt werden sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts.

5.   

5.1  Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken (Art. 3 Abs. 2 AsylG).

5.2  Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).

 

6.   

6.1  Das SEM begründet seine ablehnende Verfügung mit der fehlenden Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers. So sei es nicht nachvollziehbar, dass er sein Geburtsdatum erst in der Türkei erfahren habe, wenn er legal eingereist sei, zumal für die Einreise auf dem Flugweg ein Reisepass unabdingbar sei. Ebenso wenig nachvollziehbar sei angesichts seines Alters und Bildungsstandes, dass er nicht gewusst habe, welche Dokumente sein Vater für die Reise verwendet habe. Gleiches gelte hinsichtlich der Ausführungen zu den Gründen für seine unterschiedlichen Altersangaben in Griechenland und Österreich. Obwohl er in der Türkei zwei Monate in Behandlung gewesen und in F._______ sechs Jahre zur Schule gegangen sei, besitze er weder medizinische Unterlagen noch Schulzeugnisse. Seltsamerweise habe er zudem anlässlich der Befragungen unterschiedliche Angaben zum Namen der besuchten Schule gemacht.

 

Zu den Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Asylgründen hielt das SEM fest, es sei widersprüchlich und nicht nachvollziehbar, dass er zunächst angegeben habe, aufgefordert worden zu sein, seinen Vater zu töten, um danach zu erklären, er habe lediglich nachschauen und dem wartenden Angehörigen der Al-Shabab mitteilen sollen, ob sein Vater zu Hause sei. Wie diese Information der Al-Shabab von Nutzen hätte sein sollen, wenn sie seinen Vater selber hätten verfolgen und töten können - wie es sich später auch zugetragen habe - sei nicht ersichtlich. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer an der Erstbefragung angegeben, beim Bombenanschlag sei sein Cousin umgekommen, hingegen an der Anhörung erklärt, dieser habe sich leichtere Verletzungen als er selbst zugezogen. Schliesslich habe er auch widersprüchliche Angaben hinsichtlich des Zeitpunkts des Anschlags gemacht. Ebenso widersprüchlich sei, dass der Beschwerdeführer einerseits angegeben habe, vier Tage festgehalten worden zu sein, und andererseits, sein Vater habe bei seiner Rückkehr gefragt, wo er sich zwei Nächte lang aufgehalten habe. Zudem sei nicht nachvollziehbar, dass ein besorgter Vater, der Soldat gewesen sei, seinen (...)jährigen Sohn nur zwei Nächte suche, wenn dieser vier Nächte verschwunden sei. Letztlich sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Onkel seines Freundes sie zur Al-Shabab gebracht habe, die seinen Neffen zum Töten dessen Bruders auffordern würden.

Zur Stellungnahme zum Entscheidentwurf führte das SEM aus, die darin vorgebrachten Erklärungen zu den widersprüchlichen Aussagen stellten eine dritte Version der Geschehnisse dar und eigneten sich nicht, die Glaubhaftigkeit zu belegen. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit erfolge eine Gesamtbeurteilung aller Elemente, weshalb auch die unterschiedlichen Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Alter in Österreich und Griechenland zu berücksichtigen seien, selbst wenn sie für die Frage der Flüchtlingseigenschaft irrelevant seien.

Für die detaillierte Begründung kann auf die angefochtene Verfügung verwiesen werden.

6.2  Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, das SEM beschränke sich lediglich auf Widersprüche, die es ihm anlasten könne, verlange ein weit höheres Beweismass als die Glaubhaftigkeit und berücksichtige seine individuelle Aussagefähigkeit nicht. So hätten sich die geschilderten Geschehnisse vor rund drei Jahren zugetragen, als der Beschwerdeführer erst (...) Jahre alt gewesen sei, auch habe er an der Anhörung durchgehend geweint und diese habe über vier Stunden gedauert, was ermüdend gewesen sei, zumal er angegeben habe, Kopfschmerzen und Atemprobleme zu haben. Seine Vorbringen seien vom SEM nicht kindgerecht gewürdigt worden. Überdies habe es den Sachverhalt unrichtig festgestellt, indem es eigene Vermutungen als Tatsachen und Aussagen des Beschwerdeführers dargestellt sowie daraus Widersprüche konstruiert habe. Infolge fehlender Berücksichtigung von auch für die Glaubhaftigkeit sprechender Elemente seien schliesslich sowohl das rechtliche Gehör als auch die Begründungspflicht verletzt.

 

Zur Prüfung der Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich das SEM unter anderem auf das von ihm angegebene Alter gestützt. Dies obwohl es sein Geburtsdatum akzeptiert habe und seine Mutter eine Kopie seiner Geburtsurkunde habe organisieren können, die seine Angaben bestätigte. Auch habe sie zwei Schuldokumente beschaffen können, weitere jedoch nicht, da dies wegen der vielen Spitzel der Al-Shabab sehr gefährlich sei.

Al-Shabab rekrutiere Kinder, da sie leichter beeinflussbar seien und erteile ihnen unterschiedliche Aufgaben. Seine Beurteilung der Glaubhaftigkeit stütze das SEM zudem nicht auf Länderberichte ab. Weiter sei der Beschwerdeführer überzeugt gewesen, sein Tatbeitrag würde zum Tod seines Vaters führen, sodass seine Aussage, sie hätten ihn damit beauftragt, in diesem Sinne zu verstehen sei. Daher habe er ausgesagt, er müsse ihn töten. Er sei (...)jährig, habe lediglich fünf Jahre die Schule besucht und während der Anhörung durchgehend geweint, weshalb ihm seine ungenaue Ausdrucksweise nicht zur Last gelegt werden könne. Auch bestehe in seinen Aussagen kein Widerspruch, vielmehr habe er seine Aufgabe präzisiert. Im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag sei er zunächst infolge der schlimmen Verletzungen vom Tod seines Cousins ausgegangen, habe im Krankenhaus allerdings von dessen Überleben erfahren. Sicherlich habe er nicht gesagt, sein Cousin sei getötet worden. Ferner habe das SEM die Anzahl Tage beziehungsweise Nächte falsch verstanden; der Beschwerdeführer habe erklärt, vier Tage bei der Al-Shabab und damit drei, nicht, wie das SEM festhalte, vier Nächte dort verbracht zu haben. Sein Vater habe ihn zwei Tage und Nächte gesucht, wobei etwa nicht bekannt sei, ob er nachts arbeite oder ob es beispielsweise üblich gewesen sei, dass der Beschwerdeführer bei Bekannten übernachtet habe, womit die Behauptung des SEM auf einer unvollständigen Sachverhaltsfeststellung basiere. Es ergebe durchaus Sinn, dass sein Vater seine Abwesenheit erst am zweiten Tag beziehungsweise am Morgen nach der Entführung bemerkt habe, ihn danach zwei Tage und zwei Nächte gesucht habe und der Beschwerdeführer am vierten Tag morgens wieder nach Hause gekommen sei. Ein Widerspruch liege somit nicht vor, zumal er genau gewusst habe, wie lange er bei der Al-Shabab geblieben sei und was ihm sein Vater damals gesagt habe.

Es seien viele Realkennzeichen vorhanden, obwohl kaum nonverbale Gesten aufgenommen worden seien. Der Beschwerdeführer habe viel, wenn nicht ununterbrochen geweint und Atemprobleme gehabt. Er habe Nebensächlichkeiten erwähnt, wie dass sein Bruder beim Fussballspielen das Bein gebrochen habe und deswegen eine Weile nicht zur Schule gegangen sei, sowie dass er schulisch langsamer als dieser gewesen sei und eine Klasse habe wiederholen müssen. Seine Aussagen enthielten Schilderungen sowohl in direkter als auch in indirekter Rede und eigener sowie fremder Gefühle und Gedanken. Auch Nichtwissen könne ein Realkennzeichen sein und der Beschwerdeführer habe nach bestem Wissen und Gewissen die Frage nach der Finanzierung seiner Reise zu beantworten versucht sowie ebenso seine Annahmen hinsichtlich der Ausreisepapiere korrigiert. Dass diese Realkennzeichen für die Glaubhaftmachung genügten und noch weitere bestünden, ergebe sich aus dem internen Antrag des SEM auf einen positiven Entscheid und eine vorläufige Aufnahme. Ebenso habe die Fachspezialistin festgestellt, dass der Beschwerdeführer bereits anlässlich der Erstbefragung seine Fluchtgründe detailliert geschildert habe.

Der Beschwerdeführer sei aufgrund seines Alters und Geschlechts von der Al-Shabab ausgesucht worden und es habe ihm im Zeitpunkt seiner Ausreise eine Zwangsrekrutierung gedroht. Überdies habe die Al-Shabab seine Weigerung und die Verhaftung eines Mitgliedes als politisch motiviert betrachtet. Die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bestehe nach wie vor, was sich aus dem Tod seines Vaters ergebe und sie habe sich wegen des nun fehlenden Schutzes verstärkt.

Für die detaillierte Begründung kann auf die Beschwerdeschrift verwiesen werden.

6.3  In seiner Vernehmlassung ergänzt das SEM, der Beschwerdeführer habe anlässlich der Anhörung angegeben, seine Konzentration sei gut. Weiter habe er einzig Kopien von Schulzeugnissen und -bestätigungen eingereicht, die keinen Beweiswert hätten und dies auch nur wenige Tage, nachdem er zuvor bestritten habe, Schuldokumente zu besitzen. Aufgrund der Schilderung seiner Reise müsse ferner davon ausgegangen werden, dass er mit einem Reisepass ausgereist sei. Diesen habe er weder eingereicht noch hierzu glaubhafte Erklärungen angebracht.

6.4  Replizierend beanstandet der Beschwerdeführer im Wesentlichen, die Vernehmlassung des SEM enthalte anstelle einer Begründung Behauptungen und subjektive Einschätzungen.

7.   

7.1  Der Beschwerdeführer beantragt im Eventualbegehren die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz und erhebt verschiedene formelle Rügen, die vorab zu prüfen sind, zumal sie allenfalls geeignet sind, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken (vgl. Kölz/ Häner/Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes; 3. Aufl. 2013, Rz. 1043 ff. m.w.H.; BGE 144 IV 302 E. 3.1 m.w.H.). So habe das SEM den Sachverhalt unrichtig festgestellt, indem es eigene Vermutungen als Tatsachen sowie Aussagen des Beschwerdeführers dargestellt und daraus Widersprüche konstruiert habe. Begründet wird dies damit, dass das SEM die Anzahl Tage beziehungsweise Nächte falsch verstanden habe, die der Beschwerdeführer bei der Al-Shabab verbracht habe. Er habe nämlich erklärt, vier Tage und damit drei, nicht wie das SEM festhalte, vier Nächte dort verbracht zu haben. Sein Vater habe ihn überdies zwei Tage und Nächte gesucht. Weiter habe das SEM seine Begründungspflicht verletzt, zumal es auch für die Glaubhaftigkeit sprechende Elemente nicht berücksichtigt und damit keine Gesamtwürdigung vorgenommen habe. Es habe seine individuelle Aussagefähigkeit, mitunter dass es dem Beschwerdeführer während der Anhörung nicht gut gegangen sei, nicht berücksichtigt.

7.1.1  Der mit Grundrechtsqualität ausgestattete Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) umfasst eine Anzahl verschiedener verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien. Der in Art. 32 VwVG konkretisierte Teilgehalt verpflichtet die Behörde nicht nur, den Parteien zu ermöglichen, sich zu äussern und ihre Vorbringen tatsächlich zu hören (Art. 30 f. VwVG), sondern sie auch sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und in der Entscheidfindung zu berücksichtigen.

7.1.2  Ist eine asylsuchende Person - wie der Beschwerdeführer - minderjährig und unbegleitet, so haben die Behörden spezifische verfahrensrechtliche Garantien zu beachten. Dies, um der besonderen Schutzbedürftigkeit der UMA Rechnung zu tragen und insbesondere sicherzustellen, dass sie hinreichend gehört werden. Was die Anhörung betrifft, so hat diese in der Regel in Anwesenheit des gesetzlichen Vertreters oder der Vertrauensperson zu erfolgen. Die anhörende Person hat zudem dafür zu sorgen, dass den besonderen Aspekten der Minderjährigkeit Rechnung getragen wird (Art. 7 Abs. 5 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 [AsylV 1, SR 142.311]). Dabei sind insbesondere das Alter und der Reifegrad und gegebenenfalls spezifische Verletzlichkeiten der UMA zu berücksichtigen. Sollte dies für das Wohlbefinden der UMA während der Anhörung angezeigt sein, sind geeignete Massnahmen zu treffen. Das SEM hat unter anderem in Bezug auf die Art und Weise der Befragung gewisse Regeln zu beachten. Ein grosses Augenmerk ist im Rahmen der Anhörung auf eine den UMA gerecht werdende Atmosphäre ab Beginn und eine empathische Haltung der befragenden Person - sowie insgesamt auf ein vertrauensvolles Klima - zu richten, das es den UMA ermöglichen soll, vom Erlebten zu berichten. Zu diesem Zweck soll die Vorinstanz den UMA bereits zu Beginn der Anhörung in einer altersgerechten Sprache das Ziel der Befragung sowie die darauf anwendbaren Regeln erläutern. Ferner soll es alle Personen, die an der Anhörung mitwirken, vorstellen und deren Rolle erklären. Die UMA sollen zu den sie im Verfahren unterstützenden Personen Vertrauen aufbauen können. Dazu ist es notwendig, dass die befragende Person das Verhalten der UMA während der Anhörung beobachtet und jede Form der nonverbalen Kommunikation vermerkt. Auch hat sie sich um eine wohlwollende und neutrale Haltung zu bemühen. Insbesondere in einer ersten Phase sollten die Fragen sodann offen formuliert werden, um einen freien Bericht zu fördern (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-1144/2018 vom 29. Juni 2020 E. 5.2.2; zum Ganzen BVGE 2014/30 E. 2.3 m.w.H.).

7.1.3  Gemäss Art. 12 VwVG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen fest und bedient sich nötigenfalls der unter Buchstaben a-e aufgelisteten Beweismittel. Die Behörde hat von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen, die für das Verfahren notwendigen Unterlagen zu beschaffen, die rechtlich relevanten Umstände abzuklären und ordnungsgemäss darüber Beweis zu führen. Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Grenze an der Mitwirkungspflicht der Asylsuchenden (Art. 8 AsylG, Art. 13 VwVG). Die Sachverhaltsfeststellung ist unrichtig, wenn der Verfügung ein falscher und aktenwidriger Sachverhalt zugrunde gelegt wird; unvollständig ist sie, wenn nicht alle für den Entscheid rechtswesentlichen Sachumstände berücksichtigt werden (vgl. Kölz/Häner/Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl., 2013, Rz. 1043).

7.2   

7.2.1  Die soeben dargelegten Anforderungen an ein Verfahren eines UMA wurden vorliegend nicht hinreichend beachtet:

 

7.2.1.1  Der Beschwerdeführer hatte einen Monat vor der Erstbefragung sein (...) Lebensjahr vollendet. Zum Zeitpunkt seiner Anhörung war er (...) Jahre und zweieinhalb Monate alt. Den Protokollen lässt sich an mehreren Stellen entnehmen, dass er Mühe hatte, die ihm gestellten Fragen zu verstehen. Dies scheint nicht sprachlich beziehungsweise durch die Übersetzung bedingt zu sein, sondern ist unter anderem auf ihre Formulierung zurückzuführen. Zum einen fällt auf, dass gewisse Fragen Fachbegriffe und Würdigungen enthalten, die dem Alter und Bildungsstand des Beschwerdeführers nicht angemessen sind, umso mehr fällt dies ins Gewicht, als die dazugehörigen Antworten die wesentliche Entscheidgrundlage bildeten (A12 Ziff. 4.04: F: Gibt es irgendwelche Dokumente, die dein Alter belegen? A: Dass ich so viel alt bin?; Ziff. 5.01: F: Bist du legal oder illegal aus deinem Heimatstaat ausgereist? A: Ich reiste aus Somalia wegen medizinischen Zwecken in die Türkei). Zum anderen enthalten sie gewisse Formulierungen in einer nicht einfach verständlichen Sprache oder sie sind generell unklar (A 15 F49: F: Wie kommunizieren Sie mit Ihrer Familie? A: Ich habe nicht verstanden; F181: War Ihr Vater ein gewöhnlicher Soldat? A: Ich verstehe die Frage nicht. Was meinen Sie mit «gewöhnlicher Soldat»?; F140: Ich meine: Jemanden aufzufordern, den eigenen Vater zu töten, ist eine grausame Sache. Da würde jeder die höchste Loyalität verspielen A: Ich habe die Frage nicht verstanden). Schliesslich werden dem Beschwerdeführer wertende Fragen gestellt, deren Antwort er nicht kennen kann (ebd. F137 [...] Warum sollte ihr Vater sterben?, F138: [...] Warum sollten die Al-Shabab einen (...)Jährigen damit beauftragen, den eigenen Vater zu töten, wenn sie es offenbar selbst machen können? F139: Und wie erklären Sie, dass die Al-Shabab von einem (...) Jährigen, der nicht einmal dazugehört, Loyalität verlangt?).

 

7.2.1.2  Offensichtlich zu erkennen ist, dass die Befragungen für den Beschwerdeführer belastend waren. An der Erstbefragung weinte er mehrmals (A 12 Ziff. 1.17.05, 2.01, 7.01, 8.02), hatte Mühe zu sprechen (ebd. Ziff. 5.02) und hielt sich während seinen Ausführungen zu den Gesuchsgründen die Hände vor das Gesicht (ebd. Ziff. 7.01). Er gab an, dass es ihm seelisch schlecht gehe und er sich wegen seines Vaters Tod schuldig fühle (ebd. 8.02). Seine Rechtsvertretung beantragte sodann eine psychologische Abklärung. Anlässlich der Anhörung zeigte sich ein ähnliches Bild hinsichtlich seiner psychischen Verfassung. Er weinte oft (A15 F23f.,100, 115, 128), war sichtbar traurig (ebd. F34), hielt sich die Augen zu (ebd. F100) und sprach mit zittriger Stimme (ebd. F115). Die befragende Person erkannte dies und setzte zweimal eine Pause an, nach welchen der Beschwerdeführer auf Nachfrage angab, es gehe ihm besser (A15 F103, F129). Nichtsdestotrotz gab er am Ende der Befragung zu Protokoll, Kopfschmerzen und Schmerzen im Brustkorb gehabt zu haben (ebd. F171 f.). Dem vulnerablen Zustand des Beschwerdeführers hätte im Rahmen der Befragungen stärker Rechnung getragen werden müssen. So wäre zumindest angezeigt gewesen, ihn auf die Möglichkeit, dass die Befragung unterbrochen und vertagt werden könne, hinzuweisen.

 

7.2.1.3  Für die Erstbefragung gibt es keine Anzeichen, dass diese nicht in einer vertrauenswürdigen Atmosphäre stattgefunden hätte oder die befragende Person dem Beschwerdeführer nicht mit Empathie begegnet wäre. Auch wenn nicht ganz nachvollziehbar ist, dass sie den Beschwerdeführer fragte, was ihn rühre, nachdem dieser das Todesdatum seines Vaters genannt hatte (ebd. Ziff. 1.17.05), so sprach sie ihr Verständnis aus, gab dem Beschwerdeführer Gelegenheit, eine Pause zu machen und wechselte das Thema (vgl. BVGE 2014/30, a.a.O., E. 2.3.3.2). Ob Unterbrüche oder Pausen generell stattgefunden haben oder erst nachdem der Beschwerdeführer jeweils in Tränen ausgebrochen ist, lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Was die Anhörung betrifft, ist zunächst festzuhalten, dass diese zur Qualitätskontrolle in Anwesenheit eines zusätzlichen Sachbearbeiters stattgefunden hat. Soweit ersichtlich wurde Sinn und Zweck dieser Qualitätskontrolle aber dem Beschwerdeführer gegenüber nicht erläutert, etwa indem erklärt worden wäre, dass die zweite Person nicht etwa zum Zweck einer Kontrolle der Aussagen des Beschwerdeführers, sondern vielmehr jenem der Kontrolle, ob die zum Schutz von UMA geltenden Bestimmungen eingehalten werden, anwesend sei. Eine solche Erklärung wäre angebracht gewesen, um einer (zusätzlichen) Verunsicherung vorzubeugen und damit den besonderen Bedürfnissen des UMA Rechnung zu tragen. Festzustellen ist weiter, dass die Einleitungsphase mit rund zehn Fragen, bevor nach dem Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Türkei gefragt wurde, eher kurz ausgefallen ist, um eine Vertrauensbasis aufbauen zu können, und sie wohl insbesondere der Erstellung des medizinischen Sachverhalts diente (vgl. A15 F1 ff.). Bis zur Frage 100, kurz vor dem ersten Unterbruch nach 55 Minuten, reagierte die befragende Person auf das Weinen des Beschwerdeführers im Laufe der Befragung mit einer Beileidsbekundung (ebd. F24) und dem Anbieten einer Pause (ebd. F34), stellte aber weiterhin Fragen. Angemessen wäre es gewesen, die Befragung effektiv zu unterbrechen, zumal eine Pause unter normalen Umständen nach höchstens 30 Minuten vorzunehmen ist (vgl. BVGE 2014/30 E. 3.3.4). Im Verlauf der weiteren Anhörung entschuldigte sich die befragende Person für die Frage, ging aber auf die Regungen des Beschwerdeführers nicht weiter und zuletzt gar nicht mehr ein. Nachdem der Beschwerdeführer gegen Frage 170 ein weiteres Mal in Tränen ausbrach und Kopfschmerzen sowie Schmerzen im Brustkorb beklagte, fand nach einer 20-minütigen Pause die Rückübersetzung statt, welche weitere eineinviertel Stunden dauerte. Der Angabe des Beschwerdeführers, seine Konzentration sei gut gewesen (A15 F174), kommt vor dem geschilderten Hintergrund nicht wesentliches Gewicht zu. Überdies dauerte die Anhörung des Beschwerdeführers insgesamt - ohne Pausen - 224 Minuten und umfasste 191 Fragen, was etwas mehr als eine Minute pro Frage bedeutet; ein solches Tempo erweist sich als zu schnell (vgl. BVGE 2014/30 E. 3.3.4). Ausschlaggebend ist jedoch vorliegend, wie die befragende Person offenkundig die Antworten des Beschwerdeführers in Zweifel zog (vgl. A15 F114: Wie gesagt: Es muss ein Reisepass gewesen sein, denn ansonsten hätten sie überhaupt nicht ins Flugzeug einsteigen können. Und einen Reisepass wirft man nicht einfach so weg - das heisst, Ihr Vater muss ihn nach Hause genommen haben, F137: Wie gesagt: Es tut mir leid wegen all diesen Fragen, aber das, was Sie sagen, macht keinen Sinn [...] sowie die unter E. 7.2.1.1 in fine aufgeführten Fragen). Ein solches Verhalten ist der erforderlichen Neutralität abträglich und wirkt alles andere als vertrauensbildend. Auch versuchte sie den Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger Dokumente bei seiner Ausreise wiederholt zu einem Perspektivenwechsel zu bewegen (ebd. F44, F45, F55, F57, F58, F59, F112, F114, F165). In einem solchen Ausmass wirkt diese Befragungstaktik nicht nur verunsichernd, sondern führt dazu, dass sich die zu befragende Person nicht ernstgenommen fühlt. Im Übrigen erachtet es das Gericht nicht als unwahrscheinlich, dass ein Kind, dessen Vater als (...) arbeitet, in der Lage ist, die Ein- und Ausreisevorschriften zu umgehen und somit ohne Reisepapiere ausreisen konnte. Auch kann dem damals noch sehr jungen und gemäss seinen Angaben verletzten Beschwerdeführer nicht ohne Weiteres die Unkenntnis der Reisedokumente vorgehalten werden.

 

7.2.2  Nach dem zuvor Gesagten ist festzustellen, dass die Anhörung des Beschwerdeführers den in der Rechtsprechung formulierten Grundsätzen nicht entspricht. Hinzu kommt, dass dem Beschwerdeführer beizupflichten ist, wenn er geltend macht, das SEM habe seinem Zustand während der Anhörung, seinem Alter, als sich die asylrelevanten Ereignisse zugetragen hätten, sowie der seither verstrichenen Zeit bei der Aussagewürdigung nicht hinreichend Rechnung getragen. Selbst wenn gewisse Widersprüche in den Aussagen des Beschwerdeführers nicht in Abrede gestellt werden (vgl. A12 Ziff. 7.01; A 15 F115 hinsichtlich der Verletzungen seines Cousins), enthalten die Schilderungen durchaus auch Realkennzeichen und Elemente, die für die Glaubhaftigkeit seiner Vorbringen sprechen könnten, die jedoch in der Gesamtwürdigung der Vorinstanz keinen Eingang gefunden haben. Nebst den bereits aufgezeigten Emotionen, die im Zusammenhang mit der Schilderung seiner Asylgründe stehen, macht der Beschwerdeführer hinsichtlich des Kerngeschehens im Wesentlichen übereinstimmende Angaben. Auch fallen in der Schilderung der Asylgründe immer wieder Nebensächlichkeiten und spontane Einschübe auf. Etwa in der freien Rede, wonach zuerst der Neffe seinen Onkel gebeten habe, ihn an einen bestimmten Ort hinzufahren, derjenige Freund, der sich zum Anschluss geweigert habe, älter gewesen sei, oder dass sie den Beschwerdeführer als erstes geweckt hätten. Ebenso etwa, wie er nach der Aussage, sein Vater, ein Nachbar und sein Onkel väterlicherseits seien zu Hause gewesen spontan anfügt, sie seien von der Arbeit gekommen (A 15 F115; vgl. auch F117). Jedenfalls erweisen sich die Angaben des Beschwerdeführers weder als unplausibel (vgl. E. 7.3.4) noch als haltlos.

 

7.3   

7.3.1  Es stellt sich unter diesen Umständen die Frage, ob der Sachverhalt trotz der mangelhaften Anhörung als hinreichend erstellt betrachtet werden kann.

7.3.2  Der Beschwerdeführer hat im Laufe des Verfahrens keine Beweismittel zu den geltend gemachten Asylgründen eingereicht, sodass seinen Aussagen anlässlich der Befragungen eine umso grössere Bedeutung zukommt. Diese waren von Gefühlsausbrüchen geprägt und er hatte Mühe, zu sprechen, was sich an seiner zittrigen Stimme erkennen lässt (A15 F115). Auch gab er die gesamte Anhörung hinweg kurze und knappe Antworten, sodass sich die befragende Person veranlasst sah, erneut nachzufragen. Wie bereits erwähnt, enthalten die Aussagen des Beschwerdeführers aber auch immer wieder überraschende Details (vgl. E. 7.2.2), weshalb davon ausgegangen werden darf, dass in der entsprechenden Atmosphäre und durch gezieltes Nachfragen weitere entscheidrelevante Fakten erhoben werden könnten. Zudem hätte es dem SEM gestützt auf den Untersuchungsgrundsatz oblegen, wozu es bei einem UMA umso mehr verpflichtet gewesen wäre, insbesondere konkrete Angaben zum Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Baracke von Al-Shabab, den genauen Umständen des Todes seines Vaters, gegebenenfalls aber auch zu einer allfälligen Beziehung seines Vaters zum Onkel, der sie zur Al-Shabab gebracht habe und weitere gegebenenfalls entscheidwesentliche Umstände zu erfragen. Der Sachverhalt erweist sich damit als unvollständig und ungenügend erstellt. Zum jetzigen Zeitpunkt können daher keine substanziellen materiellen Aussagen zur Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Asylgründen gemacht werden, zumal die Glaubhaftigkeitsprüfung in der angefochtenen Verfügung auf einer unzureichenden Grundlage basiert. Ergänzend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz die vom Beschwerdeführer mit der Stellungnahme zum Entscheidentwurf eingereichten Schulzeugnisse nicht berücksichtigt hat, deren Fehlen sie zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers heranzieht (angefochtene Verfügung I., S. 3, letzter Abschnitt). Entgegen den Ausführungen des SEM in der Vernehmlassung ist es der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers nicht abträglich, wenn er, wie an der Anhörung aufgefordert, seine Mutter damit beauftragt hat, bei der Schule Bestätigungen und Zeugnisse einzuholen (A15 F79, F80) und diese anschliessend eingereicht hat. Die im August 2022 ausgestellten Unterlagen stehen seinen Aussagen nicht entgegen. Auch scheint das SEM die im gleichen Zug eingereichte Geburtsurkunde des Beschwerdeführers übersehen zu haben.

7.3.3  Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine reformatorische Entscheidung setzt voraus, dass die Sache entscheidreif ist; dazu muss insbesondere der rechtserhebliche Sachverhalt richtig und vollständig festgestellt worden sein. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die in diesen Fällen fehlende Entscheidungsreife kann grundsätzlich zwar auch durch das Bundesverwaltungsgericht selbst hergestellt werden, wenn dies im Einzelfall aus prozessökonomischen Gründen angebracht erscheint (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Das Gericht kann und soll aber die Grundlagen des rechtserheblichen Sachverhalts nicht gleichsam an Stelle der verfügenden Verwaltungsbehörde erheben, zumal die Partei bei einem solchen Vorgehen eine Instanz verlieren würde. Vorliegend fällt offensichtlich weder eine Herstellung der Entscheidreife durch das Gericht noch eine Heilung der Verfahrensmängel in Betracht. Die angefochtene Verfügung leidet an schwerwiegenden Mängeln und ist aufzuheben. Die Sache ist zur Abklärung und Feststellung des richtigen und vollständigen Sachverhalts und zu neuer Entscheidung in Wahrung des rechtlichen Gehörs an die Vorinstanz zurückzuweisen.

7.3.4  Das SEM wird angewiesen, den minderjährigen Beschwerdeführer in einem geeigneten Rahmen unter Berücksichtigung der zu beachtenden Grundsätze bei Anhörungen von UMA (vgl. BVGE 2012/21) ergänzend anzuhören und die geltend gemachten Asylgründe umfassend abzuklären. Alle unter dem Blickwinkel von Art. 3 AsylG rechtserheblichen Sachverhaltselemente sind sodann einer sorgfältigen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen, dies in Berücksichtigung des jungen Alters des Beschwerdeführers, seiner Vulnerabilität und der seit den geltend gemachten Ereignissen verstrichenen Zeit. In Feststellung des richtigen und vollständigen Sachverhaltes hat das SEM sodann erneut zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG erfüllt, insbesondere auch in Berücksichtigung von Quellen, wonach Al-Shabab Kinder zum Zwecke ihrer Rekrutierung entführe, diese dabei durchschnittlich dreizehneinhalb Jahre alt seien, bei Weigerung ihre Angehörigen Repressalien zu gewärtigen hätten und Angehörige der Sicherheitskräfte in Mogadischu Angriffsziele der Al-Shabab seien (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing Somalia, September 2022, «https://www.refworld.org/docid/6308b1844.html», abgerufen am 3. August 2023, S.58, 82f.). Die neue Verfügung ist schliesslich hinreichend zu begründen.

8. 
Angesichts dieses Verfahrensausgangs erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den weiteren Vorbringen in der Beschwerde; diese bilden integralen Bestandteil des wiederaufzunehmenden erstinstanzlichen Verfahrens und werden vom SEM mitzuberücksichtigen sein.

9. 
Nach dem Gesagten verletzt die angefochtene Verfügung Bundesrecht (Art. 106 Abs. 1 AsylG). Die Beschwerde ist insofern gutzuheissen, als die angefochtene Verfügung vom 31. August 2022 aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen ist.

10. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung erweist sich als gegenstandslos.

11.   
Dem vertretenen Beschwerdeführer ist keine Parteientschädigung auszurichten, da es sich vorliegend um eine zugewiesene unentgeltliche Rechtsvertretung im Sinne von Art. 102h AsylG handelt, deren Leistungen vom Bund nach Massgabe von Art. 102k AsylG entschädigt werden (vgl. auch Art. 111ater AsylG).

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. 
Die Verfügung vom 31. August 2022 wird aufgehoben und die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuem Entscheid an das SEM zurückgewiesen.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4. 
Es wird keine Parteientschädigung ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

 

Die vorsitzende Richterin:

Die Gerichtsschreiberin:

 

 

Esther Marti

Carolina Bottini

 

 

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