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Abteilung IV

D-629/2017

 

 

 

 

 

Urteil vom 4. Juli 2019

Besetzung

 

Richterin Mia Fuchs (Vorsitz),

Richterin Regula Schenker Senn,

Richterin Nina Spälti Giannakitsas,

Richter Daniele Cattaneo,

Richterin Claudia Cotting-Schalch,

Gerichtsschreiber Martin Scheyli

 

 

 

Parteien

 

A._______,

geboren am [...],

Volksrepublik China (Tibet),

vertreten durch lic. iur. Dominik Löhrer,

Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende,

[...],

Beschwerdeführerin,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz

 

 

 

Gegenstand

 

Zweitasyl;

Verfügung des SEM vom 18. Januar 2017

 

 

 


Sachverhalt:

A. 
Die Beschwerdeführerin, eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Ethnie, wurde in Bhopal (Indien) geboren. Von dort gelangte sie am 24. März 2011 im Rahmen eines ausländerrechtlichen Familiennachzugs in die Schweiz, worauf ihr der Kanton Zürich eine Aufenthaltsbewilligung erteilte.

B. 
Mit Eingabe an das Migrationsamt des Kantons Zürich vom 27. August 2014 ersuchte die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 4 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 1 der Verordnung über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen vom 14. November 2012 (RDV, SR 143.5) um Ausstellung eines Reisepasses für ausländische Personen. Das damalige Bundesamt für Migration (BFM; nunmehr Staatssekretariat für Migration [SEM]) - welchem das Gesuch zuständigkeitshalber überwiesen wurde lehnte diesen Antrag mit Verfügung vom 17. November 2014 ab.

C. 
Mit Eingabe an das SEM vom 22. September 2016 ersuchte die Beschwerdeführerin sinngemäss um Zweitasyl nach Art. 50 des Asylgesetzes (AsylG, SR 142.31). Zur Begründung brachte sie im Wesentlichen vor, ihr indischer Flüchtlingspass sei abgelaufen, weshalb es ihr nicht mehr möglich sei, zu reisen.

D. 
Mit Zwischenverfügung vom 13. Oktober 2016 teilte das SEM der Beschwerdeführerin mit, es werde erwogen, ihr Gesuch um Zweitasyl abzulehnen, und gewährte ihr diesbezüglich das rechtliche Gehör. Dabei führte das Staatssekretariat aus, es könne Zweitasyl gemäss Art. 50 AsylG und Art. 36 der Asylverordnung 1 über Verfahrensfragen vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) gewähren, wenn die gesuchstellende Person formell durch einen Signatarstaat des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) als Flüchtling anerkannt worden sei und sich zudem seit mindestens zwei Jahren ordnungsgemäss und ununterbrochen in der Schweiz aufhalte. Indien sei jedoch kein Signatarstaat der FK, weshalb für die Zuerkennung von Zweitasyl kein Raum bestehe.

E. 
Mit Eingabe an das SEM vom 31. Oktober 2016 zeigte der Rechtsvertreter die Mandatsübernahme an. Des Weiteren teilte er im Wesentlichen mit, dem Wortlaut von Art. 50 AsylG sei nicht zu entnehmen, dass der Erststaat, in welchem die um Zweitasyl ersuchende Person als Flüchtling aufgenommen wurde, ein Signatarstaat der FK sein müsse.

F. 
Mit Verfügung vom 18. Januar 2017 lehnte das SEM das Gesuch um Zweitasyl ab. Zur Begründung führte das Staatssekretariat unter anderem aus, entgegen dem Standpunkt des Rechtsvertreters würden Art. 50 AsylG und Art. 36 AsylV 1 zwar nicht ausdrücklich auf die FK verweisen, hingegen aber voraussetzen, dass die betroffene Person als Flüchtling im Sinne des AsylG und entsprechend der FK anerkannt worden sei. Diese Anerkennung als Flüchtling müsse von einem Staat, der die FK unterzeichnet und ratifiziert habe, oder von einer Organisation, welche in Delegation eines Signatarstaats gewirkt habe, vorgenommen worden sein.

G. 
Diesen Entscheid focht die Beschwerdeführerin mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 30. Januar 2017 beim Bundesverwaltungsgericht an. Dabei beantragte sie die Aufhebung der genannten Verfügung und die Gewährung des Zweitasyls im Sinne von Art. 50 AsylG. In prozessualer Hinsicht stellte sie den Antrag, es sei auf die Erhebung eines Vorschusses bezüglich der Verfahrenskosten zu verzichten. Auf die Begründung der Beschwerde wird, soweit für den Entscheid wesentlich, in den Erwägungen eingegangen.

H. 
Mit Zwischenverfügung vom 10. Februar 2017 hiess der damals zuständige Instruktionsrichter den Antrag auf Erlass des Kostenvorschusses gut.

I. 
Mit Vernehmlassung vom 27. Februar 2017 hielt das SEM vollumfänglich an seinen Erwägungen fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

J. 
Mit Zwischenverfügung vom 1. März 2017 wurde der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Vernehmlassung das Replikrecht erteilt.

K. 
Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 13. März 2017 gab die Beschwerdeführerin eine entsprechende Stellungnahme ab.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Über Beschwerden gegen Verfügungen, die gestützt auf das AsylG durch das SEM erlassen worden sind, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich (mit Ausnahme von Verfahren betreffend Personen, gegen die ein Auslieferungsersuchen des Staates vorliegt, vor welchem sie Schutz suchen) endgültig (Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31-33 VGG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

1.2  Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht können im Anwendungsbereich des AsylG die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Missbrauch und Überschreitung des Ermessens, sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

1.3  Für das vorliegende Verfahren gilt nach der am 1. März 2019 in Kraft getretenen Änderung des AsylG das bisherige Recht (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015).

2. 
Die Beschwerdeführerin ist legitimiert; auf ihre frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 105 AsylG und 108 Abs. 1 aAsylG; Art. 37 VGG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 VwVG).

3.   

3.1  Gemäss Art. 50 AsylG der unter der Sachüberschrift "Zweitasyl" steht  kann Flüchtlingen, die in einem andern Staat aufgenommen worden sind, Asyl gewährt werden, wenn sie sich seit mindestens zwei Jahren ordnungsgemäss und ununterbrochen in der Schweiz aufhalten.

3.2  Durch Art. 36 AsylV 1 wird dies zudem dahingehend konkretisiert, dass der Aufenthalt von Flüchtlingen in der Schweiz ordnungsgemäss ist, wenn die Flüchtlinge die Bestimmungen einhalten, die allgemein für ausländische Personen gelten (Abs. 1). Der Aufenthalt gilt als ununterbrochen, wenn die Flüchtlinge in den letzten zwei Jahren insgesamt nicht länger als sechs Monate im Ausland weilten. Bei längerer Abwesenheit gilt der Aufenthalt nur dann als ununterbrochen, wenn zwingende Gründe für die Abwesenheit vorliegen (Abs. 2).

 

4.   

4.1  Das SEM begründete seinen Entscheid, das Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung des Zweitasyls im Sinne von Art. 50 AsylG abzulehnen, im Rahmen der angefochtenen Verfügung im Wesentlichen folgendermassen: Art. 50 AsylG statuiere als erste Voraussetzung für die Gewährung des Zweitasyls, dass die betreffende Person in einem anderen Staat als Flüchtling aufgenommen worden sei. Mit dem Urteil BVGE 2014/40 habe das Bundesverwaltungsgericht zur Bedeutung dieses Kriteriums ausgeführt, dass Art. 50 AsylG die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraussetze, wobei es keine Rolle spiele, ob diese Anerkennung formell durch den Staat der Erstaufnahme selbst oder in seinem Namen durch das UNHCR erfolgt sei. Wichtig sei alleine, dass die Anerkennung als Flüchtling im Sinne von Art. 1 FK oder des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (SR 0.142.301) erfolgt sei und sowohl der Erststaat als auch der Zweitstaat Signatarstaaten der FK seien. Des Weiteren sei nicht von Belang, ob mit der Anerkennung ein mit dem schweizerischen Recht vergleichbarer Asylstatus verbunden sei. Vielmehr genüge, dass dem anerkannten Flüchtling im Staat der Erstaufnahme ein bestimmter Schutz zuteil geworden sei. Diese Aufnahme müsse allerdings derart beschaffen gewesen sein, dass der Flüchtling durch den betreffenden Staat einen Schutz vor Rückschiebung erfahren habe und ihm zumindest faktisch ein dauerhafter Aufenthalt gewährt worden sei. Der Flüchtlingsbegriff des AsylG entspreche demjenigen der FK. Seit der Ratifizierung des Protokolls vom 31. Januar 1967 habe die Flüchtlingsdefinition der FK für die Schweiz umfassend Geltung. Obschon weder Art. 50 AsylG noch Art. 36 AsylV 1 ausdrücklich auf die FK verweisen würden, setze die Anwendung dieser Bestimmungen voraus, dass die betroffene Person als Flüchtling im Sinne des AsylG und entsprechend der FK anerkannt worden sei. Diese Anerkennung als Flüchtling müsse von einem Staat, der die FK unterzeichnet und ratifiziert habe, oder von einer Organisation, welche in Delegation eines Signatarstaats gewirkt habe, vorgenommen worden sein. Die Beschwerdeführerin sei durch Indien als Flüchtling anerkannt worden, wobei dieses Land nicht Signatarstaat der FK sei. Die Anerkennung der Beschwerdeführerin als Flüchtling sei daher nicht im Sinne der FK erfolgt. Daran vermöge auch nichts zu ändern, dass Indien Flüchtlingen aus Tibet Schutz vor Refoulement garantiere. Die Voraussetzungen gemäss Art. 50 AsylG für die Gewährung von Zweitasyl seien damit nicht erfüllt, und es erübrige sich zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin sich seit mindestens zwei Jahren ordnungsgemäss und ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten habe.

4.2  Dieser Argumentation hielt die Beschwerdeführerin mit der Beschwerdeschrift im Wesentlichen Folgendes entgegen: Es sei BVGE 2014/40 nicht zu entnehmen, dass gemäss Art. 50 AsylG sowohl der Erststaat als auch der Zweitstaat zwingend Signatarstaaten der FK sein müssten. Vielmehr gehe aus dem genannten Urteil (dortige E. 3.4.5 und 3.4.7 f.) hervor, dass der Erststaat gerade nicht Signatarstaat der FK sein müsse. Gemäss BVGE 2014/40 sei nicht von Belang, ob mit der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Erstaufnahmestaat die Gewährung eines mit dem schweizerischen Recht vergleichbaren Asylstatus verbunden gewesen sei. Sondern es genüge, dass dem anerkannten Flüchtling im Staat der Erstaufnahme ein bestimmter Schutz zuteil geworden sei. Diese Aufnahmebedingungen müssten allerdings derart beschaffen sein, dass der Flüchtling durch den betreffenden Staat einen Schutz vor Rückschiebung erfahre und ihm zumindest faktisch ein dauerhafter Aufenthalt gewährt werde. Dies sei auch deckungsgleich mit der Ansicht, welche das SEM in seinem eigenen Handbuch in Bezug auf die Voraussetzungen des Zweitasyls vertrete. Im Übrigen vertrete das SEM in anderen Fallkonstellationen den Standpunkt, Indien sei ein sicherer Drittstaat und garantiere Flüchtlingen den Schutz vor Refoulement, wenn es sie zuvor als solche anerkannt habe, auch wenn es sich bei diesem Land nicht um einen Signatarstaat der FK handle.

4.3   

4.3.1  Im Rahmen der Vernehmlassung führte das SEM zunächst aus, der in der angefochtenen Verfügung enthaltene Hinweis auf BVGE 2014/40 beziehe sich auf eine Passage in dessen E. 3.4.6, die laute: "Il ressort de ce qui précède que, pour déterminer l'existence d'une protection dans le pays de premier asile, il convient d'abord de vérifier si l'étranger y a été reconnu réfugié au sens de l'art. 1 de la Conv. réfugiés ou le cas échéant du Protocole de 1967 (cf. dans le même sens l'art. 1 let. a de l'Accord européen)."

4.3.2  Die Voraussetzung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der FK durch den Erstaufnahmestaat, so das SEM weiter, ergebe sich ausserdem auch aus weiteren Überlegungen. So gehe auch das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die landesrechtlichen Bestimmungen zum Zweitasyl im Licht der Europäischen Vereinbarung über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (SR 0.142.305; nachfolgend: Europäische Übergangsvereinbarung) ausgelegt werden müssten. Die Europäische Übergangsvereinbarung sei demnach direkt anwendbar und gehe entsprechend Art. 50 AsylG vor, welcher daher nicht im Widerspruch zur Europäischen Übergangsvereinbarung und völkerrechtskonform auszulegen sei. Gemäss Art. 1 Bst. a Europäische Übergangsvereinbarung bezeichne der Ausdruck "Flüchtling" eine Person, auf welche die FK oder das Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anwendbar seien. Im Umkehrschluss sei kein Flüchtling im Sinne von Art. 1 Bst. a Europäische Übergangsvereinbarung - und könne somit auch kein Zweitasyl gemäss Art. 50 AsylG erhalten - wer von einem Erstaufnahmestaat einen Schutz erhalten habe, der sich nicht auf die FK oder das genannte Protokoll abstütze.

4.3.3  Aus der Beschwerdeschrift gehe sodann hervor, dass die beantragte Gewährung von Zweitasyl für die Beschwerdeführerin lediglich ein Mittel zum Zweck darstelle, gehe es ihr doch in erster Linie um den Erwerb eines Anspruchs auf Ausstellung eines Reisedokuments. Allerdings knüpfe Art. 59 Abs. 2 Bst. a des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG, SR 142.20; nunmehr Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG, SR 142.20]) den gesetzlichen Anspruch auf Ausstellung eines Reisedokuments für Flüchtlinge an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestützt auf die FK. Werde diese Gesetzesbestimmung zusammen mit Art. 3 Bst. a RDV gelesen, so werde klar, dass Art. 59 Abs. 2 Bst. a AuG (nunmehr AIG) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch die schweizerischen Behörden meine. Dies deshalb, weil Art. 3 Bst. b RDV den Anspruch auf ein Reisedokument für jene Flüchtlinge regle, die von einem anderen Staat als der Schweiz anerkannt worden seien. Im letztgenannten Fall aber knüpfe der Verordnungsgeber den Anspruch auf Ausstellung eines Reisedokuments an zwei zusätzliche Bedingungen: Zum einen müsse die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch den anderen Staat nach der FK erfolgt sein, und zum anderen müsse ein Übergang der Verantwortung aufgrund der Europäischen Übergangsvereinbarung auf die Schweiz stattgefunden haben. Diese Bestimmung leite sich aus Art. 28 Ziff. 1 Satz 1 FK ab.

4.4  Mit der Replik entgegnete die Beschwerdeführerin im Wesentlichen, es sei selbstverständlich, dass sie mit ihrem Antrag auf Zweitasyl einen bestimmten Zweck verfolge. Nur die Gewährung von Zweitasyl werde es ihr ermöglichen, die Schweiz temporär für Aufenthalte im Ausland zu verlassen. Dies stelle einen legitimen Grund dar. Die Argumentation des SEM führe im Ergebnis dazu, dass sie Zeit ihres Lebens die Schweiz nicht mehr verlassen könne.

5.   

5.1  Im vorliegenden Fall ist die rechtliche Bedeutung von Art. 50 AsylG streitig, soweit diese Norm als Kriterium für das Zweitasyl statuiert, dass es sich bei der betroffenen Person um einen Flüchtling handelt, der bereits in einem anderen Staat aufgenommen worden ist.

5.2  Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass der Staat, in welchem ein Flüchtling erstmalig aufgenommen worden ist, nach dem Wortlaut von Art. 50 AsylG keine weiteren Voraussetzungen zu erfüllen hat. Auch Art. 36 Abs. 1 AsylV 1, der sich auf die Frage beschränkt, unter welchen Voraussetzungen der Aufenthalt von Flüchtlingen in der Schweiz als ordnungsgemäss zu erachten ist, kann diesbezüglich nichts entnommen werden.

5.3  Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit dem rechtlichen Sinngehalt von Art. 50 AsylG in BVGE 2014/40 ausführlich auseinandergesetzt. Diesem Entscheid ist, soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, im Wesentlichen Folgendes zu entnehmen.

5.3.1  Zwar ist Art. 50 AsylG als "kann"-Bestimmung formuliert, was der anwendenden Behörde einen weiten Ermessensspielraum zugesteht. Jedoch müssen die landesrechtlichen Bestimmungen zum Zweitasyl im Licht der Europäischen Übergangsvereinbarung ausgelegt werden. Diese ist direkt anwendbar und geht entsprechend Art. 50 AsylG vor, welcher mithin nicht im Widerspruch zur Europäischen Übergangsvereinbarung und völkerrechtskonform auszulegen ist. Der Ermessensspielraum ist somit insofern eingeschränkt, als die anwendende Behörde das Zweitasyl nicht verweigern kann, indem sie sich ausschliesslich auf landesrechtliche Bestimmungen stützt. Von den Vorgaben der Europäischen Übergangsvereinbarung darf die Behörde nicht ohne ernsthafte Gründe abweichen, will sie sich nicht dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt sehen. Mithin kann sie das Zweitasyl wie auch die Flüchtlingseigenschaft - nur insofern ablehnen, als sie sich nicht nur auf Art. 50 AsylG stützt, sondern auch auf eine Praxis, welche die Gesamtheit des Flüchtlingsrechts berücksichtigt (BVGE 2014/40 E. 2.3.1 f., unter Hinweis auf Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2002 Nr. 10).

5.3.2  Die Sachüberschrift "Zweitasyl" von Art. 50 AsylG scheint zwar darauf hinzudeuten, dass der Gesetzgeber von der Annahme ausgeht, die betroffene Person habe im Staat der Erstaufnahme, nach Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft durch diesen anderen Staat, bereits ein erstes Asyl erlangt. Angesichts der Formulierung des Gesetzestexts - der sich nicht auf einen Flüchtling bezieht, der durch einen anderen Staat anerkannt, sondern nur auf einen solchen, der durch einen anderen Staat aufgenommen (französisch: "admis") worden ist - ist jedoch davon auszugehen, dass die Gewährung des Zweitasyls weder der Bedingung unterworfen ist, dass die Behörden des Erstaufnahmestaats selbst formell die Flüchtlingseigenschaft der betroffenen Person anerkannt haben, noch voraussetzt, dass sie dieser Person ausdrücklich Asyl (im Sinne des schweizerischen Rechts) gewährt haben (BVGE 2014/40 E. 3.4.4).

5.3.3  Diese Folgerungen finden ihre Entsprechung auch in den Materialien zur Einführung des alten Asylgesetzes vom 5. Oktober 1979 (vgl. Botschaft vom 31. August 1977 zum Asylgesetz und zu einem Bundesbeschluss betreffend den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BBl 1977 III 105, 117 f.) sowie in der diesbezüglichen asylrechtlichen Lehre (vgl. die Nachweise in BVGE 2014/40 E. 3.4.5). Entsprechend gelangte das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass die Beziehungen, die zwischen der betroffenen Person und dem Erstaufnahmestaat insbesondere durch die Dauer des Aufenthalts entstanden sind, jenen entsprechen müssen, die in der Folge mit der Schweiz entwickelt wurden, damit auf dieser Grundlage von einem ausreichenden, mit dem Asyl vergleichbaren Schutz ausgegangen werden kann (ebd.).

5.3.4  Um die Frage nach dem Bestehen eines solchen Schutzes im Staat des Erstasyls zu beantworten, ist somit zunächst zu prüfen, ob die betroffene Person dort als Flüchtling im Sinne von Art. 1 FK oder allenfalls des Protokolls vom 31. Januar 1967 anerkannt worden ist. Dabei vermag keine Rolle zu spielen, ob diese Anerkennung formell durch den Staat der Erstaufnahme selbst oder im Auftrag der Behörden desselben durch das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) erfolgt ist. Es entspricht nicht der Absicht des Gesetzgebers, Flüchtlinge aus Erstaufnahmestaaten, welche die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft dem UNHCR delegiert haben, vom Zweitasyl auszuschliessen (ebd., E. 3.4.6).

5.3.5  Allerdings ist die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Erstaufnahmestaat als solche nicht ausreichend. Vielmehr muss der anerkannte Flüchtling in diesem Staat einen effektiven Schutz erhalten haben, welcher das Refoulement-Verbot beachtet und mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht verbunden ist. Ein entsprechendes Aufenthaltsrecht muss gemäss den Kriterien von Art. 7 AsylG glaubhaft gemacht werden. Vermutungsweise ist ein solcher Schutz anzunehmen, wenn der Erstaufnahmestaat der betroffenen Person einen Reiseausweis im Sinne von Art. 28 FK ausgestellt hat, ist in diesem Falle doch davon auszugehen, dass damit ein ordentlicher Aufenthalt auf dem Gebiet dieses Staats und die Eintragung des Flüchtlings in den entsprechenden behördlichen Registern verbunden ist (ebd., E. 3.4.7).

5.4   

5.4.1  BVGE 2014/40 hält somit für das Zweitasyl zusammenfassend die folgenden Kriterien fest: Dem anerkannten Flüchtling muss im Staat der Erstaufnahme ein effektiver Schutz vor Rückschiebung und zumindest faktisch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht gewährt worden sein. Dabei ist weder von Belang, ob die Anerkennung als Flüchtling formell durch den Staat der Erstaufnahme selbst oder durch das UNHCR erfolgt ist, noch ist von Bedeutung, ob mit der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Erstaufnahmestaat die Gewährung eines mit dem schweizerischen Recht vergleichbaren Asylstatus verbunden gewesen ist.

5.4.2  Demgegenüber ist festzustellen, dass diesem Urteil nicht wie vom SEM im vorliegenden Verfahren angenommen zu entnehmen ist, das Zweitasyl im Sinne von Art. 50 AsylG setze die Anerkennung als Flüchtling in einem Erstaufnahmestaat voraus, der seinerseits Vertragspartei der FK sei.

5.5  Der vorliegende Fall bietet allerdings die Gelegenheit, unter dem Blickwinkel der Frage, welche Voraussetzungen der Erstaufnahmestaat im Einzelnen zu erfüllen hat, in Ergänzung von BVGE 2014/40 erneut auf den Sinn und Zweck von Art. 50 AsylG einzugehen.

5.5.1  Gemäss Art. 50 AsylG wird die betreffende Rechtsfolge (Gewährung des Zweitasyls) unter den erwähnten Voraussetzungen - vom Verhalten eines anderen Staats in einem völkerrechtlich normierten Rechtsbereich abhängig gemacht. Insofern vermag sich die Frage zu stellen, ob das Zweitasyl nach dem Verständnis des Gesetzgebers in einem Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Reziprozitätsprinzip stehen soll, wonach von anderen Staaten in internationalen Rechtsverhältnissen ein gleichartiges oder jedenfalls gleichwertiges Verhalten erwartet wird (vgl. zum Begriff Bruno Simma, Reciprocity, in: Rudolf Bernhardt [ed.], Encyclopedia of Public International Law, Vol. IV, Amsterdam etc. 2000, S. 29 ff.). Von einer derartigen Reziprozitätserwartung des Gesetzgebers kann im Zusammenhang mit Art. 50 AsylG jedoch nicht ausgegangen werden. Wie bereits erwähnt wurde, macht Art. 50 AsylG die Gewährung des Zweitasyls nicht davon abhängig, ob der betroffenen Person im Erstaufnahmestaat ein mit dem schweizerischen Recht vergleichbarer Asylstatus zuteil geworden ist. Im Übrigen ist auch kein Anlass für die Annahme ersichtlich, Art. 50 AsylG würde bezwecken, eine Aussage zur gegenseitigen Geltung von völkerrechtlichen Verpflichtungen in diesem Falle im Bereich des internationalen Flüchtlingsrechts im Verhältnis zwischen der Schweiz und anderen Staaten zu treffen.

5.5.2  Zielsetzung von Art. 50 AsylG ist es vielmehr, den individuellen rechtlichen Status von Flüchtlingen zu regeln, die aus einem Erstaufnahmestaat in die Schweiz gelangt sind (und hier die weitere Voraussetzung eines ordnungsgemässen und ununterbrochenen Aufenthalts einer gewissen Mindestdauer erfüllen). Dabei geht aus den Materialien zum alten Asylgesetz vom 5. Oktober 1979 hervor, dass mit der Einführung der Norm zum Zweitasyl in erster Linie die Absicht verbunden war, die rechtliche Lage von Flüchtlingen - welche die entsprechenden Kriterien erfüllen zu verbessern. So ist in der betreffenden Botschaft (BBl 1977 III 105, 117 f.) davon die Rede, dass bei anerkannten Flüchtlingen der Wunsch nach einer späteren Wohnsitzverlegung in ein Zweitasylland in stärkerem Ausmass als bei gewöhnlichen Ausländern begründet sein könne. Weiter wurde das Institut des Zweitasyls unter anderem damit begründet, dieses stelle auch einen Beitrag zur Lösung von Flüchtlingsproblemen auf internationaler Ebene dar, indem übermässig beanspruchten Erstasylländern ein Teil ihrer Last abgenommen werden könne. Andererseits ist der Botschaft nicht zu entnehmen, dass der Flüchtlingsbegriff im Hinblick auf das Zweitasyl in restriktiver Weise verstanden worden wäre.

5.5.3  In der Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes vom 4. Dezember 1995 (BBl 1996 II 1, 68) wurde zwar ausgeführt, der Zweck von Art. 50 AsylG sei es, Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, ihren Wohnsitz in ein anderes Land, das die FK unterzeichnet habe, zu verlegen und von diesem Zweitasylland ebenfalls Asyl zu erhalten. Entsprechend vermag sich auf den ersten Blick die Frage zu stellen, ob die Gewährung des Zweitasyls - über die von Art. 50 AsylG ausdrücklich genannte Aufnahme als Flüchtling in einem anderen Staat hinaus - implizit an zwei weitere Bedingungen geknüpft werden soll: Ob dieses andere Land "die FK unterzeichnet hat" und ob der Flüchtling in diesem Land "ebenfalls Asyl (...) erhalten" hat. Jedoch sind dem Botschaftstext keinerlei sonstige Hinweise darauf zu entnehmen, der Flüchtlingsbegriff, der im Sinne von Art. 50 AsylG die Voraussetzung für das Zweitasyl bildet, solle in einschränkender Weise geregelt werden. Vielmehr ist auch an dieser Stelle wieder daran zu erinnern, dass - wie in BVGE 2014/40 ausgeführt (dortige E. 3.4.4; vgl. auch zuvor, E. 5.3.2) ein formeller, mit dem schweizerischen Recht vergleichbarer Asylstatus im Erstaufnahmestaat durch Art. 50 AsylG nicht verlangt wird. Mithin gibt der Wortlaut der Botschaft den Sinn und Zweck von Art. 50 AsylG nicht mit ausreichender Präzision wieder. Es besteht kein wesentlicher Grund, diesbezüglich eine abweichende Einschätzung zur Frage zu treffen, ob der Erstaufnahmestaat im Sinne von Art. 50 AsylG nur ein Staat sein könne, der Vertragspartei der FK sei. Insbesondere ist auch in keiner Weise ersichtlich, der Gesetzgeber habe mit der Totalrevision des Asylgesetzes - welche den Wortlaut der Norm zum Zweitasyl praktisch unverändert vom alten Asylgesetz übernommen hat - seine ursprüngliche gesetzgeberische Absicht ändern wollen, mit der Möglichkeit des Zweitasyls die rechtliche Lage von Flüchtlingen zu verbessern. Der Vollständigkeit halber ist übrigens festzuhalten, dass der Text der Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes auch in völkerrechtlicher Hinsicht unpräzise ist, ergibt sich die vertragliche Bindungswirkung im Falle der FK doch nicht aus der Unterzeichnung, sondern erst aus der Ratifikation des Abkommens beziehungsweise einer nachträglichen Beitrittserklärung (vgl. Art. 39 Ziff. 2 und 3, Art. 43 Ziff. 2 FK; allgemein zum Abschlussverfahren völkerrechtlicher Verträge bspw. Wolff Heintschel von Heinegg, Die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts, in: Knut Ipsen [Hrsg.], Völkerrecht, 6. Aufl., München 2014, S. 387 [398 ff.]).

5.5.4  Nachdem somit den Materialien nichts zu entnehmen ist, was in eindeutiger Weise auf einen entsprechenden gesetzgeberischen Willen schliessen liesse, stellt sich die Frage, ob sonstige Gründe bestehen, Art. 50 AsylG in der vom SEM behaupteten Weise auszulegen.

5.5.5  Das Staatssekretariat hat zur Begründung seines Verständnisses der Voraussetzungen des Zweitasyls unter anderem vorgebracht, gemäss der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei Art. 50 AsylG im Licht der Europäischen Übergangsvereinbarung auszulegen, deren Art. 1 Bst. a als "Flüchtling" eine Person bezeichne, auf welche die FK oder das Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anwendbar seien. Daraus sei der Schluss zu ziehen, dass eine Person, die von einem Erstaufnahmestaat einen Schutz erhalten habe, der sich nicht auf die FK oder das genannte Protokoll stütze, kein Flüchtling im Sinne von Art. 1 Bst. a Europäische Übergangsvereinbarung sei und somit auch kein Zweitasyl gemäss Art. 50 AsylG erhalten könne. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass es sich weder im vorliegenden Fall (Indien) noch in BVGE 2014/40 (Ägypten; vgl. dortige E. 3.1) beim jeweiligen Staat der Erstaufnahme um eine Vertragspartei der Europäischen Übergangsvereinbarung handelt. Entsprechend sind die Bestimmungen der genannten Konvention hier auch nicht unmittelbar anwendbar. Jedoch ist die Europäische Übergangsvereinbarung, wie BVGE 2014/40 zeigt, zum Zweck der Auslegung von Art. 50 AsylG beizuziehen. Mit Blick auf den erwähnten Standpunkt des SEM ist allerdings festzuhalten, dass dieser einem falschen Verständnis des Passus von BVGE 2014/40 entspringt, wonach Art. 50 AsylG nicht im Widerspruch zur Europäischen Übergangsvereinbarung ausgelegt werden dürfe. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Europäischen Übergangsvereinbarung um ein Abkommen unter den Mitgliedstaaten des Europarates handelt, die sämtlich auch Vertragsparteien der FK sind. Da sich die Europäische Übergangsvereinbarung somit ausschliesslich auf Vertragsstaaten bezieht, welche an die Bestimmungen der FK gebunden sind, erscheint es als rechtstechnisch folgerichtig, dass die Vereinbarung hinsichtlich des Flüchtlingsbegriffs auf die FK verweist. Umgekehrt ist jedoch in keiner Weise ersichtlich, weshalb der Europäischen Übergangsvereinbarung in Bezug auf den Flüchtlingsbegriff ein Ausschlusskriterium im vom SEM behaupteten Sinn entnommen werden sollte. Vielmehr ist hervorzuheben, dass die Völkerrechtskonformität der Auslegung, wie sie gemäss BVGE 2014/40 (dortige E. 2.3.1 f.) in Bezug auf Art. 50 AsylG verlangt wird, nicht nur die Europäische Übergangsvereinbarung meint, sondern ausdrücklich die Gesamtheit des Flüchtlingsrechts.

5.5.6  Zu dieser Gesamtheit der Völkerrechtsordnung im Bereich des Flüchtlingsrechts trägt keineswegs nur die diesbezügliche Praxis der Vertragsparteien der FK bei. So gehört das Refoulement-Verbot über dessen Normierung in Art. 33 FK hinaus als grundlegendes Prinzip des Menschenrechtsschutzes zum Völkergewohnheitsrecht mit zwingendem Charakter (sogenanntes ius cogens; dies entspricht ausdrücklich auch der Position der Schweiz, vgl. Botschaft vom 22. Juni 1994 über die Volksinitiativen "für eine vernünftige Asylpolitik" und "gegen die illegale Einwanderung", BBl 1994 III 1486, 1498 f.; vgl. dazu allgemein auch Samantha Besson/Stephan Breitenmoser/Marco Sassòli/Andreas R. Ziegler, Völkerrecht. Droit international public, Zürich 2013, S. 32; Daniel Wüger, Anwendbarkeit und Justiziabilität völkerrechtlicher Normen im schweizerischen Recht: Grundlagen, Methoden und Kriterien, Bern 2005, S. 91; Andreas R. Ziegler, Introduction au droit international public, Bern 2015, S. 227). Auch jene Staaten, die nicht Vertragspartei der FK sind, so unter anderen die Vereinigten Staaten von Amerika oder Indien, sind somit zur Einhaltung des Refoulement-Verbots verpflichtet. Gerade am Beispiel dieser beiden genannten Staaten zeigt sich, dass auch Nicht-Vertragsparteien der FK nicht nur das Refoulement-Verbot, sondern auch weitere, im Rahmen der FK staatsvertraglich normierte Regeln des Flüchtlingsrechts in ihrer nationalen Rechtspraxis zu beachten gewillt sind. Insbesondere ist in Bezug auf Indien festzuhalten, dass dieser Staat gemäss Beurteilung des UNHCR im Allgemeinen das Refoulement-Verbot respektiert und einer grossen Zahl von Flüchtlingen aus Nachbarstaaten und weiteren Ländern wie Afghanistan oder Myanmar Asyl gewährt. Auch anerkennt Indien trotz seiner Nichtbeteiligung an der FK das Mandat des UNHCR und ermöglicht es diesem, auf seinem Staatsgebiet die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf asylsuchende Personen aus den genannten Ländern durchzuführen (vgl. UNHCR, Global Appeal 2011 Update, Genf 2011, S. 202). Zwar behandelt Indien nicht alle Staatsangehörigen der verschiedenen Herkunftsländer gleich, womit es in gewissem Ausmass selektiv vorgeht. Gleichwohl gewährt Indien insgesamt einer grossen Zahl von Flüchtlingen einen Schutz, der de facto den Zielsetzungen der FK gerecht wird. Insbesondere gegenüber Flüchtlingen aus Tibet ist die indische Praxis, wie die Vorinstanz in einem internen (jedoch öffentlich zugänglichen) Bericht selbst festgehalten hat, sehr grosszügig, wobei das Risiko eines völkerrechtswidrigen Refoulements nach China praktisch ausgeschlossen ist (SEM, Focus: The Tibetan Community in India, 30. Juni 2013, S. 15, 18).

5.5.7  Mit Blick auf die flüchtlingsrechtliche Praxis Indiens ist im vorliegenden Fall ausserdem festzustellen, dass dieser Staat - was auch durch das SEM nicht bestritten wird die Beschwerdeführerin als Flüchtling anerkannt, ihr auf dieser Grundlage ein permanentes Aufenthaltsrecht auf indischem Hoheitsgebiet gewährt sowie ihr einen entsprechenden Reiseausweis ausgestellt hat. Mithin hat Indien gegenüber der Beschwerdeführerin über die soeben erwähnten, vom UNHCR angeführten Aspekte hinaus auch dem von Art. 28 FK statuierten Anliegen entsprochen, wonach die Vertragsstaaten den Flüchtlingen, die sich rechtmässig auf ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise ausstellen, die ihnen Reisen ausserhalb dieses Gebietes gestatten.

5.5.8  Gemäss BVGE 2014/40 ist danach zu fragen, ob die betroffene Person im Erstaufnahmestaat als Flüchtling im Sinne von Art. 1 FK oder allenfalls des Protokolls vom 31. Januar 1967 anerkannt worden ist. Wie bereits ausgeführt worden ist, ergibt sich daraus jedoch nicht, dass Art. 50 AsylG die Anerkennung als Flüchtling in einem Erstaufnahmestaat voraussetzt, der seinerseits Vertragspartei der FK ist. Nach dem soeben zur völkerrechtlichen Praxis Gesagten ist vielmehr festzuhalten, dass sich selbstverständlich auch ein Staat, der nicht vertraglich an die FK gebunden ist, in einer Art und Weise verhalten kann, die als vertragsgemäss aufzufassen ist. Mit anderen Worten kann auch ein Staat, der nicht Vertragspartei der FK ist, dem Sinn dieses Abkommens gerecht werden, indem er Personen als Flüchtlinge anerkennt, welche die entsprechenden, von Art. 1 FK statuierten Voraussetzungen erfüllen. Es ist schlicht nicht ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber unter dem Blickwinkel von Art. 50 AsylG eine Unterscheidung hätte treffen wollen zwischen Erstaufnahmestaaten, die als Vertragsparteien der FK agieren, und solchen, welche die wesentlichen Regeln des von der FK garantierten völkerrechtlichen Flüchtlingsschutzes als Nicht-Vertragsparteien des besagten Abkommens respektieren. Der umgekehrte Standpunkt wäre auch nicht mit der gesetzgeberischen Absicht vereinbar, die rechtliche Lage von Flüchtlingen zu verbessern, wie sie gemäss den Materialien zum alten Asylgesetz vom 5. Oktober 1979 mit der Einführung des Zweitasyls verbunden war. Ebensowenig entspräche dies im Übrigen dem Leitgedanken der Europäischen Übergangsvereinbarung gemäss deren Präambel, wonach die Lage der Flüchtlinge verbessert werden soll, indem die Anwendung von Art. 28 FK erleichtert und die entsprechenden Bedingungen in einem liberalen und humanitären Geist geregelt werden sollen.

5.5.9  Das SEM bringt des Weiteren das Argument vor, die beantragte Gewährung von Zweitasyl bilde für die Beschwerdeführerin lediglich ein Mittel zum Zweck, indem es ihr in erster Linie um den Erwerb eines Anspruchs auf Ausstellung eines Reisedokuments gehe. Dazu ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin einen solchen Zweck selbstverständlich verfolgen darf. Nicht nur ist dieser in keiner Weise rechtsmissbräuchlich, sondern entspricht geradezu - was die Vorinstanz offensichtlich verkennt - der vom Gesetzgeber mit der Normierung des Zweitasyls durch Art. 50 AsylG verfolgten Zielsetzung, die rechtliche Lage von Flüchtlingen im Falle der Wohnsitzverlegung in ein Zweitasylland zu verbessern (vgl. BBl 1977 III 105, 117 f.). Im Übrigen ist erneut darauf hinzuweisen, dass es auch gerade Sinn und Zweck der Europäischen Übergangsvereinbarung ist, die Lage von anerkannten Flüchtlingen, die ihren Wohnsitz ordnungsgemäss in das Staatsgebiet einer anderen Vertragspartei verlegen, dadurch zu verbessern, dass die Ausstellung von Reiseausweisen im Sinne von Art. 28 FK erleichtert wird.

5.5.10  Ferner erweist sich für die Auslegung von Art. 50 AsylG auch das weitere vom SEM angeführte Argument nicht als tauglich, aus Art. 59 Abs. 2 Bst. a AIG in Verbindung mit Art. 3 Bst. a RDV gehe hervor, dass der Anspruch auf Ausstellung eines Reisedokuments voraussetze, dass erstens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Staat nach der FK erfolgt sei und zweitens ein Übergang der Verantwortung aufgrund der Europäischen Übergangsvereinbarung auf die Schweiz stattgefunden habe. Zunächst ist dazu festzuhalten, dass auch für das Verständnis von Art. 59 Abs. 2 Bst. a AIG - wonach Anspruch auf Reisedokumente Ausländerinnen und Ausländer haben, die gemäss der FK die Flüchtlingseigenschaft erfüllen die zuvor angestellten Überlegungen zu den Voraussetzungen des Zweitasyls gelten. Mit anderen Worten kann auch aus Art. 59 Abs. 2 Bst. a AIG keineswegs der Schluss gezogen werden, die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Erstaufnahmestaat führe nur dann zu einem Anspruch nach schweizerischem Recht auf Zweitasyl und/oder Reisedokumente, wenn es sich bei jenem Staat um eine Vertragspartei der FK handle.

6.   

6.1  Zusammenfassend hat sich erwiesen, dass Art. 50 AsylG nicht verlangt, dass der Erstaufnahmestaat, welcher die betroffene Person als Flüchtling anerkannt hat, Vertragspartei der FK sein muss. Vielmehr ist als ausreichend zu erachten, dass dem anerkannten Flüchtling im Staat der Erstaufnahme ein effektiver Schutz vor Rückschiebung und zumindest faktisch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht gewährt worden ist.

6.2  Wie sich des Weiteren gezeigt hat, erfüllt die Beschwerdeführerin diese Voraussetzungen. Sie wurde durch Indien als Flüchtling anerkannt, und dieser Staat hat ihr auf dieser Grundlage ein permanentes Aufenthaltsrecht gewährt und ihr einen entsprechenden Reiseausweis ausgestellt.

6.3  Schliesslich ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin sich seit dem 24. März 2011 mit einem ordnungsgemässen Aufenthaltstitel in der Schweiz aufhält und auch keine Hinweise darauf bestehen, dieser Aufenthalt bestehe nicht ununterbrochen im Sinne von Art. 36 Abs. 2 AsylV 1.

7. 
Aus den angestellten Erwägungen ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für das Zweitasyl gemäss Art. 50 AsylG erfüllt. Folglich ist die Beschwerde gutzuheissen, die angefochtene Verfügung ist aufzuheben, und das SEM ist anzuweisen, der Beschwerdeführerin in der Schweiz das Zweitasyl zu gewähren.

8.   

8.1  Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 3 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG).

8.2  Gemäss Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG kann die Beschwerdeinstanz der ganz oder teilweise obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für die ihr erwachsenen notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten zusprechen (vgl. für die Grund-sätze der Bemessung der Parteientschädigung ausserdem Art. 7 ff. des Reglements über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 21. Februar 2008 [VGKE, SR 173.320.2]). Die Beschwerdeführerin hat keine Kostennote eingereicht. Auf die Nachforderung einer solchen wird indessen verzichtet (vgl. Art. 14 Abs. 2 VGKE), weil im vorliegenden Verfahren der Aufwand für die Beschwerdeführung zuverlässig abgeschätzt werden kann. Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9 13 VGKE) ist die Parteientschädigung aufgrund der Akten daher auf Fr. 800.- (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen. Dieser Betrag ist der Beschwerdeführerin durch das SEM zu entrichten.

 

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und die Verfügung des SEM vom 18. Januar 2017 wird aufgehoben.

2. 
Das SEM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin das Zweitasyl zu gewähren.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4. 
Der Beschwerdeführerin wird eine Parteientschädigung von Fr. 800. zugesprochen, die ihr durch das SEM zu entrichten ist.

5. 
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

 

Die vorsitzende Richterin:

Der Gerichtsschreiber:

 

 

Mia Fuchs

Martin Scheyli

 

 

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