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Abteilung IV

D-3189/2022

 

 

 

 

 

Urteil vom 10. August 2022

Besetzung

 

Einzelrichterin Contessina Theis,

mit Zustimmung von Richterin Nina Spälti Giannakitsas;

Gerichtsschreiber Martin Scheyli

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am [...],

Sudan,

[...],

Beschwerdeführer,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz

 

 

 

Gegenstand

 

Vorübergehender Schutz;

Verfügung des SEM vom 23. Juni 2022

 

 

 


Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest,

dass der Beschwerdeführer, ein sudanesischer Staatsangehöriger mit letztem Wohnsitz in der Ukraine, am 8. Mai 2022 in die Schweiz einreiste und am 11. Mai 2022 um Gewährung vorübergehenden Schutzes im Sinne von Art. 4 des Asylgesetzes (AsylG, SR 142.31) ersuchte,

dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) den Beschwerdeführer am 12. Mai 2022 zu den Gründen des Gesuchs um Gewährung vorübergehenden Schutzes befragte,

dass der Beschwerdeführer bei dieser Gelegenheit im Wesentlichen ausführte, er habe seit dem Januar 2020 und bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 ebendort Ingenieurwissenschaft im Öl- und Gasbereich studiert,

dass er in diesem Zusammenhang eine bis zum 7. August 2024 gültige temporäre Aufenthaltsbewilligung in der Ukraine vorlegte,

dass er weiter im Wesentlichen geltend machte, nicht in seinen Heimatstaat Sudan zurückkehren zu können, weil dort die allgemeine Lage nicht sicher sei,

dass das SEM das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung vor-übergehenden Schutzes mit Verfügung vom 24. Mai 2022 ablehnte und dessen Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug anordnete,

dass das Staatssekretariat in der genannten Verfügung im Rahmen der Rechtsmittelbelehrung angab, die Beschwerdefrist betrage gemäss Art. 108 Abs. 3 AsyIG fünf Arbeitstage seit Eröffnung der Verfügung,

dass der Beschwerdeführer dem SEM mit Schreiben vom 10. Juni 2022 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts mitteilte, die Beschwerdefrist betrage korrekterweise dreissig Tage, wobei er beabsichtige, die genannte Verfügung anzufechten,

dass das SEM mit Verfügung vom 23. Juni 2022 (Datum der Eröffnung: 24. Juni 2022) - versehen mit dem Hinweis, dieser Entscheid ersetze jenen vom 24. Mai 2022 - das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung vorübergehenden Schutzes ablehnte und dessen Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug anordnete,

dass der Beschwerdeführer die letztgenannte Verfügung mit Eingabe vom 22. Juli 2022 beim Bundesverwaltungsgericht anfocht,

dass er dabei beantragte, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und es sei ihm der Schutzstatus S zu gewähren, eventualiter sei die Sache zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, subeventualiter sei er wegen Unzulässigkeit beziehungsweise Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs vorläufig aufzunehmen,

dass er in prozessualer Hinsicht beantragte, es seien ihm - bei gleichzeitigem Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses - die unentgeltliche Prozessführung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG sowie die amtliche Rechtsverbeiständung gemäss Art. 102m Abs. 1 Bst. a AsylG zu gewähren,

 

und zieht in Erwägung,

dass das Bundesverwaltungsgericht auf dem Gebiet des Asyls über Beschwerden gegen Verfügungen (Art. 5 VwVG) des SEM entscheidet, (Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31-33 VGG),

dass das Bundesverwaltungsgericht - mit einer vorliegend nicht zutreffenden Ausnahme - endgültig entscheidet (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG),

dass sich das Verfahren nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG richtet, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG),

dass im vorliegenden Verfahren betreffend die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Übrigen die Bestimmungen des 1., des 2a. und des 3. Abschnittes des 2. Kapitels sowie des 8. Kapitels des AsylG sinngemäss Anwendung finden (Art. 72 AsylG),

dass der Beschwerdeführer durch die angefochtene Verfügung besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung hat, womit er zur Einreichung der Beschwerde legitimiert ist (Art. 105 AsylG; Art. 37 VGG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 VwVG),

dass somit auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten ist (Art. 108 Abs. 6 AsylG; Art. 52 Abs. 1 VwVG),

dass über offensichtlich begründete Beschwerden in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters oder einer zweiten Richterin entschieden wird (Art. 111 Bst. e AsylG),

dass es sich vorliegend, wie nachfolgend aufgezeigt wird, um eine solche handelt, weshalb der Beschwerdeentscheid nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG),

dass im vorliegenden Fall auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet wird (Art. 111a Abs. 1 AsylG),

dass sich die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG richten, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5),

dass der Bundesrat am 11. März 2022 gestützt auf Art. 66 Abs. 1 AsylG eine Allgemeinverfügung zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine erlassen hat (BBl 2022 586),

dass gemäss dieser Allgemeinverfügung folgenden Personenkategorien vorübergehender Schutz in der Schweiz gewährt wird:

a)      schutzsuchenden ukrainischen Staatsbürgerinnen und -bürgern und ihren Familienangehörigen, welche vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine wohnhaft waren,

b)      schutzsuchenden Personen anderer Nationalitäten und Staatenlosen sowie deren Familienangehörigen, welche vor dem 24. Februar 2022 einen internationalen oder nationalen Schutzstatus in der Ukraine hatten,

c)      Schutzsuchenden anderer Nationalität und Staatenlosen sowie ihren Familienangehörigen, welche mit einer gültigen Kurzaufenthalts-
oder Aufenthaltsbewilligung belegen können, dass sie über eine gültige Aufenthaltsberechtigung in der Ukraine verfügen und nicht in Sicherheit und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können,

dass das SEM zur Begründung der angefochtenen Verfügung im Wesentlichen ausführte, der Beschwerdeführer gehöre nicht zu den vom Bundesrat definierten Gruppen schutzberechtigter Personen, weil er sudanesischer Staatsbürger und es ihm möglich sei, in Sicherheit und dauerhaft in den Sudan zurückzukehren,

dass die Vorinstanz weiter unter dem Aspekt der Zulässigkeit des Vollzugs der Wegweisung des Beschwerdeführers in seinen Heimatstaat feststellte, es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm im Falle einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3 EMRK verbotene Strafe oder Behandlung drohe,

dass weiter weder die politische Situation im Sudan noch sonstige Gründe gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs sprechen würden,

dass mit der Beschwerde im Wesentlichen geltend gemacht wird, entgegen der Auffassung der Vorinstanz sei es dem Beschwerdeführer keineswegs möglich, in Sicherheit und dauerhaft in seinen Heimatstaat zurückzukehren,

dass nämlich seit dem Militärputsch (implizit: vom 11. April 2019) im Sudan fast täglich Massendemonstrationen stattfänden, die gewalttätig unterdrückt würden,

dass ausserdem der dortigen Bevölkerung wegen des Klimawandels, des Kriegs in der Ukraine und der Corona-Pandemie laut den Vereinten Nationen eine Hungersnot drohe,

dass die Familie des Beschwerdeführers in bescheidenen Verhältnissen lebe und er ihr unter den gegebenen Umständen unmöglich zusätzlich zur Last fallen könne,

dass es ihm aufgrund der wirtschaftlichen wie auch politischen Krise im Sudan nicht mehr möglich sei, in seinem Heimatdorf zu leben, weil er dort von der Hungersnot betroffen wäre,

dass er im Sudan auch sein Studium nicht beenden könne, weshalb er ohne entsprechenden Abschluss unmöglich eine Arbeit finden werde, um sich selbst und seine Familie zu versorgen,

dass er entgegen der Behauptung im angefochtenen Entscheid von seinen Eltern nicht finanziell unterstützt worden sei, sondern sein Studium und sein Unterhalt in der Ukraine durch einen Bekannten aus Gefälligkeit finanziert worden seien,

dass er durch die Vorinstanz mangels eines Dolmetschers seiner Muttersprache auf Englisch befragt worden sei,

dass er selbst zwar Englisch spreche, aber nicht so gut, um sich vollständig ausdrücken zu können und auch die Gegenseite immer ganz zu verstehen,

dass dieser Umstand zu Problemen bei der Befragung geführt habe, wobei ihm ausserdem auch nicht bewusst gewesen sei, dass es dabei nicht nur um Informationen betreffend die Ukraine, sondern auch in Bezug auf seinen Heimatstaat gegangen sei,

dass das SEM verpflichtet gewesen wäre, eine Anhörung in seiner Muttersprache durchzuführen und aufgrund der Anhaltspunkte für Probleme im Heimatstaat den entsprechenden Sachverhalt umfassender abzuklären,

dass er, so der Beschwerdeführer weiter, aufgrund der Unmöglichkeit, im Sudan sich selbst und seine Familie vor Hunger zu bewahren, in die Personenkategorie der Schutzsuchenden gemäss Bst. c der Allgemeinverfügung zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine falle,

dass im Verwaltungsverfahren der Untersuchungsgrundsatz und die Pflicht zur vollständigen und richtigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts gelten (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG), wobei die Behörde die für das Verfahren erforderlichen Sachverhaltsunterlagen beschaffen, die rechtlich relevanten Umstände abklären und darüber ordnungsgemäss Beweis zu führen hat,

dass zu den Verfahrensgarantien, die der Grundsatz des rechtlichen Gehörs umfasst (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 29 33 VwVG), unter anderem die Pflicht der Behörden gehört, die Vorbringen der Betroffenen sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und in der Entscheidfindung zu berücksichtigen,

dass daraus ausserdem auch die in Art. 35 Abs. 1 VwVG gesetzlich niedergelegte grundsätzliche Pflicht der Behörden folgt, ihren Entscheid zu begründen (BGE 123 I 31 E. 2c),

dass das SEM im vorinstanzlichen Verfahren anlässlich der Kurzbefragung vom 12. Mai 2022 weder die ethnische, religiöse und sprachliche Zugehörigkeit des Beschwerdeführers im Sudan, noch seinen letzten heimatstaatlichen Aufenthaltsort, noch die konkreten Lebensumstände seiner im Sudan wohnhaften Familienangehörigen (Mutter, Geschwister, allfällige weitere Angehörige), noch irgendwelche sonstige im Zusammenhang mit der Durchführbarkeit des Vollzugs der Wegweisung möglicherweise relevante Gesichtspunkte erhoben hat,

dass dem - insgesamt eineinhalb Seiten umfassenden - Inhalt des betreffenden Protokolls bezüglich des entscheidwesentlichen persönlichen Hintergrunds des Beschwerdeführers ausschliesslich zu entnehmen ist, dass im Sudan seine Mutter und zwei volljährige Geschwister leben, wobei deren mutmasslicher Aufenthaltsort lediglich annähernd bezeichnet ist, und sich sein Vater und weitere Geschwister in Libyen aufhalten würden,

dass weder das betreffende Protokoll noch sonstige vorinstanzliche Akten irgendwelche weitere konkrete Hinweise enthalten, welche eine ausreichende Grundlage für die Beurteilung der Fragen darstellen könnten, ob der Beschwerdeführer in Sicherheit und dauerhaft in seinen Heimatstaat Sudan zurückkehren könne und ob von der Durchführbarkeit des Vollzugs der Wegweisung auszugehen sei,

dass dementsprechend auch in der angefochtenen Verfügung - abgesehen von der blossen, über den vorhin (S. 5) erwähnten Umfang hinaus nicht weiter begründeten Feststellung der Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit des Vollzugs der Wegweisung des Beschwerdeführers in den Sudan - in dieser Hinsicht keinerlei konkrete Erwägungen angestellt worden sind,

dass in der angefochtenen Verfügung auch mit keinem Wort auf die derzeitige Situation im Sudan eingegangen worden ist, obwohl von wesentlichen Veränderungen der politischen und menschenrechtlich relevanten Lage auszugehen ist (vgl. etwa Urteil des BVGer E-3122/2019 vom 3. Dezember 2021 E. 11),

dass das SEM damit offensichtlich den rechtserheblichen Sachverhalt unzureichend abgeklärt hat und seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen ist,

dass die Beschwerde daher gutzuheissen ist, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache zur erneuten Beurteilung an die Vorinstanz beantragt werden,

dass das SEM aufzufordern ist, die erforderlichen Massnahmen durchzuführen und gestützt auf die entsprechenden Erkenntnisse das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung vorübergehenden Schutzes erneut zu prüfen,

dass die Vorinstanz dabei, nachdem die Kurzbefragung vom 12. Mai 2022 in englischer Sprache und ohne Übersetzung durchgeführt wurde, auf Art. 29 Abs. 1bis AsylG hinzuweisen ist, von dessen analoger Geltung auch in Verfahren auszugehen ist, welche gestützt auf Art. 4 AsylG erfolgen,

dass bei diesem Ausgang des Verfahrens keine Kosten zu erheben sind (Art. 63 Abs. 3 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG), womit der Antrag, es sei die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren, gegenstandslos wird,

dass der obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für die ihr erwachsenen notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten zugesprochen werden kann (Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 37 VGG),

dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren indessen keine Rechtsvertretung bestellt hat und auch sonst keine Hinweise auf entstandene Kosten aktenkundig sind, womit keine Parteientschädigung zu entrichten ist,

dass sich im Übrigen angesichts des Ausgangs des Verfahrens auch der Antrag auf amtliche Rechtsverbeiständung als gegenstandslos erweist.

 

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung beantragt wird.

2. 
Die Verfügung des SEM vom 23. Juni 2022 wird aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4. 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5. 
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

 

Die Einzelrichterin:

Der Gerichtsschreiber:

 

 

Contessina Theis

Martin Scheyli

 

 

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