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Abteilung IV

D-4386/2022, D-4390/2022

 

 

 

 

 

Urteil vom 22. November 2023

Besetzung

 

Richterin Contessina Theis (Vorsitz),

Richter Walter Lang, Richter Manuel Borla,  

Gerichtsschreiberin Aglaja Schinzel.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

B._______, geboren am (...),

Afghanistan, 

beide vertreten durch MLaw Shirin Fallahpour,

HEKS Rechtsberatungsstelle für Asylrecht Ostschweiz,

(...),

Beschwerdeführerinnen,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

 

 

 

Gegenstand

 

Asyl (ohne Wegweisungsvollzug);

Verfügung des SEM vom 1. September 2022.

 

 


Sachverhalt:

A. 
Die Beschwerdeführerinnen, zwei aus Ghazni stammende Schwestern afghanischer Staatsangehörigkeit und der Ethnie der Hazara zugehörig, reisten am 14. März 2022 in die Schweiz ein, wo sie gleichentags um Asyl ersuchten. In der Folge wurden sie dem Bundesasylzentrum (BAZ) der Region (...) zugewiesen. Am 12. April 2022 wurden ihre Personendaten aufgenommen (PA).

Der Vater der Beschwerdeführerinnen (N [...]) wurde am 4. Februar 2022 in der Schweiz als Flüchtling anerkannt und hat Asyl erhalten.

B. 
Die Beschwerdeführerinnen reisten zusammen mit ihrer Familie (Mutter und jüngere Geschwister) in die Schweiz ein. Allen anderen Familienangehörigen wurde von der Vorinstanz am 28. März 2022 Familienasyl (Art. 51 Abs. 1 AsylG) gewährt.

C. 
Am 14. April 2022 ersuchten die Beschwerdeführerinnen um Gewährung der Privatunterkunft; sie wünschten, bei ihren Eltern wohnen zu dürfen. Dies, da sie mit der Familie (Mutter und Geschwister) in die Schweiz eingereist und bisher nie getrennt gewesen seien. Da sie psychisch angeschlagen seien, würden sie die Nähe ihrer Familie benötigen. Diese Gesuche wurden vom SEM am 21. April 2022 bewilligt.

D. 
Am 29. April 2022 wurden sie vertieft zu ihren Asylgründen angehört. Dabei machten sie zur Begründung ihrer Asylgesuche im Wesentlichen geltend, sie hätten seit kurz nach ihrer Geburt in Kabul gelebt. Nach der Ausreise ihres Vaters 2018 hätten sie sich jeweils im Frühling und im Sommer in Ghazni aufgehalten, im Winter seien sie nach Kabul zurückgekehrt. A._______ (nachfolgend: Beschwerdeführerin 1) habe im Jahr 2017 die 12. Klasse abgeschlossen und ihren Schulabschluss erlangt. Sie habe im Jahr 2017 beim Schulradio gearbeitet. Ab 2018 sei sie nach Kasachstan gegangen, um zu studieren. Nach neun Monaten sei sie nach Afghanistan zurückgekehrt. 2019 sei sie erneut für neun Monate nach Kasachstan gegangen und im Herbst nach Afghanistan zurückgekehrt. Wegen der Corona-Pandemie habe sie in der Folge Online-Unterricht gehabt und sei bis zur Ausreise in Afghanistan geblieben. B._______ (nachfolgend: Beschwerdeführerin 2) habe im Jahr 2019 die 12. Klasse abgeschlossen und ihren Schulabschluss erlangt. Sie habe vom 1. Februar 2016 bis zum 30. August 2017 für das Schulradio gearbeitet. Im September 2018 sei sie für drei Wochen wegen eines Projekts nach Indien gegangen und danach wieder nach Afghanistan zurückgekehrt.

Sie hätten sich wegen der allgemeinen, schlechten Sicherheitslage in Afghanistan nicht mehr sicher gefühlt. Die Taliban würden Hazaras töten und seien gegen Frauen. Der Hauptgrund für ihre Ausreise sei ihr Vater. Dieser sei (...)-Reporter gewesen und im Jahr 2017 zweimal von den Taliban entführt worden, wobei es ihm beide Male gelungen sei, selbst freizukommen. Die Taliban hätten ihm aber gesagt, sie würden alle seine Verwandten kennen. Im Jahr 2018 sei es ihm unter dem Vorwand, an einer Konferenz teilnehmen zu wollen, gelungen, aus Afghanistan auszureisen. Danach habe die Familie kein normales Leben mehr führen können. Sie hätten ihren Aufenthaltsort ständig wechseln müssen, um nicht gefunden zu werden. Ein Onkel väterlicherseits, der auch bei den Medien gearbeitet habe, sei nach der Ausreise ihres Vaters ebenfalls entführt worden beziehungsweise habe man versucht, ihn zu entführen, und er sei dabei verletzt worden. Die Taliban hätten von ihm Informationen über ihren Vater erhalten wollen. Der Onkel sei jetzt in Deutschland. Die Beschwerdeführerin 1 sei neben der Gefährdung aufgrund ihres Vaters auch wegen ihrer Tätigkeit beim Schulradio gefährdet. Als die Taliban gekommen seien, hätten sie Angst gehabt. Sie hätten alle Sachen des Vaters wegwerfen oder verstecken müssen. Ferner hätten sie mitbekommen, dass Familien von Reportern getötet worden seien. Ihr Vater habe deshalb entschieden, dass sie ausreisen sollten. Ein weiteres Problem für die Beschwerdeführerinnen sei, dass Frauen unter der Regierung der Taliban die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen und ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen dürften. Schliesslich seien sie auch als Hazaras in Gefahr, die Taliban würden Anschläge auf Hazaras verüben. Sie selber hätten nie direkt mit den Taliban zu tun gehabt. Nach der Machtübernahme im August 2021 hätten sie aber bestimmt Probleme mit diesen zu befürchten gehabt, wären sie in Afghanistan geblieben.

Sie seien mit ukrainischen Freunden ihres Vaters am 26. August 2021 aus Afghanistan ausgereist und mit einem Militärflugzeug nach Pakistan geflogen. Von dort seien sie per Flugzeug über Georgien in die Ukraine gereist. Am 3. März 2022 seien sie im Rahmen eines Familiennachzugs in die Schweiz gekommen.

Die Beschwerdeführerin 2 machte zudem geltend, nicht schlafen zu können und Albträume zu haben. Ansonsten sei sie gesund. Auch die Beschwerdeführerin 1 gab an, es gehe ihr psychisch nicht gut, sie sei aber nicht in ärztlicher Behandlung.

Seit sie aus Afghanistan ausgereist und in der Ukraine angekommen seien, würden die Beschwerdeführerinnen kein Kopftuch oder Hijab mehr tragen.

E. 
Am 6. Mai 2022 wurden die Beschwerdeführerinnen dem erweiterten Verfahren zugeteilt.

F. 
Mit separaten Verfügungen vom 1. September 2022 (eröffnet am 2. September 2022) stellte das SEM fest, die Beschwerdeführerinnen würden die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, lehnte ihre Asylgesuche ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz. Der Vollzug wurde aufgrund Unzumutbarkeit zugunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben.

G. 
Am 30. September 2022 erhoben die Beschwerdeführerinnen gegen diese Entscheide Beschwerden beim Bundesverwaltungsgericht und beantragten, die Ziffern 1 - 3 der vorinstanzlichen Verfügung seien aufzuheben, ihnen sei die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und Asyl zu gewähren, ihre Beschwerdeverfahren seien zu vereinen und ihnen sei die unentgeltliche Prozessführung inklusive Verzicht auf Erhebung eines Kostenvorschusses zu gewähren sowie ein amtlicher Rechtsbeistand einzusetzen.

H. 
Die vorinstanzlichen Akten lagen dem Bundesverwaltungsgericht am 3. Oktober 2022 in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 2 AsylG).

I. 
Am 5. Oktober 2022 reichten die Beschwerdeführerinnen jeweils ihre Fürsorgebestätigung nach.

J. 
Mit Zwischenverfügung vom 12. Oktober 2022 stellte die Instruktionsrichterin den legalen Aufenthalt der Beschwerdeführerinnen fest, hiess die Gesuche um Gewährung der unentgeltliche Prozessführung gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Der Entscheid betreffend amtliche Verbeiständung wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und die Beschwerdeführerinnen wurden aufgefordert, eine Person zu benennen, welche als amtliche Vertretung beigeordnet werden kann. Ferner wurden die Verfahren antragsgemäss vereinigt.

K. 
Mit Eingabe vom 25. Oktober 2022 zeigte die Rechtsvertreterin MLaw Shirin Fallahpour, Rechtsberatungsstelle für Asylrecht Ostschweiz, unter Einreichung zweier Vollmachten ihr Mandat an und ersuchte um Beiordnung als amtliche Rechtsbeiständin.

L. 
Mit Zwischenverfügung vom 2. November 2022 wurde das Gesuch um amtliche Rechtsverbeiständung gutgeheissen und MLaw Shirin Fallahpour als amtliche Rechtsbeiständin eingesetzt.

M. 
Mit Vernehmlassung vom 15. November 2022 hielt die Vorinstanz vollumfänglich an ihren Erwägungen fest. Die Vernehmlassung wurde den Beschwerdeführerinnen am 16. November 2022 zur Kenntnisnahme zugestellt.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Eine solche Ausnahme im Sinne von Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG liegt nicht vor, weshalb das Bundesverwaltungsgericht endgültig entscheidet.

1.2  Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.3  Die Beschwerden sind frist- und formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführerinnen haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung; sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2. 
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.   

3.1  Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken; (...) (Art. 3 Abs. 2 AsylG).

Die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG erfüllt eine asylsuchende Person nach Lehre und Rechtsprechung dann, wenn sie Nachteile von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft befürchten muss, welche ihr gezielt und aufgrund bestimmter Verfolgungsmotive durch Organe des Heimatstaates oder durch nichtstaatliche Akteure zugefügt worden sind beziehungsweise zugefügt zu werden drohen (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37). Die Furcht vor künftiger Verfolgung umfasst allgemein ein auf tatsächlichen Gegebenheiten beruhendes objektives Element einerseits sowie die persönliche Furchtempfindung der betroffenen Person als subjektives Element andererseits. Begründete Furcht im Sinne von Art. 3 AsylG hat demnach, wer gute - das heisst von Dritten nachvollziehbare - Gründe (objektives Element) für seine Furcht (subjektives Element) vorweist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft das Opfer von Verfolgung zu werden; eine bloss entfernte Möglichkeit reicht nicht (vgl. BVGE 2013/11 E. 5.1; 2011/50 E. 3.1.1; 2011/51 E. 6; 2008/4 E. 5.2, je m.w.H.). Es müssen somit hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Verfolgung und damit den Entschluss zur Flucht hervorrufen würden. Dabei hat die Beurteilung einerseits aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu erfolgen und ist andererseits durch das von der betroffenen Person bereits Erlebte und das Wissen um Konsequenzen in vergleichbaren Fällen zu ergänzen. Wer bereits staatlichen Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt war, hat objektive Gründe für eine stärker ausgeprägte (subjektive) Furcht (vgl. BVGE 2010/57 E. 2.5).

Eingriffe in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die für sich allein betrachtet keine ernsthaften Nachteile darstellen, weil sie zu wenig intensiv sind, können in ihrer Gesamtheit asylrechtlich dennoch erheblich sein. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund ihrer Art, Dauer oder Wiederholung für die betroffene Person ein unerträglicher psychischer Druck entsteht, der ihr einen weiteren Verbleib im Heimatstaat unter menschenwürdigen Umständen objektiv betrachtet verunmöglicht. Ausschlaggebend ist dabei nicht allein, wie die betroffene Person die Situation subjektiv erlebt, sondern ob aufgrund der tatsächlichen Situation auch für Aussenstehende nachvollziehbar ist, dass der psychische Druck unerträglich geworden ist. (vgl. BVGE 2014/29 E. 4.3 f., Urteile des BVGer E-3522/2020 vom 12. August 2020 E. 6.5 und E-4140/2014 vom 13. Oktober 2014 E. 5.2; Constantin Hruschka in: Spescha et al. [Hrsg.], Kommentar zum Migrationsrecht, 5. Aufl. 2019, Art. 3 AsylG N. 9, Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH [Hrsg.], Handbuch zum Asyl- und Wegweisungsverfahren, 3. Aufl. 2021, S. 190 f.). 

Ausgangspunkt für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Frage nach der im Zeitpunkt der Ausreise vorhandenen Verfolgung oder begründeten Furcht vor einer solchen. Die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheids ist jedoch im Rahmen der Prüfung nach der Aktualität der Verfolgungsfurcht ebenfalls wesentlich. Veränderungen der objektiven Situation im Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind deshalb zugunsten und zulasten der das Asylgesuch stellenden Person zu berücksichtigen (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.4, Walter Stöckli, § 14 Flüchtlinge und Schutzbedürftige, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 3. Aufl. 2022, Rz. 14.38 und 14.39). Aufgrund der Subsidiarität des flüchtlingsrechtlichen Schutzes setzt die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausserdem voraus, dass die betroffene Person in ihrem Heimatland keinen ausreichenden Schutz finden kann (vgl. BVGE 2011/51 E. 7, 2008/12 E. 7.2.6.2, 2008/4 E. 5.2).

3.2  Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).

4.   

4.1  Die Vorinstanz begründete ihre Verfügungen im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerinnen hätten hauptsächlich geltend gemacht, wegen der Probleme ihres Vaters und wegen der Machtübernahme der Taliban ausgereist zu sein. Ihnen selber sei aber nie etwas zugestossen und sie seien nie persönlich durch die Taliban verfolgt worden. Bevor die Taliban das ganze Land eingenommen hätten, hätten sie ein mehr oder weniger geregeltes Leben führen können. Vor ihrer Ausreise habe keine zielgerichtete Verfolgung bestanden und ein zeitlich-kausaler Zusammenhang zwischen den ihren Vater betreffenden Ereignissen und ihrer Ausreise sei nicht ersichtlich. Somit gebe es keine Anzeichen für eine begründete Furcht vor einer (Reflex-)Verfolgung in der Zukunft. Ihre Vorbringen seien folglich gemäss Art. 3 AsylG nicht flüchtlingsrechtlich relevant.

Ferner mache die Beschwerdeführerin 1 geltend, aufgrund der Arbeit beim Schulradio könnten sie in Afghanistan Probleme bekommen. Diese Tätigkeit liege bereits lange zurück und sei nur während kurzer Zeit ausgeführt worden. Es sei deshalb nicht davon auszugehen, dass die Taliban ein erhöhtes Interesse an ihnen hätten. So hätten sie auch nicht geltend gemacht, in der Vergangenheit in diesem Zusammenhang Probleme gehabt zu haben. Sodann sei diese Tätigkeit nicht ausschlaggebend gewesen für ihre Ausreise.

Zum Vorbringen, die Taliban würden Frauen nur eine Schulbildung bis zur sechsten Klasse erlauben und sie seien als Hazara zusätzlich gefährdet, führte das SEM aus, dabei handle es sich um Probleme, die mit der allgemeinen Lage nach der Machtübernahme der Taliban einhergehen würden. Die Vorinstanz gehe nicht von einer Kollektivverfolgung der Hazara durch die Taliban aus. Auch diese Vorbringen seien demgemäss nicht geeignet, eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu begründen.

4.2  Dem wurde in den Beschwerden entgegnet, die Beschwerdeführerinnen hätten vor der Machtübernahme der Taliban keineswegs ein normales Leben führen können. Nach der Flucht des Vaters habe sich die Familie versteckt halten müssen, sie hätten das Haus kaum noch verlassen. Zu ihrer Sicherheit hätten sie ihren Aufenthaltsort immer wieder zwischen den Häusern in Kabul und Ghazni gewechselt. Auch hätte die Familie selbstverständlich bereits zum Zeitpunkt der Flucht des Vaters ausreisen wollen, die Organisation der Reise habe sich jedoch nicht so einfach gestaltet. So hätten sie bereits im Jahr 2019 versucht, Visa für den Iran oder für Pakistan zu erhalten. Dafür habe ihnen aber das Geld gefehlt. Mit dem Beginn der Coronapandemie sei alles noch schwieriger geworden, da alle Ämter geschlossen gewesen seien und es keine Flüge mehr gegeben habe. Eine Flucht auf dem Landweg wäre für die sechsköpfige Familie zu gefährlich gewesen. Sie seien in ihrem Land eingeschlossen gewesen, was für sie sehr belastend gewesen sei. Als die für Passangelegenheiten zuständigen Ämter Mitte 2021 wieder geöffnet hätten, hätten sie sofort ihre Pässe verlängert und pakistanische Visa beantragt, diese seien jedoch nicht bewilligt worden. Schliesslich habe ihr Vater von der Schweiz aus über geschäftlich Bekannte die Ausreise organisieren können. Betreffend die Aussage der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin 1 hätte in Kasachstan bleiben können, wurde angeführt, dies sei nicht der Fall, nach Ausbruch der Coronapandemie habe die Universität geschlossen und sie habe kein gültiges Visum mehr gehabt. Auch die Beschwerdeführerin 2 hätte nach ihrem dreiwöchigen Aufenthalt in Indien im Jahr 2018 nicht einfach dortbleiben können, da das Visum und der gesamte Aufenthalt im Rahmen des Programms für Empowerment und Leadership, aufgrund wessen der Aufenthalt stattgefunden habe, organisiert worden sei. Sie hätte sich nicht einfach abschotten und in Indien bleiben können.

5.   

5.1  Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in der Vergangenheit in verschiedenen Urteilen zur allgemeinen Lage in Afghanistan geäussert (vgl. die Referenzurteile D-4705/2016 vom 14. Juni 2021; D-4287/2017 vom 8. Februar 2019; D-5800/2016 vom 13. Oktober 2017). Dabei bezog sich die Analyse auf die jeweilige Sicherheitslage in einzelnen Städten und betraf damit ausschliesslich die Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs. Die Beschwerdeführerinnen wurden von der Vorinstanz vorläufig aufgenommen, weshalb das Vorliegen von Vollzugshindernissen vorliegend nicht von Interesse ist. Ferner hat sich das Gericht vor einigen Jahren - vor der Machtübernahme durch die Taliban - in einem Referenzurteil zur allgemeinen Lage der Frauen in Afghanistan geäussert. Dabei wurde festgehalten, dass nicht davon ausgegangen werden könne, Frauen würden bei den afghanischen Sicherheitskräften Schutz vor einer Verfolgung durch ihre Familienangehörigen erhalten. Afghanistan sei weiterhin ein für Frauen und Mädchen sehr gefährliches Land. Tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen sei dort endemisch. Gewalt gegen Frauen und Mädchen bleibe weit verbreitet, wobei Straflosigkeit für solche Verbrechen die Regel sei. Die Umsetzung von Gesetzen zum Schutz von Frauenrechten gehe nur sehr langsam voran. Den Behörden fehle der Wille, solche Gesetze konsequent umzusetzen, dies besonders in ländlichen Gebieten. Die grosse Mehrzahl der Fälle, einschliesslich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden weiterhin durch traditionelle Streitschlichtungsmechanismen vermittelt, statt strafrechtlich verfolgt zu werden, wie es das Gesetz verlange. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen hindere viele daran, eine Beschwerde zu machen. Diese hätten kaum andere Möglichkeiten, als weiterhin in missbräuchlichen Situationen zu leben. Die Polizei inhaftiere Frauen, die von ihnen selbst erlittene sexuelle Gewalt anzeigten. Vor diesem Hintergrund fehle es in Afghanistan insbesondere am Schutzwillen der afghanischen Behörden bei geschlechtsspezifischen Übergriffen, aber auch an der Infrastruktur (vgl. Referenzurteil des Bundesveraltungsgerichts D-3501/2019 vom 21. August 2019, E. 5.4.5).

5.2  Nachdem sich die Lage mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 jedoch grundlegend verändert hat, ist die Lage der Frauen unter dem neuen Regime zu analysieren. Für die vorliegende Analyse wurden im Wesentlichen folgende Quellen verwendet (aufgelistet in alphabetischer Reihenfolge nach Herausgeberschaft und Chronologie):

-          Afghanistan Analysts Network (AAN I), How Can a Bird Fly On Only One Wing? Afghan women speak about life under the Islamic Emirate, 22. November 2022, <https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/how-can-a-bird-fly-on-only-one-wing-afghan-women-speak-about-life-under-the-islamic-emirate/>, abgerufen am 19. April 2023

 

-          Afghanistan Analysts Network (AAN II), Strangers in Our Own Country: How Afghan women cope with life under the Islamic Emirate, 28. Dezember 2022, <https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/strangers-in-our-own-country-how-afghan-women-cope-with-life-under-the-islamic-emirate/>, abgerufen am 19. April 2023

-          European Union Agency For Asylum (EUAA), Country Guidance: Afghanistan, Januar 2023, <https://euaa.europa.eu/country-guidance-afghanistan-2023>, abgerufen am 20. April 2023

-          Freedom House, Freedom in the World 2022, Afghanistan, <https://freedomhouse.org/country/afghanistan/freedom-world/2022>, abgerufen am 20. April 2023

-          International Crisis Group (ICG), Taliban Restrictions on Women's Rights Deepen Afghanistan's Crisis, 23. Februar 2023, <https://icg-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/2023-02/329-afghanistan-womens-rights.pdf>, abgerufen am 20. April 2023

-          UN Human Rights Council (UNHRC), Situation of human rights in Afghanistan - Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan, Richard Bennett (A/HRC/52/84), 9. Februar 2023, <https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/hrbodies/hrcouncil/sessions-regular/session52/advance-version/A_HRC_52_84_AdvanceEditedVersion.docx>, abgerufen am 14. April 2023

-          UN Human Richts Council (UNHRC II), Situation of human rights in Afghanistan - Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan and the Working Group on discrimination against women and girls (A/HRC/53/21), 20. Juni 2023, <https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5321-situation-women-and-girls-afghanistan-report-special-rapporteur>, abgerufen am 28. Juni 2023

-          UN Human Rights Office of the High Commissioner (UN High Commissioner), Afghanistan: Systematic crackdown on women's and girl's rights, UN experts say, 5. Mai 2023, <https://www.ohchr.org/en/statements/2023/05/afghanistan-systematic-crackdown-womens-and-girls-rights-un-experts-say>, abgerufen am 19. Mai 2023

-          UN Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 27. Februar 2023, <https://unama.unmissions.org/sites/default/files/a77772-s2023151sg_report_on_afghanistan.pdf>, abgerufen am 18. April 2023

-          UN Women, Gender alert no. 1: Women's rights in Afghanistan: Where are we now?, Dezember 2021, <https://www.unwomen.org/sites/default/files/2021-12/Gender-alert-Womens-rights-in-Afghanistan-en.pdf>, abgerufen am 18. April 2023

-          UN Women, Gender alert no. 2: Women's rights in Afghanistan one year after the Taliban take-over, 15. August 2022, <https://www.unwomen.org/sites/default/files/2022-08/Gender-alert-2-Womens-rights-in-Afghanistan-one-year-after-the-Taliban-take-over-en_0.pdf>, abgerufen am 18. April 2023

-          UN Women, Gender alert no. 3: Out of jobs, into poverty: The impact of the ban on Afghan women working in NGOs, 13. Januar 2023, <https://www.unwomen.org/sites/default/files/2023-01/Gender-alert-3-Out-of-jobs-into-poverty-Afghanistan-en.pdf>, abgerufen am 18. April 2023

-          Human Rights Watch (HRW), Afghanistan, Events of 2022, <https://www.hrw.org/world-report/2023/country-chapters/afghanistan>, abgerufen am 20. April 2023

-          U.S. Department of State, 2021 Country Reports on Human Rights Practices: Afghanistan, 12. April 2022, <https://www.state.gov/reports/2021-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/>, abgerufen am 19. April 2023

5.3  Die Autorität der ehemaligen Regierung Afghanistans, die vor August 2021 an der Macht war, wurde bereits damals durch Aufstände der Taliban sowie Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren untergraben. Dennoch bot sie eine breite Palette von individuellen Rechten und es waren gewisse Fortschritte zu verzeichnen. Im April 2021 verkündete der Präsident der Vereinigten Staaten, Joe Biden, den vollständigen Abzug des Militärs aus Afghanistan bis September 2021. Dieser Abzug wurde im Juli beschleunigt, so dass die Militärpräsenz der Vereinigten Staaten im August 2021 endete. In der Folge setzten die Taliban, welche seit Mai 2021 eine erneute Offensive gegen die Regierung geführt hatten, die gewählte Regierung ab. Die Hauptstädte der Provinzen fielen im August und Kabul wurde am 15. August von den Taliban überrannt. Am gleichen Tag floh Präsiden Ashraf Ghani aus dem Land. Die Taliban ernannten im September 2021 ein Kabinett, dessen Mitglieder aus deren oberen Rängen stammen. Viele afghanische Bürger und Bürgerinnen versuchten zu fliehen und mehrere Länder organisierten eine Luftbrücke, wobei die Vereinigten Staaten zwischen Ende Juli und Ende August 2021 über 122'000 Menschen evakuierten. Etwa 700'000 Menschen wurden innerhalb Afghanistans vertrieben. Seither bestimmen die Taliban die Politik Afghanistans alleine. Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet und die Rechte von Frauen und Minderheiten werden immer mehr beschnitten. Persönliche und politische Freiheiten wurden eingeschränkt. Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen und private Diskussionen, die als kritisch gegenüber der Taliban-Herrschaft angesehen werden, unterdrückt. Ferner verübte die militärische Gruppierung Islamischer Staat, Provinz Khorasan (IS-K) zahlreiche Anschläge, dies vor aber auch nach der Machtübernahme durch die Taliban. Unter anderem übernahm diese Gruppierung die Verantwortung für einen Bombenanschlag im August 2021 in der Nähe des Flughafens von Kabul, bei welchem über 170 Zivilisten und 13 amerikanische Militärs getötet wurden. Bei zwei Anschlägen auf Moscheen in Kabul wurden im Oktober 2021 über 135 Menschen getötet und mindestens 19 im November 2021 bei einem Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in Kabul (vgl. Freedom House, a.a.O.). Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich die allgemeine Situation für einen Grossteil der Bevölkerung verschärft, insbesondere für Minderheiten und die weibliche Bevölkerung. Auf letztere soll in der Folge detaillierter eingegangen werden.

5.4  Vorab werden für eine bessere Übersicht im Sinne einer Zeitlinie die wichtigsten der von den Taliban seit deren Machtübernahme am 15. August 2021 verkündeten Erlasse, mit welchen Frauen und Mädchen in ihren Rechten eingeschränkt werden, aufgelistet (vgl. AAN II, a.a.O. sowie UNHRC II a.a.O.):

-          5. September 2021: erster Vorfall der Gewaltanwendung gegen eine Demonstrantin.

-          17. September 2021: Schliessung des Ministeriums für Frauenangelegenheiten (Ministry of women's Affairs, MWA).

-          17./18. September 2021: Wiedereröffnung der Schulen, die High Schools für Mädchen bleiben geschlossen.

-          19. September 2021: Beamtinnen werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben bis sie anderweitig informiert würden.

-          11. November 2021: Frauen dürfen Parks und Freizeitanlagen nur noch mit einem «mahram», einem nahen männlichen Verwandten in der Funktion einer Anstandsdame, betreten.

-          26. Dezember 2021: Frauen dürfen Distanzen, die weiter als 72 Kilometer sind, nur noch in Begleitung eines «mahram» zurücklegen.

-          10. Januar 2022: strikte Hijab-Regeln werden erhoben.

-          26. Februar 2022: an den Universitäten gilt Geschlechtertrennung.

-          23. März 2022: entgegen entsprechenden Versprechen werden die High Schools für Mädchen nicht wiedereröffnet.

-          27. März 2022: Frauen dürfen keine Flüge antreten ohne «mahram».

-          28. März 2022: in Parks gilt die Geschlechtertrennung.

-          3. Mai 2022: Frauen dürfen keine Fahrzeuge mehr lenken.

-          7. Mai 2022: Frauen müssen in der Öffentlichkeit ihr Gesicht verdecken und sollen das Haus nur bei Notwendigkeit verlassen.

-          17. Mai 2022: die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) wird abgeschafft.

-          21. Mai 2022: Fernsehsprecherinnen müssen ihr Gesicht verdecken vor der Kamera.

-          1. Juni 2022: alle Mädchen der vierten bis zur sechsten Klasse müssen ihr Gesicht bedecken auf dem Weg in die Schule.

-          22. August 2022: Gründung eines Departements für weibliche Moralpolizei innerhalb des neuen Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und die Prävention des Lasters.

-          23. August 2022: weibliche Regierungsangestellte werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

-          14. Oktober 2022: Studentinnen dürfen in den Fächern Ingenieurwesen, Veterinärmedizin, Agrikultur und Geologie keine Aufnahmeprüfungen zur Universität ablegen.

-          13. November 2022: Frauen ist es verboten, Parks, Fitnessstudios und öffentliche Bäder zu betreten.

-          14. November 2022: die vollständige Umsetzung von Sharia-Recht wird angekündigt.

-          18. November 2022: erste offizielle Auspeitschung von drei Frauen aufgrund von Moralverbrechen.

-          20. Dezember 2022: Frauen ist der Zugang zu Universitäten und weiteren Bildungsinstitutionen verwehrt.

-          22. Dezember 2022: alle Formen der Bildung nach der sechsten Primarklasse sind Mädchen verwehrt.

-          24. Dezember 2022: Frauen ist es verboten, für Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten.

-          4. April 2023: Afghanischen Frauen ist es untersagt, für die UNO zu arbeiten.

 

5.5  Die Machtübernahme durch die Taliban und der Abzug der internationalen Truppen hatten drastische Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens in Afghanistan. Die komplexe humanitäre Katastrophe, welche sich dort abspielt, ist gezeichnet durch geschlechtsspezifische Einschränkungen, welche sich direkt auf die Möglichkeit für Frauen und Mädchen, ihre Rechte auszuüben, auswirken. Afghanische Frauen und Mädchen sind deshalb in besonderem Masse gefährdet. Als die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen, enthielten ihre ersten Erklärungen Zusicherungen, dass Frauen ihre Rechte im Rahmen des islamischen Rechts wahrnehmen könnten, einschliesslich ihres Rechts auf Studium und Arbeit. Trotz dieser verbalen Zusagen erlebten Frauen und Mädchen jedoch eine rasche Verschlechterung in der Möglichkeit zur Ausübung ihrer Rechte. Frauen aus dem ganzen Land berichten von einer Zunahme restriktiver Geschlechternormen und     -praktiken, die sich auf die Bewegungs- und Meinungsfreiheit, den Zugang zu lebensrettenden Diensten, Informationen, Schutz, Bildung, Beschäftigung und Lebensunterhalt auswirken (vgl. UN Women I a.a.O.). Es zeigt sich, dass die Taliban ihre Position in Bezug auf Frauenrechte seit ihrer ersten Machtperiode von 1996 bis 2001 nicht substanziell geändert haben. Frauen werden systematisch ausgeschlossen vom öffentlichen und politischen Leben, eingeschränkt im Zugang zu Bildung, humanitärer Unterstützung, Arbeit sowie Rechts- und Gesundheitsdienstleistungen. Ihre Aussichten sind auf das eigene Heim beschränkt. Die kurz- und langfristigen Kosten dieser Rückwärtstendenz werden als enorm eingestuft. Suizidraten bei jungen Frauen sind gestiegen; von einem Anstieg der Sterblichkeitsrate, inklusive Müttersterblichkeit, ist auszugehen; die allgemeinen Kosten des Ausschlusses der Frauen aus der Arbeitswelt wird auf bis zu eine Milliarde US-Dollars geschätzt (vgl. UN Women II a.a.O.). Im September 2021 kündigten die Taliban eine «geschäftsführende Regierung» an, die von ethnischen Paschtunen dominiert wird, der keine Frauen und nur wenige Angehörige von Minderheiten angehören, davon keine auf Kabinettsebene. Die humanitäre Krise in Afghanistan hat sich im Jahr 2022 verschlimmert, vor allem aufgrund des Wirtschaftskollapses, welcher auf die Machtübernahme der Taliban folgte. Über 90 Prozent der Bevölkerung war während des Jahres von Nahrungsunsicherheit betroffen. Frauen und Mädchen sind von dieser Krise überproportional betroffen und sehen sich vor grössere Hindernisse gestellt um Nahrung, Gesundheitsversorgung und finanzielle Ressourcen zu erhalten (vgl. HRW a.a.O.). Seit dem Zusammenbruch der Republik haben die Behörden den rechtlichen und institutionellen Rahmen abgebaut und regieren mit den extremsten Formen der Frauenfeindlichkeit, wobei die relativen Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung, die in den letzten zwei Jahrzehnten erzielt worden waren, zunichte gemacht werden. Das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan wird durch die Missachtung ihrer Menschenrechte zerstört («We are alive, but not living»). Frauen, die friedlich gegen diese repressiven Massnahmen protestieren, sind Drohungen, Schikanen, willkürlichen Verhaftungen und Folter ausgesetzt. Zahlreiche Frauen berichten von Gefühlen der Angst und extremen Beklemmung. Sie beschreiben ihre Situation als ein Leben unter Hausarrest. Die weit verbreiteten psychischen Probleme und Berichte über Selbstmorde von Frauen und Mädchen sind alarmierend. Da Mädchen und Frauen keine höheren Schulen oder Universitäten besuchen können, aber nur von weiblichen Ärzten behandelt werden dürfen, drohen, sollten diese Einschränkungen nicht rasch rückgängig gemacht werden, zahlreiche vermeidbare Todesfälle, die einem Femizid gleichkommen könnten (vgl. UN High Commissioner, a.a.O.). Die Diskriminierung von Frauen und Mädchen in Afghanistan betrifft alle Bereiche ihres Lebens. Im Folgenden wird auf die verschiedenen Aspekte (Bewegungsfreiheit und Kleidung, Arbeit, Bildung, Verhalten und Zugang zu Justiz, Gesundheit sowie politische Teilnahme) detailliert eingegangen, wobei diese alle eng miteinander verflochten sind.

5.5.1  Die Taliban haben verschiedene Regeln aufgestellt, die Frauen und Mädchen in ihrer Bewegungsfreiheit sowie der Wahl ihrer Kleidung einschränken. Die allgemeine Unsicherheit und im Speziellen die Rechtsunsicherheit sowie das Verantwortlichmachen der Männer für das Verhalten der mit ihnen verwandten Frauen haben zur Folge, dass sie nicht nur von den Behörden, sondern auch durch ihre Familien in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, zu ihrem eigenen Schutz (vgl. UN Women I a.a.O.). Berichten zufolge seien Männer, welche Frauen oder Mädchen begleiteten, die farbige Kleidung tragen oder ihr Gesicht nicht verdeckt hatten, von Taliban-Vertretern geschlagen worden, auch wenn die Verwandtschaft nicht belegt sei (vgl. UNHRC II a.a.O.). Am 7. Mai 2022 haben die Behörden eine Richtlinie erlassen, wonach alle Frauen den islamischen Hijab tragen und ihr Gesicht ausserhalb des Hauses vollständig - mit Ausnahme der Augen - verdecken müssen. Verletzungen dieser Regel führen zur Bestrafung der männlichen Verwandten, womit diese dafür verantwortlich werden, die Regeln durchzusetzen. Diese Richtlinie stärkt die Dominanz und Kontrolle der Männer über das Leben der Frauen und vertieft die bestehende Ansicht, Frauen seien schwach, bräuchten Schutz und provozierten sündiges Verhalten. Dazu kommen frühere Richtlinien, wie die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters bei Reisen von mehr als 72 Kilometern und jeglichen Flugreisen (sog. «mahram») sowie verschiedene Vorgaben betreffend Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit. In der Praxis gehen die Einschränkungen der Freiheiten der Frauen oft weiter als der Wortlaut der Richtlinien. Frauen berichten, dass die Familien, die Gemeinschaft und Arbeitgeber präventiv die Bewegungsfreit von Frauen und Mädchen beschränken. Dies zeigt, wie die Angst vor Konsequenzen bereits genügen kann, um Frauen von Männern zu trennen und in den privaten Bereich zu verbannen (vgl. UN Women II a.a.O.). Ferner kann Frauen, die sich nicht wie von den Taliban vorgeschrieben kleiden, der Zugang zu Verkehrsmitteln verweigert werden. Ausserdem sorgen aufdringliche Checkpoints, welche dazu dienen, mögliche Regimegegner zu erkennen und die Richtlinien der Taliban durchzusetzen, für eine grosse Unsicherheit und können Bewegungen im öffentlichen Raum gefährlich machen (vgl. Freedom House a.a.O.). Beamte der Moralpolizei überprüfen gemäss Berichten an öffentlichen Orten die Kleidung der Frauen unter den Burkas (vgl. UNHRC II, a.a.O.). In gewissen Provinzen wurden Frauen, die sich ohne Begleitung durch einen «mahram» in der Öffentlichkeit bewegten, von Taliban festgenommen. Teilweise wird die Geschlechtertrennung auch in Restaurants durchgesetzt. Seit der Machtübernahme der Taliban werden Frauen bedeutend weniger in der Öffentlichkeit gesehen. Aus Städten wie Herat und Kabul wurde berichtet, Taliban würden teilweise Frauen auf der Strasse anhalten, einschüchtern und nach Hause schicken, wenn sie ohne Begleitung unterwegs seien. Verheiratete Frauen können sich in den grösseren Städten noch in der Öffentlichkeit bewegen, während in Provinzen wie Kandahar und Helmand fast alle Frauen in ihren vier Wänden eingeschlossen sind. Im Mai 2022 verkündeten die Taliban eine neue Richtlinie, welche Frauen dahingehend instruiert, das Haus nicht ohne «tatsächliche Notwendigkeit» zu verlassen und wenn dann nur unter Berücksichtigung der strikten Kleidervorschriften (vgl. EUAA a.a.O.). Mitte November 2022 hat die afghanische Regierung Bestimmungen erlassen, die es Frauen und Mädchen untersagt, Parks, Sportanlagen und öffentliche Bäder zu besuchen (vgl. UNHRC a.a.O.). Alle diese Bestimmungen führen dazu, dass sich Frauen und Mädchen nicht mehr mit Freunden und in Gruppen treffen können. Es wird berichtet, dass Gruppen von mehr als drei Frauen regelmässig durch Beamte aufgelöst werden, mit der Begründung, es sollen Proteste vermieden werden (vgl. UNHRC II a.a.O.).

5.5.2  Nach der Machtübernahme durch die Taliban haben sodann viele Frauen ihre Stellen verloren, dies aufgrund der neuen Einschränkungen betreffend Bewegungsfreiheit und Teilnahme am öffentlichen Leben. Die Hauptinformanten von UN Women haben anlässlich einer Umfrage im Oktober 2021 ausnahmslos angegeben, Frauen zu kennen, die im letzten Monat ihre Stelle verloren haben (vgl. UN Women I a.a.O.). Das im Dezember 2022 durch die Taliban verfügte Verbot für Frauen, bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen zu arbeiten, stellt eine Weiterführung der systematischen Verletzung von fundamentalen Rechten von Frauen und Mädchen dar, die seit August 2021 stattfindet. Teilweise ist es Frauen möglich, von zu Hause aus zu arbeiten, jedoch führt auch dies zu einer vermehrten Isolation und zu psychologischen Problemen. Die Tatsache, dass Frauen gar nicht oder von zu Hause aus arbeiten, führt zu einem langsamen Verschwinden der Frauen aus der Gesellschaft. Forschungen aus der Coronapandemie zeigen eine Erhöhung der Zahlen von häuslicher Gewalt wegen vermehrter Heimarbeit. Im afghanischen Kontext, wo häusliche Gewalt bereits zuvor weit verbreitet war, ist die Verbreitung von Heimarbeit deshalb gefährlich. Frauen verfügen über keine Anlaufstellen, wo sie Hilfe und Unterstützung finden können, geschweige denn rechtliche Strukturen (vgl. UN Women III a.a.O.). Das Arbeitsverbot betreffend nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen wurde damit begründet, dass dort Kleidervorschriften und weitere nicht genauer genannte Regeln verletzt würden. So seien lokale Mitarbeiterinnen der UNO bedroht worden und die Behörden hätten versucht, verschiedene Arbeitsplätze der UNO zu inspizieren (vgl. UN Security Counsel a.a.O.). Nach dem 15. August 2021 verboten die Taliban den meisten weiblichen Regierungsangestellten zu arbeiten, wobei sie behaupteten, dass die Gehälter weiterhin bezahlt würden. Führungskräfte der Afghanischen Industrie- und Handelskammer für Frauen versuchten in der Folge, ein Treffen mit dem von den Taliban kontrollierten Wirtschaftsministerium zu organisieren, um Klarheit darüber zu erhalten, ob die Taliban den schätzungsweise 57'000 von Frauen geführten Privatunternehmen des Landes erlauben würden, weiterhin zu operieren. Ihnen sei kein formelles Treffen mit hochrangigen Taliban-Entscheidungsträgern gewährt, sondern informell zugesichert worden, dass Frauen arbeiten dürften, «wenn diese Arbeit mit dem islamischen Recht übereinstimmt». Die Taliban informierten dahingehend, dass sie ihre Version der Sharia implementieren würden, die es Frauen untersage, zusammen mit Männern zu arbeiten. Im Oktober 2021 informierten Vertreter der Taliban darüber, dass Frauen nur noch Arbeiten ausführen dürften, wenn diese nicht durch Männer erledigt werden könnten (vgl. US Department of State). Die Politik der Taliban, die Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten ausschliesst, verschlimmert die Situation, insbesondere für Haushalte, in denen Frauen die Allein- oder Hauptverdienerinnen waren. In den Fällen, in welchen die Taliban Frauen die Arbeit grundsätzlich erlauben, wird dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht. Gemäss Angaben des World Food Programms fehlt es nahezu 100% der von Frauen geführten Haushalten an adäquater Nahrung, wobei fast alle «drastische Mittel» ergreifen müssen, um sich versorgen zu können (vgl. HRW a.a.O.).

5.5.3  Auch betreffend Bildung hat sich die Situation von Frauen und Mädchen seit der Machtübernahme durch die Taliban negativ entwickelt. Dies einerseits aufgrund immer strengerer Regeln und Verbote, andererseits da Familien keinen Sinn darin sehen, ihre Töchter ausbilden zu lassen, wenn diese ohnehin keine Möglichkeit haben, zu arbeiten (vgl. UN Women I a.a.O.). Per April 2022 sind 80 Prozent der Mädchen von der sekundären Bildung ausgeschlossen (7. bis 12. Schuljahr). Trotz gegenteiligen Versprechungen hat die Regierung am 23. März 2022 darüber informiert, dass weiterführende Schulen (ab der 7. Klasse) für Mädchen geschlossen bleiben. Die Tatsache, dass Mädchen die Schule nicht besuchen können, führt zu einem erhöhten Risiko der Ausbeutung und Misshandlung, darunter Kinder- und Zwangsehen. Schon vor der Schliessung der Universitäten für Frauen haben viele diese nicht mehr besucht, dies beispielsweise infolge der Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, von zu grossen Hürden und dem Gefühl, dort nicht sicher zu sein, aufgrund der Geschlechtertrennung sowie auf Frauen abzielender Einschränkungen. Dazu kommt ein entsprechender Druck der Familien (vgl. UN Women II a.a.O.). Gegen Ende des Jahres 2022 haben die Behörden verschiedene Entscheidungen getroffen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen weiter einschränkten. So informierte das Bildungsministerium im Dezember 2022 in einem Schreiben darüber, dass die Universität für Frauen nicht mehr zugänglich sei, bis das «richtige Sharia-Umfeld», welches im Einklang mit der afghanischen «Kultur» stehe, etabliert worden sei (vgl. UN Security Counsel a.a.O.). Mädchen und Jungen im Primarschulalter werden geschlechtergetrennt, zu unterschiedlichen Zeiten, unterrichtet (vgl. EUAA a.a.O.). Es ist beim Führer der Taliban, Hibatullah Akhundzada, aufgrund dessen persönlicher Überzeugungen weder davon auszugehen, dass er seine ideologischen Ansichten noch sein Streben nach Macht in absehbarer Zukunft ändern wird. Nach der Schliessung der Universitäten für Frauen stellten sich bewaffnete Taliban an Checkpoints um die Universitäten herum auf und hielten sowohl Studentinnen als auch Professorinnen davon ab, diese zu betreten. In verschiedenen Städten kam es in der Folge zu Protesten, welche von den Taliban mit Wasserkanonen, Schlägen und Festnahmen zerstreut wurden (vgl. ICG a.a.O.).

5.5.4  Gewalt gegen Frauen ist in Afghanistan schon lange weit verbreitet und die Möglichkeit, dagegen Schutz zu erhalten, sehr begrenzt (vgl. hierzu das Referenzurteil D-3501/2019 vom 21. August 2019). Bereits vor dem 15. August 2021 waren die Zahlen von Gewaltvorfällen gegen Frauen und Mädchen extrem hoch, wobei gemäss Studien 87 Prozent der afghanischen Frauen und Mädchen in ihrem Leben Gewalt erfahren haben. Mit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich der Zugang zu Hilfe nach solchen Vorfällen erschwert, wobei die Nachfrage steigt. Anbieter solcher Hilfeleistungen, wo es solche gibt, berichten über Drohungen aufgrund ihrer Unterstützung von Frauen und Mädchen. Viele sahen sich aus Sicherheitsgründen gezwungen, ihre Angebote zu schliessen, so dass Frauen und Mädchen, die Gewalt erfahren haben, keinen Ort mehr haben, wo sie Hilfe und Unterschlupf erhalten können. Für den Anstieg der Gewalt gegen Frauen und Mädchen gibt es verschiedene Gründe. Wie in jeder Krise nimmt diese zu, wenn Frauen zu Hause eingeschlossen sind. Weitere Gründe sind der Verlust des Einkommens, die Zunahme der Armut, Inflation und höhere Preise. So sind aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit auch die Zahlen der Ehen von minderjährigen Mädchen gestiegen (vgl. UN Women I a.a.O.). Gewalt gegen Frauen ist in Afghanistan weit verbreitet und die wachsende männliche Vorherrschaft in allen Lebensbereichen führt dazu, dass diese sich immer mehr befugt fühlen, Gewalt auszuüben, insbesondere auch vor dem Hintergrund des Fehlens eines funktionierenden Rechenschaftsmechanismus. Die immer gefährlicher und hoffnungsloser werdende Situation für Frauen und Mädchen trägt zu einem Anstieg der Selbstmorde unter Frauen bei. Ein Anstieg von Kinder- und Zwangsehen ist zu verzeichnen - trotz einer Richtlinie, die diese Praktiken verbietet. Gründe dafür sind neben wirtschaftlichem Druck und Fehlen der Möglichkeit auf Bildung und Arbeitstätigkeit für Mädchen auch die Praktik der Taliban, Frauen und Mädchen zu einer Ehe mit ihren Kämpfern zu zwingen. Dies verleitet Familien dazu, ihre Mädchen und Frauen präventiv anderweitig zu verheiraten. Der Zugang von Frauen und Mädchen zum Justizsystem bei Vorkommen von geschlechtsspezifischer Gewalt ist so gut wie nicht existent. Wenn Fälle gemeldet werden, drohen den Frauen und Mädchen Festnahme und Verfolgung aufgrund sogenannter moralischer Verbrechen (vgl. UN Women II a.a.O.). Einige Frauen sehen sich zur Prostitution gezwungen, da die Wirtschaft zusammengebrochen ist. Frauen, die früher für die Regierung gearbeitet haben, müssen nun auf der Strasse betteln (vgl. AAN I a.a.O.). Die Behörden agieren gemäss Berichten willkürlich. So sei beispielsweise ein Mädchen am helllichten Tag ohne jegliche Erklärung von Behördenmitgliedern mitgenommen, vergewaltigt und in der Folge ihrer Familie zurückgegeben worden. Sie habe in der Folge Suizid begangen (vgl. UNHRC II a.a.O.). Am 19. September 2021 verschafften sich bewaffnete Vertreter der Taliban Zugang zu einem Frauenhaus in Kabul, befragten Angestellte und Bewohnerinnen während mehrerer Stunden und zwangen die Leitung, ein Schreiben zu unterzeichnen, mit welchem sie versprachen, niemanden ohne Einwilligung der Taliban das Gebäude verlassen zu lassen. Die Taliban stellten in Aussicht, dass sie die verheirateten Bewohnerinnen zu ihren Peinigern zurückbringen und die unverheirateten mit Talibankämpfern verheiraten würden. Über weitere ähnliche Vorfälle wurde berichtet (vgl. US Department of State a.a.O.). Währenddessen wurden Täter, welche aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt worden waren, unter den Taliban befreit (vgl. Freedom House a.a.O.). Frauen, die sich von ihren Männern scheiden lassen wollen oder aus gewalttätigen Beziehungen zu entkommen suchen, werden oft gezwungen, in diesen Beziehungen zu bleiben. Es wurden von Bemerkungen von Richtern berichtet wie «deine Hand ist nicht gebrochen, dein Bein ist nicht gebrochen, weshalb willst du eine Scheidung», «du brauchst die Zustimmung deines Mannes» oder einfach «du kannst dich nicht scheiden lassen». Von Polizeibeamten werden nach Anzeigen wegen häuslicher Gewalt Reaktionen wie «man sollte sich nicht beschweren», «wahrscheinlich hast du die Schläge verdient» und «Privates sollte in der Familie bleiben» berichtet. Die Tendenz, Frauen zu zwingen, in ihren gewalttätigen Beziehungen zu bleiben, wurde noch verstärkt mit einem Edikt, gemäss welchem alle während der Republik vollzogenen Scheidungen überprüft werden können. Männer können so Scheidungen annullieren lassen, was dazu führt, dass ihre Ex-Frauen zu ihnen zurückkehren müssen. In einem Fall führte dies sogar dazu, dass der neue Ehemann sowie der Vater der Betroffenen und diese selber, da sie sich weigerte, zu ihrem Ex-Ehemann zurückzukehren, inhaftiert wurden, während die junge Tochter zwangsverheiratet wurde (vgl. UNHRC II a.a.O.). Die Sharia unterscheidet nicht zwischen einvernehmlicher sexueller Beziehung ausserhalb der Ehe und Vergewaltigung. Beides wird als «zina» bezeichnet und durch Steinigung oder Auspeitschen bestraft. Wenn Frauen alleine leben, wird dies als unpassendes Verhalten angesehen und kann zu einer Anklage wegen «moralischer Verbrechen» führen (vgl. EUAA a.a.O.).

5.5.5  Teil der humanitären Krise in Afghanistan ist sodann der Zugang zu Gesundheitsversorgung. Frauen mit komplexeren Bedürfnissen, wie beispielsweise Schwangere, haben gemäss Berichten grosse Mühe beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Probleme stellen Angst und Unsicherheit dar, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, grosse Distanzen, Fehlen eines sicheren Transportmittels sowie das Fehlen von ausgebildetem weiblichen Gesundheitspersonal. Dazu kommen finanzielle Aspekte (vgl. UN Women I, a.a.O.). Im März 2022 wies das Taliban-Gesundheitsministerium an, weibliche Patienten ohne Hijab nicht zu behandeln. Auch liegen Berichte vor, wonach unbegleitete Frauen von Taliban aus einer Klinik geworfen worden seien, eine Hebamme festgenommen worden und medizinischem Personal Verfolgung drohe, wenn dieses alleinstehende, gebärende Frauen begleitet habe (vgl. EUAA a.a.O.).

5.5.6  Die vor der Machtübernahme durch die Taliban verzeichneten Fortschritte in Bezug auf politische Teilnahme von Frauen wurden rückgängig gemacht. Aktuell beträgt der Anteil von Frauen in der Politik null Prozent, während vor dem 15. August 2021 28 Prozent der Parlamentarier Frauen waren. Ferner wurde das im Jahr 2001 etablierte Ministerium für Frauenangelegenheiten unter den Taliban aufgelöst und durch das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters ersetzt (vgl. UN Women I a.a.O.). Demonstrationen werden regelmässig gewaltsam niedergeschlagen, selbst solche, die bewilligt worden waren, sowie Teilnehmerinnen und Organisatorinnen festgenommen. Auch Männer, die sich für Frauen einsetzen, müssen mit Festnahmen rechnen. So wurde der Gründer einer lokalen Nichtregierungsorganisation, die sich für das Recht auf Bildung einsetzt, am 27. März 2023 festgenommen und befindet sich nach wie vor in Haft, ohne eine klare Anklage (vgl. UNHRC II, a.a.O.).

5.6  Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Taliban nach ihrer Machtübernahme jeglichen Fortschritt für Frauen und Mädchen zunichte gemacht haben. Es ist ein systematischer und institutionalisierter Ausschluss von Frauen und Frauenrechten zu beobachten. Entsprechende Erlasse und Praktiken sorgen dafür, dass Frauen in einem Umfeld von Angst und Unsicherheit leben. Im ersten Jahr der Talibanherrschaft wurden Frauen fast ganz aus dem öffentlichen und vollständig aus dem politischen Leben entfernt (vgl. UN Women II a.a.O.). Befragte afghanische Frauen äussern sich dahingehend, dass es sich bei den verschiedenen Einschränkungen, die von den Taliban seit deren Machtübernahme verfügt worden sind, nicht lediglich um Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Auswahl der eigenen Kleidungsstücke handelt, sondern eine Aneignung ihrer Unabhängigkeit und Würde bedeute, was zu einer Zerstörung ihres Selbstwertgefühls und jeglicher Zukunftsperspektive für sie führe. Als wichtigste Veränderungen nennen dazu befragte Frauen das Bildungsverbot für Mädchen sowie die Hijab-Vorschrift. Diese Voraussetzungen würden dazu führen, dass Frauen sich nicht an offizielle Stellen wenden könnten, da sie keinen Zugang hätten und auch keine Frauen in offiziellen Positionen arbeiteten. Sie könnten nicht mehr am sozialen und politischen Leben teilnehmen. Missbrauch und Demütigung würden vorherrschen (vgl. AAN I a.a.O.). Die Verfassung aus dem Jahr 2004 bleibt nach wie vor suspendiert, ohne jegliche Klarheit über die rechtlichen Rahmenbedingungen. Am 10. Januar 2023 wurde ein Entscheid des Talibanführers Hibatullah Akhundzada veröffentlicht, welcher besagt, dass alle Bestimmungen, welche während des vorangehenden Regimes erstellt worden seien, automatisch aufgegeben werden, da diese gegen Sharia-Recht verstossen würden. Aktuell ist deshalb unklar, ob es überhaupt national gültige Gesetze gibt, die die Rechte von Frauen und Mädchen schützen (vgl. UNHRC II, a.a.O.). Währenddessen hat UNAMA bereits 63 Menschenrechtsverletzungen registriert, welche durch das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters verübt worden sind. Diese Verletzungen würden aus Folter (vor allem Schlägen) sowie willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen bestehen. Neben den landesübergreifenden Einschränkungen wurden ferner weitere, lokale Massnahmen durch das Regime implementiert, wie beispielsweise die Schliessung von von Frauen geleiteten Geschäften in Kandahar und die Verweigerung des Zugangs zu Koranschulen für Frauen und Mädchen in Kabul (vgl. UN Security Counsel a.a.O.).

5.7  Auch der Special Rapporteur des UNHRC, Richard Bennet, zeichnet in seinen letzten zwei Berichten (letzterer wurde in Zusammenarbeit mit der «Working Group on discrimination against women and girls» erstellt) ein tragisches Bild der Situation und macht entsprechende Empfehlungen an die Staatengemeinschaft sowie an die Regierung. Es seien Massnahmen ergriffen worden, um Frauen von allen öffentlichen Plätzen fernzuhalten. Diese systematische Diskriminierung der Frauen durch die Taliban gebe in ihrer Gesamtheit Anlass zur Sorge, dass internationale Verbrechen vorliegen könnten. Die neuesten Erlasse, mit welchen Frauen und Mädchen von allen Bildungsinstituten nach der Primarstufe, öffentlichen Orten wie Parks, Sportanlagen und öffentlichen Bädern sowie der beruflichen Tätigkeit für Nichtregierungsorganisationen ferngehalten würden, würden die bereits existierenden Einschränkungen der Frauenrechte noch verstärken, wobei diese bereits vor diesen Erlassen zu den drakonischsten der Welt gehört hätten. Die diskriminierende Verweigerung der grundlegenden Menschenrechte von Frauen und Mädchen könne eine geschlechtsspezifische Verfolgung darstellen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Anstatt der Diskriminierung von Frauen und Mädchen entgegenzuwirken, würden die Taliban diese normalisieren. Versprechungen der Taliban, höhere Bildungsstätten für Frauen wieder zu öffnen, erschienen vor dem Hintergrund der Schliessung der Universitäten für Frauen als unglaubhaft. Während Taliban-Vertreter behaupten würden, die Schliessungen der Schulen und Universitäten für Frauen seien nur vorübergehend und zur Begründung logistische statt ideologischer Hindernisse anführten, schlossen sich in Wirklichkeit immer mehr Türen für Frauen, was das Muster der Ausreden und der praktischen Verweigerung von Rechten widerspiegle, das in den 1990er Jahren zu beobachten gewesen sei. Zum Thema Gesetzgebung äussert sich der Special Rapporteur dahingehend, dass die Regierung durch Einführung von irregulären Verfahren, Mangel an Justizbehörden und Annullierung von bestehenden Gesetzen eine schwierige Situation geschaffen habe. Der Mangel an kodifizierten Gesetzen sei bedenklich; zwar würden sich die Behörden darauf berufen, dass sie sich an die Sharia halten (Hanafi-Lehre), dies sei jedoch offen für Interpretationen. Die Verfassung aus dem Jahr 2004 sei nach wie vor suspendiert. Gemäss Berichten würde bei Verbrechen oft kurzer Prozess gemacht, die Verdächtigen festgenommen und bestraft, oft alles an einem Tag, ohne jeglichen Anschein eines ordnungsgemässen Verfahrens oder einer gerichtlichen Überprüfung. Es gebe auch Vorwürfe wegen Bestechung. Der Zugang der Frauen zu den Gerichten bleibe äusserst eingeschränkt. Frauen müssten generell von einem Mann begleitet werden und ihre Aussagen würden oft nicht zugelassen oder hätten weniger Gewicht als jene von Männern. Weibliche Richter und Angehörige von Minderheiten, wie beispielsweise Shia Muslime, seien von ihren Posten entfernt worden. Auch weibliche Rechtsvertreter seien nicht mehr zugelassen. Der Mangel an einem funktionierenden Justizsystem führe zusammen mit der Unklarheit, welche Gesetze anwendbar und welche Behörden zuständig seien, dazu, dass sich die Bevölkerung vermehrt an informelle und traditionelle Mechanismen zur Streitbelegung wenden würden, wie Jirgas, Ältestenräte, Gemeinschaften und religiöse Führer, welche über keinerlei juristisches Wissen verfügten und die Rechte von Frauen und Minderheiten oft nicht respektieren würden. Der Special Rapporteur fordert den Internationalen Strafgerichtshof auf, die beispiellose Verschlechterung der Rechte der Frauen zur Kenntnis zu nehmen und schlägt der Staatsanwaltschaft vor, den Straftatbestand der geschlechtsspezifischen Verfolgung zu prüfen. (vgl. UNHRC und UNHRC II, a.a.O.).

6.   

6.1  Die Vorgängerorganisation des Bundesverwaltungsgerichts betreffend Asylrecht, die Schweizerische Asylrekurskommission (ARK), hat sich in ihrem Grundsatzentscheid EMARK 2006 Nr. 32 allgemein zum Thema frauenspezifische Verfolgung geäussert und festgestellt, dass ein nach Art. 3 Abs. 1 AsylG relevantes Verfolgungsmotiv in Nachachtung von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG («Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen») grundsätzlich auch dann vorliegen kann, wenn eine Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft, also wenn keines der in Art. 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsmotive vorliegt (vgl. E. 8, a.a.O.). Dabei wurde im Zuge der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG zunächst festgehalten, dass sich aus dessen Entstehungsgeschichte jedenfalls nicht schliessen liesse, dass eine asylsuchende Person die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, wenn die Gründe für die Verfolgung ausschliesslich frauen- beziehungsweise geschlechtsspezifischer Natur sind. Was sich aufgrund der Materialien feststellen lasse, sei, dass der Flüchtlingsbegriff nach AsylG nicht zuletzt angesichts der wichtigen Rolle, welche die konventionsrechtliche Flüchtlingsdefinition auch im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten gespielt hat, völkerrechtskonform, das heisst im Lichte von Art. 1 A Ziff. 2 FK anzuwenden sei. Weiter wurde festgehalten, dass unter systematischen Gesichtspunkten Art. 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG zwar eng verstanden werden könnte, als nähere Erläuterung der Verfolgungsformen und der dabei erforderlichen Verfolgungsintensität. Gegen ein solches Verständnis spreche aber der Begriff «Fluchtgründe», welcher nicht auf bestimmte Formen der Verfolgung verweise, sondern vielmehr in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen stehe. Entsprechend sei davon auszugehen, dass sich der Auftrag an die Rechtsanwendung, frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen, auf alle Elemente des Flüchtlingsbegriffs beziehe. Sowohl das         UNHCR wie auch verschiedene Vertragsstaaten der FK würden der Interpretation folgen, wonach das Geschlecht in die Kategorie der bestimmten sozialen Gruppe fallen könne. In der bisherigen Schweizer Asylpraxis sei darauf verzichtet worden, die asylgesetzlichen beziehungsweise konventionsrechtlichen Verfolgungsmotive näher zu definieren. Davon könne auch weiterhin abgesehen werden. Schliesslich könne die Erfüllung der Flüchtlingseigenschaft bei einem zeitgemässen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs nicht von einer bestimmten Definition eines Verfolgungsmotivs abhängig sein, bestimme doch letztlich der Verfolger allein, wen er weshalb verfolge, und damit auch, ob und wie er von ihm verfolgte «Rassen» oder «soziale Gruppen» definiere. Ausschlaggebend müsse deshalb sein, ob die Verfolgung wegen äusserer Merkmale erfolgt sei beziehungsweise künftig drohe, die untrennbar mit der Person oder Persönlichkeit des Opfers verbunden seien, wie sie etwa den Merkmalslisten in verfassungsrechtlichen und internationalen Diskriminierungsverboten entnommen werden könnten. Der Aspekt der Diskriminierung sei im Verfolgungskonzept, das der Flüchtlingskonvention und dem Asylgesetz zugrunde liege, mit enthalten; der Unterschied zwischen Diskriminierung und flüchtlingsrechtlicher Verfolgung liege vorab in der Intensität des Eingriffs. Daher brauche die in der Asylpraxis anderer Staaten beziehungswiese in der flüchtlingsrechtlichen Lehre oft diskutierte Frage, ob Frauen eine bestimmte soziale Gruppe bilden, nicht näher geprüft zu werden. Ziele nämlich der Verfolger mit gewissen Massnahmen darauf ab, das weibliche Geschlecht zu unterdrücken, sei das für die Entstehung der Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG beziehungsweise Art. 1 A Ziff. 2 FK relevante Verfolgungsmotiv gegeben. Dies sei nicht im Sinne der Schaffung eines neuen, selbständigen Verfolgungsmotivs zu verstehen. Vielmehr werde der allgemeine Schluss gezogen, dass ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmotiv stets daran zu erkennen sei, dass eine Verfolgung in diskriminierender Weise an persönliche Merkmale der verfolgten Person anknüpfe, zu welchen auch das Geschlecht zähle. Diese Auslegung orientiere sich an Sinn und Zweck von Art. 3 AsylG und dabei in besonderem Masse an der antidiskriminatorischen Zielsetzung der Flüchtlingskonvention, berücksichtige die Weiterentwicklung des Völkerrechts auf dem Gebiet der frauenspezifischen Menschenrechte und entspreche damit einem zeitgemässen völkerrechtskonformen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs. Selbstredend müssten dabei neben dem flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmotiv auch die übrigen Kriterien von Art. 3 Abs. 1 AsylG erfüllt sein. Dabei sei gerade mit Blick auf das Erfordernis einer bestimmten Intensität erlittener (oder in Zukunft befürchteter) Nachteile zu beachten, dass geschlechtsspezifische Diskriminierung für sich allein in der Regel keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung darstelle.

6.2  Die Anwendung dieser Rechtsprechung rechtfertigt sich nach wie vor zumal diese, wie festgehalten, auf einem zeitgemässen völkerrechtskonformen Verständnis des Flüchtlingsbegriffs beruht. Insbesondere lässt sich diese Rechtsprechung mit dem Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (SR 0.108, nachfolgend: CEDAW) vereinbaren. Gemäss dem Wortlaut von Art. 2 Bst. d CEDAW verpflichten sich die Vertragsstaaten kraft der Konvention «eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierungen der Frau zu verfolgen und [...] zu diesem Zweck Handlungen oder Praktiken zu unterlassen, welche die Frau diskriminieren, und dafür zu sorgen, dass alle staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit dieser Verpflichtung handeln». Die Bestimmung richtet sich in erster Linie an jene Institutionen, die auf politischer und gesellschaftlicher Ebene operieren (vgl. Urteil des BVGer B-2184/2017 vom 7. Februar 2018 E. 7 sowie Schläppi Erika, in: Schläppi/Ulrich/Wyttenbach [Hrsg.], CEDAW-Kommentar, Bern 2015, N 7ff. zu Art. 2 Ingress, lit. a, b, c, d S. 248 ff.). Nichtsdestotrotz sind die Bestimmungen der CEDAW bei der Auslegung anderer Anspruchsnormen zu berücksichtigen. In ihren Empfehlungen vom 5. November 2014 legt der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau dar, die Staaten sollten den Flüchtlingsbegriff in Übereinstimmung mit ihrer antidiskriminatorischen Verpflichtung und jener für Gleichstellung auslegen (vgl. UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women, General recommendation No. 32 on the gender-related dimensions of refugee status, asylum, nationality and statelessness of women, 5. November 2014 < Refworld | General recommendation No. 32 on the gender-related dimensions of refugee status, asylum, nationality and statelessness of women >, abgerufen am 06.06.2023).

6.3  Die Vorinstanz stützt sich bei ihrer Beurteilung darauf, bei den von den Beschwerdeführerinnen genannten Problemen mit Bezug auf ihr Geschlecht handle es sich um solche, die mit der allgemeinen Lage nach der Machtübernahme der Taliban einhergehen würden. Dies ist wohl dahingehend zu verstehen, dass das SEM eine diskriminierende Gesetzgebung für sich allein flüchtlingsrechtlich nicht als relevant erachtet, sofern im betreffenden Land eine Frau nicht stärker betroffen ist als alle anderen. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bräuchte es demnach eine oppositionelle Haltung, eine Auflehnung gegen die diskriminierende Gesetzgebung, welche dem Begriff der politischen Anschauung gleichzustellen wäre; das heisst, es wird ein aktives sich Widersetzen verlangt. Dies könnte in der Form von offenen Protesten und Demonstrationen gegen die erlassenen Gesetze, bewusster Missachtung der Vorschriften oder Auflehnung gegen soziale Normen und Moralvorstellungen zum Ausdruck gebracht werden. Es wäre jeweils im Einzelfall abzuwägen, ob die Anforderungen an die flüchtlingsrechtliche Relevanz - unter Vorbehalt der Glaubhaftmachung - erfüllt sind. Eine solche Auslegung muss dahingehend verstanden werden, dass frauenspezifischer Fluchtgründe nur asylrelevant sein können, wenn sie in Kombination mit einem weiteren Verfolgungsmotiv - wie beispielsweise der politischen Anschauung - vorliegen würden. Diese Auffassung entspricht jedoch nicht der oben zitierten Praxis des Gerichts. Zwar trifft zu, dass in der Regel eine diskriminierende Gesetzgebung für sich gesehen mangels genügender Intensität keine flüchtlingsrechtliche Relevanz zu begründen vermag. Aus den oben zitierten Berichten ergibt sich in Bezug auf Afghanistan jedoch ein Bild, das sich nicht auf das Vorliegen diskriminierender Gesetzgebung beziehungsweise Massnahmen beschränkt. Frauen, die sich gegen die Regeln der Taliban auflehnen beziehungsweise diese nicht befolgen und sich aktiv widersetzen, haben mit drastischen Strafen zu rechnen - allenfalls nicht nur von Seiten der Taliban, sondern auch von Seiten der Familie und des Umfeldes, welche wiederum stellvertretend ebenfalls mit Bestrafung zu rechnen haben, wenn sie die Regelungen bei den ihnen angehörigen Frauen und Mädchen nicht durchsetzen. In Afghanistan sorgt nicht nur die Angst vor den Taliban dafür, dass deren Regeln eingehalten werden, ihr ganzes Regelwerk führt durch den auf die Männer ausgeübten Druck und der ihnen zugestandenen Macht dazu, dass Frauen und Mädchen auch im privaten Umfeld unterdrückt und diskriminiert werden. Ausserdem haben sie keine Möglichkeit, Schutz zu erhalten. Der einzige Weg für eine Frau in Afghanistan, unbeschadet zu leben, ist somit, sich den diskriminierenden Regeln und der willkürlichen Kontrolle und Bestrafung durch die Regierung zu fügen. Es stellt sich damit die Frage, ob und inwieweit von einer Person vernünftigerweise erwartet werden kann, die drohende Verfolgung durch das eigene Verhalten abzuwenden, beziehungsweise wie viel Anpassung von einer Person zu Lasten ihrer Freiheit und Menschenwürde verlangt werden kann. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Gerichts zur Annahme von asylrelevanter Verfolgung aufgrund des Glaubens oder der sexuellen Orientierung zu verweisen, welche hier sinngemäss herangezogen werden kann (vgl. die beiden Referenzurteile D-4952/2014 vom 23. August 2017 und D-6539/2018 vom 2. April 2019). So kann Personen aus dem entsprechenden Kulturkreis eine gewisse Anpassung an kulturelle Begebenheiten zugemutet werden. Zu beurteilen ist, ob die Grenze, ab welcher ein unerträglicher psychischer Druck vorliegt aufgrund der Diskriminierungen, überschritten ist oder nicht. Aus den oben zitierten und wiedergegebenen Berichten ergibt sich ein Bild der Hoffnungs- und Perspektivenlosigkeit für Mädchen und Frauen in Afghanistan. Ebenfalls lässt sich den Berichten entnehmen, dass genau dies bereits zu psychischen Erkrankungen und Suiziden führt, sowie zu kontraproduktiven Anpassungen, die zu weiteren Diskriminierung und Unterdrückung führen (wie beispielsweise Verheiratungen «zum eigenen Schutz», damit keine Zwangsverheiratung an einen Talibankämpfer erfolgt, immer öfter auch vor Erreichen der Volljährigkeit). Die Massnahmen und Regelungen der Taliban führen zu einer zunehmenden Trennung der Geschlechter und einem starken Machtgefälle zwischen diesen. Von Mädchen und Frauen wird verlangt, sich nicht nur den herrschenden Regeln zu fügen, sondern auch den willkürlichen Massnahmen einerseits der Taliban und andererseits der Familie und der Gesellschaft.

6.4  Zusammenfassend ergibt sich aus dem Gesagten, dass ein selbstbestimmtes Leben für Frauen und Mädchen in Afghanistan unter dem aktuellen Regime nicht möglich ist. Aufgrund der diskriminierenden Regeln und Massnahmen und der Durchsetzung derselben durch die Taliban kann sich ein unerträglicher psychischer Druck im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG ergeben, der es einer Frau oder einem Mädchen persönlich verunmöglicht, in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben zu führen. Somit ist in der Diskriminierung von Frauen und Mädchen in Afghanistan, in der Art und Intensität wie sie von den Taliban gehandhabt wird - unabhängig von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die betroffenen Frauen und damit auch die Beschwerdeführerinnen eine "bestimmte soziale Gruppe" gemäss Art. 3 Abs. 1 AsylG bilden - ein flüchtlingsrechtlich erhebliches Verfolgungsmotiv zu erblicken. Frauen oder Mädchen, die dem Regime der Taliban entfliehen, bringen in der Regel mit ihrer Ausreise zum Ausdruck, dass der auf ihnen lastende psychische Druck nicht mehr erträglich war.

6.5  Bei den Beschwerdeführerinnen handelt es sich um zwei junge ledige Frauen. Als solche wären sie in Afghanistan nicht nur dem Risiko einer Zwangsheirat ausgesetzt, sondern hätten auch keine Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung oder der Ausübung eines Berufs und müssten sich den für Frauen diskriminierenden Regeln des Regimes unterwerfen, von dem sie zudem selbstredend keinen adäquaten Schutz im Falle von Übergriffen auf ihre physische und psychische Integrität erwarten könnten. Aufgrund ihres persönlichen Hintergrundes (vgl. Sachverhalt Bst. D) ist ohne weiteres davon auszugehen, dass die Rückkehr nach Afghanistan für die Beschwerdeführerinnen zwangsläufig mit einem psychischen Druck verbunden wäre, der ihnen ein menschenwürdiges Leben verunmöglicht.

6.6  Die festgestellte Verfolgung von Frauen und Mädchen betrifft das ganze Land und droht somit auch den Beschwerdeführerinnen landesweit - damit ist eine innerstaatliche Schutzalternative ausgeschlossen.

6.7  Nach dem Gesagten ergibt sich, dass die Beschwerdeführerinnen die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Den Akten sind keinerlei Hinweise auf das Vorliegen von Asylausschlussgründen im Sinne von Art. 53 AsylG zu entnehmen. Die Beschwerden sind demnach gutzuheissen und die angefochtenen Verfügungen aufzuheben. Die Beschwerdeführerinnen sind gestützt auf Art. 3 AsylG als Flüchtlinge anzuerkennen und das SEM anzuweisen, ihnen in der Schweiz Asyl zu gewähren.

7. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).

8. 
Den vertretenen Beschwerdeführerinnen ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.

Es wurde keine Kostennote eingereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9-13 VGKE) ist den Beschwerdeführerinnen zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 500.- zuzusprechen.

 

(Dispositiv nächste Seite)

 

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. 
Die Verfügungen vom 1. September 2022 werden aufgehoben. Die Beschwerdeführerinnen werden als Flüchtlinge anerkannt und das SEM angewiesen, ihnen Asyl zu gewähren.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4. 
Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführerinnen für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 500.- auszurichten.

5. 
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerinnen, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

 

Die vorsitzende Richterin:

Die Gerichtsschreiberin:

 

 

Contessina Theis

Aglaja Schinzel

 

 

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