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Abteilung IV

D-2938/2022

 

 

 

 

 

Urteil vom 21. Dezember 2022

Besetzung

 

Richter Thomas Segessenmann (Vorsitz),

Richterin Barbara Balmelli,

Richter Yanick Felley,  

Gerichtsschreiber Daniel Widmer.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

Ukraine, 

vertreten durch Lea Hungerbühler, Rechtsanwältin, AsyLex, substituiert durch BLaw Lena Portmann, AsyLex,

(...),

Beschwerdeführer,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

 

 

 

Gegenstand

 

Verweigerung vorübergehender Schutz;

Verfügung des SEM vom 7. Juni 2022 / N (...).

 

 

 


Sachverhalt:

A.   

A.a  Der Beschwerdeführer ersuchte die Schweiz am 14. April 2022 um Gewährung vorübergehenden Schutzes.

A.b  Am 24. Mai 2022 fand die Kurzbefragung statt. Dabei gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei ukrainischer Staatsangehöriger und besitze einen ukrainischen Reise- und Inlandpass. Er sei in B._______ aufgewachsen. Mit Beginn der Kämpfe im Jahr 2014 habe er sich nach Russland begeben, weil er dort Verwandte habe. Zunächst habe er sich in C._______ niedergelassen und sei danach nach D._______ umgezogen. Er habe (...) erlangt. Er habe sich damals nicht in den Westen der Ukraine begeben, weil er dort keine Verwandten habe und es wirtschaftlich besser gewesen sei.

Er habe immer wieder seine Eltern und seine beiden Grossmütter in B._______ besucht. Im Jahr 2016 seien seine Eltern nach E._______ gezogen, wo auch er sich habe registrieren lassen. Von Oktober bis Ende November habe er sich in E._______ bei den Eltern aufgehalten. Im Frühling sei er jeweils mit seinem Vater zu den Grossmüttern nach B._______ gegangen, um dort die Grundstücke zu bearbeiten.

Ebenfalls im Jahr 2016 habe er einen russischen Reise- und Inlandpass erhalten. Dies weil damals im Donbass Krieg geherrscht habe. In Russland sei er nicht mehr registriert. Am 18. Februar 2022 sei er zu seiner Grossmutter nach B._______ gereist und habe für einen Monat nicht ausreisen können. Auch habe er nicht mehr den Wunsch gehabt, nach Russland zu gehen. Er sei dennoch nach D._______ zurückgekehrt, habe seine Wohnung geräumt und sei am 6. oder 7. April 2022 via F._______ nach G._______ ausgereist. Er habe Russland verlassen, da er nicht mit der russischen Regierung einverstanden sei und über keine Meinungsfreiheit verfüge. Am 24. Februar 2022 habe er einen Chat auf «Telegram» erstellt. Deswegen habe er Ende März 2022 (...) bis (...) Mal anonyme Anrufe erhalten.

A.c  Der Beschwerdeführer reichte je einen ukrainischen und einen russischen Reise- und Inlandpass zu den Akten.

 

 

B.   

Mit Verfügung vom 7. Juni 2022 lehnte das SEM das Gesuch um vorübergehenden Schutz ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug der Wegweisung an.

C. 
Mit Eingabe vom 5. Juli 2022 reichte der Beschwerdeführer gegen diesen Entscheid beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein. Er beantragte, die vorinstanzliche Verfügung sei aufzuheben und ihm sei der Schutzstatus S zu gewähren; eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung und vertieften Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragte er, es sei ihm zufolge Mittellosigkeit die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.

Als Beweismittel reichte er zahlreiche Screenshots von Nachrichten im «Telegram»-Kanal und «Telegram»-Chat sowie verschiedene Reiseunterlagen ein.

D. 
Am 6. Juli 2022 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.

E. 
Mit Zwischenverfügung vom 7. Juli 2022 teilte der Instruktionsrichter dem Beschwerdeführer mit, dass er den Abschluss des Verfahrens in der Schweiz abwarten dürfe. Im Weiteren wurde das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gutgeheissen und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses verzichtet. Schliesslich wurde das SEM eingeladen, eine Vernehmlassung einzureichen.

F. 
In seiner Vernehmlassung vom 15. Juli 2022 hielt das SEM an seinem Standpunkt fest.

G.   

Mit Eingabe vom 8. August 2022 machte der Beschwerdeführer fristgerecht von seinem Replikrecht Gebrauch. Gleichzeitig reichte er eine Liste von in Russland wegen regierungskritischer Äusserungen angeklagter Personen zu den Akten.

H. 
Mit weiterer Eingabe vom 18. Oktober 2022 wies der Beschwerdeführer auf die Teilmobilmachung in Russland hin und hielt im Übrigen an den bisherigen Vorbringen fest.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - so auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

1.2  Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.3  Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht worden. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 72 i.V.m. Art. 105 und Art. 108 Abs. 6 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2. 
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.   

3.1  Gestützt auf Art. 4 AsylG kann die Schweiz Schutzbedürftigen für die Dauer einer schweren allgemeinen Gefährdung, insbesondere während eines Krieges oder Bürgerkrieges sowie in Situationen allgemeiner Gewalt, vorübergehenden Schutz gewähren. Der Bundesrat entscheidet, ob und nach welchen Kriterien Gruppen von Schutzbedürftigen vorübergehender Schutz gewährt wird (Art. 66 Abs. 1 AsylG).

3.2  Am 11. März 2022 hat der Bundesrat gestützt auf Art. 66 Abs. 1 AsylG eine Allgemeinverfügung zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine (nachstehend: Allgemeinverfügung) erlassen (BBI 2022 586). Gemäss Ziff. I der Allgemeinverfügung wird folgenden Personenkategorien vorübergehender Schutz in der Schweiz gewährt:

a) schutzsuchenden ukrainischen Staatsbürgerinnen und -bürgern und ihren Familienangehörigen (Partnerinnen und Partner, minderjährige Kinder und andere enge Verwandte, welche zum Zeitpunkt der Flucht ganz oder teilweise unterstützt wurden), welche vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine wohnhaft waren;

b) schutzsuchenden Personen anderer Nationalität und Staatenlosen gemäss Definition in Buchstabe a, welche vor dem 24. Februar 2022 einen internationalen oder nationalen Schutzstatus in der Ukraine hatten;

c) Schutzsuchenden anderer Nationalität und Staatenlosen sowie ihren Familienangehörigen gemäss Definition in Buchstabe a, welche mit einer gültigen Kurzaufenthalts- oder Aufenthaltsbewilligung belegen können, dass sie über eine gültige Aufenthaltsberechtigung in der Ukraine verfügen und nicht in Sicherheit und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können. 

4.   

4.1  Das SEM führte zur Begründung der Gesuchsablehnung im Wesentlichen aus, seine Abklärungen hätten ergeben, dass der Beschwerdeführer nicht zu der vom Bundesrat definierten Gruppe der schutzberechtigen Personen gehöre, weil er am 24. Februar 2022 als russischer Doppelbürger in Russland wohnhaft gewesen sei, in Sicherheit und dauerhaft nach Russland zurückkehren könne. Er habe vorgebracht, in B._______ aufgewachsen und mit Beginn der Kämpfe im Jahr 2014 nach Russland ausgewandert zu sein. Er sei nicht mehr in Russland registriert gewesen, habe dort jedoch Verwandte und die letzten Jahre meistens dort gelebt und gearbeitet. Zudem habe er vorgebracht, er sei bis Ende März 2022 physisch in D._______ wohnhaft gewesen. Dementsprechend habe er seinen Wohnsitz und seinen Lebensmittelpunkt am 24. Februar 2022 in Russland gehabt. Überdies besitze er auch die ukrainische Staatsbürgerschaft und sei gemäss seinen Angaben in B._______ registriert gewesen. Trotz dieser Umstände werde angenommen, dass er seinen festen Wohnsitz vor der Einreise in die Schweiz in Russland gehabt habe, zumal er vorbringe, die registrierte Adresse in B._______ habe schon lange nicht mehr seiner Adresse respektive dem Wohnort seiner Eltern entsprochen. Deshalb sei das Gesuch um Gewährung des vorübergehenden Schutzes abzuweisen. Gegenstand des vorliegenden Gesuchs sei die Prüfung, ob der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die vorübergehende Schutzgewährung in der Schweiz erfülle. Er habe geltend gemacht, dass er aufgrund seines «Telegram»-Kanals anonyme Anrufe erhalten habe und sich bei einer Rückkehr nach Russland vor einer Freiheitsstrafe fürchte. Er sei zwar nie verhaftet worden, habe aber das Bedürfnis, bei einer Rückkehr nach Russland seine Meinung frei zu äussern, was dort jedoch nicht möglich sei. Da das Gesuch um vorübergehender Schutz abgelehnt worden sei, werde nicht weiter auf die diesbezüglichen Vorbringen eingegangen. Wegen der Ablehnung des Gesuchs sei er zur Ausreise aus der Schweiz verpflichtet. Hinsichtlich des Vollzugs der Wegweisung würden sich aus den Akten keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ihm im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3 EMRK verbotene Strafe oder Behandlung drohe. Weder die in seinem Heimatstaat herrschende politische Situation noch andere Gründe würden gegen die Zumutbarkeit der Rückführung in den Heimatstaat sprechen. Er habe vorgebracht, dass er Verwandte in Russland habe, die letzten acht Jahre dort gelebt habe und einer Arbeit in (...) nachgegangen sei. Er besässe einen (...)abschluss in Bereich (...) aus dem Jahr (...). Solange er in Russland gewesen sei und dort gearbeitet habe, sei es ihm gut gegangen. Mit seinem Lohn in Russland sei es ihm auch möglich gewesen, seine Eltern in der Ukraine zu unterstützen. Es sei ihm daher auch zuzumuten, sich wieder in Russland zu registrieren, einer Arbeit nachzugehen und sein wirtschaftliches Fortkommen zu sichern. Ausserdem sei der Vollzug der Wegweisung technisch möglich und praktisch durchführbar.

4.2  In der Beschwerdeschrift wird geltend gemacht, der Beschwerdeführer erfülle die Voraussetzungen von Bst. a der Allgemeinverfügung. Die Vor-instanz habe ohne nachvollziehbare Begründung von einer Prüfung, ob er die Voraussetzungen von Bst. c erfülle, abgesehen. Diese Begründung verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör. Zudem sei sie materiell falsch, da er auch die Voraussetzungen von Bst. c erfülle. Das Eventualbegehren wird mit dem Vorwurf, die Vorinstanz habe wichtige Tatsachen, insbesondere im Zusammenhang mit dem «Telegram»-Chat, welche zur Schutzgewährung des Beschwerdeführers führten, nicht näher abgeklärt. Zudem sei bei der Begründung die Berücksichtigung fallspezifischer Aspekte missachtet worden und die Vorinstanz habe ihr Ermessen in unzulässiger Weise unterschritten und insbesondere weder abgeklärt, ob der Beschwerdeführer vor dem 24. Februar 2022 tatsächlich Wohnsitz in Russland gehabt habe, noch ob er tatsächlich dorthin zurückkehren könnte oder ob er nicht einer Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt wäre.

4.3  In seiner Vernehmlassung vom 15. Juli 2022 führte das SEM im Wesentlichen aus, bei den Vorbringen in der Beschwerde, namentlich im Zusammenhang mit dem «Telegram»-Chat, und den diesbezüglich eingereichten Beweismitteln handle es sich nicht um offensichtliche Asylgründe, welche die Schlussfolgerung zuliessen, der Beschwerdeführer könne nicht mehr in Sicherheit und dauerhaft nach Russland zurückreisen. Im Übrigen sei nach wie vor davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Kriegs in Russland wohnhaft gewesen sei, und eine sichere und dauerhafte Rückkehr nach Russland möglich sei.

4.4  In seiner Replik vom 8. August 2020 führte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die Verneinung von offensichtlichen Asylgründen in der Vernehmlassung aus, es gehe, wie bereits in der Beschwerde dargelegt, nicht um die Frage, ob er die Flüchtlingseigenschaft erfülle und ihm deshalb Asyl zu gewähren wäre, sondern darum, ob er die Voraussetzungen der Allgemeinverfügung erfülle und deshalb als Schutzbedürftiger vorübergehenden Schutz erhalten sollte. Diese Ungenauigkeit, welche wohl unter anderem beziehungsweise im Zusammenhang mit den «Telegram»-Chat-Nachrichten für die Beurteilung der erforderlichen Gefährdungslage entscheidend sei, sei unentschuldbar und verletze das rechtliche Gehör, insbesondere die Begründungspflicht. Schliesslich würde auch aus der Vernehmlassung nicht klar ersichtlich, auf welche Bestimmung sich die angefochtene Verfügung stütze, namentlich auf Bst. a oder auf Bst. c. Auch dies stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Mit der Berufung auf Asylgründe stifte die Vorinstanz noch mehr Verwirrung.

4.5  In der Eingabe vom 18. Oktober 2022 wies der Beschwerdeführer auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-2722/2022 vom 10. August 2022 hin. Darin werde festgehalten, dass die Vorinstanz trotz «des überaus restriktiven Umgangs mit politischen Dissidenten in Russland sowie der engen Beziehungen des Beschwerdeführers zur Ukraine und seinen Aussagen in der Kurzbefragung» mit derselben Begründung wie vorliegend, nämlich der Ausländer «gehöre nicht zur definierten Personengruppe, weil er in Sicherheit und dauerhaft nach Russland zurückkehren könne», ihre Begründungspflicht verletzt habe. Genauso verhalte es sich betreffend ihn: Er sei ukrainischen Staatsangehöriger, dessen engste Beziehungen weiterhin in der Ukraine lägen, und habe in seiner Kurzbefragung politische Gründe geltend gemacht. Dies sei vom SEM in der Begründung in keiner Weise berücksichtigt worden.

5.   

5.1  Vorliegend ist unbestritten und hinreichend dokumentiert, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen ukrainisch-russischen Doppelbürger handelt.

5.2  Vorab ist deshalb zu prüfen, ob der Beschwerdeführer zu der Personengruppe gemäss Bst. a der bundesrätlichen Allgemeinverfügung vom 11. März 2022 gehört oder ob die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung zu Recht davon ausgegangen ist, er sei vor dem 24. Februar 2022 in Russland und nicht in der Ukraine wohnhaft gewesen.

Aus den Akten - insbesondere aus den auf konkrete Nachfrage bestätigten Angaben des Beschwerdeführers anlässlich der Kurzbefragung - ergibt sich, dass dieser seinen Wohnsitz seit 2014 bis zu seiner Ausreise im März 2022 in Russland hatte (vgl. SEM-act. [...]-3/7, F3 ff.). An dieser Einschätzung vermögen die Ausführungen in der Beschwerde nichts zu ändern, wonach seine Eltern und seine Grossmütter, zu denen er enge Beziehungen pflege, in der Ukraine leben würden, er in B._______ registriert gewesen sei, im Oktober und November 2021 bei seinen Eltern in E._______ gelebt habe und danach einen Monat in H._______ gewesen sei, wo er Freunde besucht habe, und sich somit in den Monaten vor Kriegsausbruch zu längeren Zeitspannen in der Ukraine aufgehalten habe als in Russland (vgl. Beschwerde S. 8). Dasselbe gilt bezüglich seines Vorbringens, für ihn sei bei Ausbruch des Kriegs sofort klar gewesen, dass er nicht mehr in Russland habe leben wollen. Diese Absicht habe sich dann auch darin manifestiert, dass er am 26. Februar 2022 einen «Telegram»-Chat erstellt habe, um sich mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern austauschen zu können, welche Möglichkeiten es gebe, das Land zu verlassen (vgl. a.a.O., S. 9 und Beschwerdebeilagen 4 und 5 [Screenshots von Nachrichten im «Telegram»-Kanal vom 26. und 28. Februar 2022]). Daraus lässt sich ableiten, dass der Beschwerdeführer auch nach seiner Übersiedlung nach Russland im Jahr 2014 offenbar weiterhin einen engen Bezug zur Ukraine hatte und insbesondere seine familiären Beziehungen in der Ukraine regelmässig pflegte. Ferner mag es zutreffen, dass er sich als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine überlegte, Russland zu verlassen. Diese Umstände sind indessen nicht geeignet, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit seiner Angaben anlässlich der Kurzbefragung aufkommen zu lassen. Bei dieser Sachlage ist die Feststellung des SEM in der angefochtenen Verfügung, wonach sich der Wohnsitz des Beschwerdeführers vor dem 24. Februar 2022 in Russland und nicht in der Ukraine befunden habe, nicht zu beanstanden.

5.3  Da der Beschwerdeführer neben der ukrainischen Staatsangehörigkeit auch über das Bürgerrecht Russlands verfügt, stellt sich vorliegend die weitere Frage, ob er allenfalls zur Personengruppe gemäss Bst. c der Allgemeinverfügung gehören könnte. Diese Bestimmung richtet sich jedoch gemäss ihrem Wortlaut nicht an Drittstaatsangehörige, die zusätzlich über die ukrainische Staatsangehörigkeit verfügen, sondern an solche, deren Aufenthaltsberechtigung in der Ukraine auf einer «Kurzaufenthalts- oder Aufenthaltsbewilligung» beruht. Ukrainische Staatsangehörige bedürfen selbstredend keiner solchen Bewilligung. Eine teleologische Auslegung der in Bstn. a - c definierten Personengruppen führt zum gleichen Ergebnis. Der Schutzstatus S wurde eingeführt, um jenen Schutzsuchenden, welche die Ukraine aufgrund des russischen Angriffskriegs verlassen mussten, in der Schweiz vorübergehenden Schutz zu gewähren (vgl. etwa Medienmitteilung des Bundesrates vom 11. März 2022). Dies trifft wie bereits erwähnt (vgl. oben E. 5.2) auf den Beschwerdeführer gerade nicht zu, der seinen letzten Wohnsitz zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in Russland hatte. Inwiefern sich aus dem Abstellen auf die Flucht aus der Ukraine als Voraussetzung für die Gewährung vorübergehenden Schutzes bei allen drei Personengruppen eine Schlechterstellung von Doppelbürger/-innen ergeben könnte, wie in der Beschwerde geltend gemacht wird (vgl. Beschwerde, S. 10), ist nicht ersichtlich. Ebenso wenig vermag er aus dem von ihm zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-2722/2022 vom 10. August 2022 etwas zu seinen Gunsten abzuleiten, als dieses einen russischen Staatsangehörigen mit letztem Wohnsitz in der Ukraine betraf.

5.4  Da der Beschwerdeführer schliesslich in der Ukraine unbestrittenermassen keinen Schutzstatus im Sinne von Bst. b der Allgemeinverfügung hatte, hat das SEM im Ergebnis zu Recht festgestellt, dass er zu keiner der drei durch den Bundesrat definierten Personengruppen gehört.

5.5   

5.5.1  Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Begründungspflicht rügt, ist festzuhalten, dass das SEM tatsächlich nicht ausdrücklich deklariert, welche der drei Tatbestandsvarianten es geprüft hat. Aus der Begründung der angefochtenen Verfügung ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass das SEM das Gesuch des Beschwerdeführers sowohl nach Bst. a als auch nach Bst. c geprüft hat. In Bezug auf die erste Personengruppe hat das SEM festgestellt, dass der ukrainische Beschwerdeführer seinen Wohnsitz im massgeblichen Zeitpunkt nicht in der Ukraine hatte. Betreffend die dritte Personengruppe gelangte das SEM sodann zum Ergebnis, der Beschwerdeführer könne «in Sicherheit und dauerhaft» nach Russland zurückkehren. Dass dies auch der rechtlich vertretene Beschwerdeführer so verstanden hat und er deshalb ohne Weiteres in der Lage war, die Verfügung des SEM sachgerecht anzufechten, geht aus der Begründung seiner Beschwerde hervor (vgl. Beschwerde, S. 7 ff.: «i. Schutzgewährung gestützt auf lit. a», Beschwerde, S. 9 ff.: «ii. Schutzgewährung gestützt auf lit. c»). Die Begründungspflicht wurde demnach nicht verletzt.

5.5.2  Weiter fällt auch die beantragte Rückweisung zur ergänzenden Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts - soweit das Verfahren um Gewährung vorübergehenden Schutzes betreffend - ausser Betracht. In Bezug auf den letzten Wohnsitz des Beschwerdeführers gibt das Protokoll der Kurzbefragung hinreichend Aufschluss. Auch aus den Ausführungen in der Beschwerde ergibt sich kein Bedarf für zusätzliche Abklärungen.

Allfällige ergänzende Abklärungen mit Blick auf eine mögliche Gefährdung des Beschwerdeführers in Russland erübrigen sich - wiederum soweit das Verfahren um Gewährung vorübergehenden Schutzes betreffend - ebenfalls. Der Beschwerdeführer kann aufgrund seiner ukrainischen Staatsangehörigkeit wie gezeigt (vgl. oben E. 5.3) nicht unter die Personengruppe von Bst. c fallen. Somit stellt sich die Frage gar nicht, ob er «in Sicherheit und dauerhaft» nach Russland zurückkehren kann. Eine persönliche Gefährdung des Beschwerdeführers wäre vielmehr in einem ordentlichen Asylverfahren zu prüfen (vgl. unten E. 6.2).

5.6  Nach dem Gesagten kommt das Gericht zum Schluss, dass das SEM das Gesuch des Beschwerdeführers um vorübergehenden Schutz zu Recht abgelehnt hat.

6.   

6.1  Beabsichtigt das SEM, den vorübergehenden Schutz zu verweigern, so setzt es das Verfahren über die Anerkennung als Flüchtling oder das Wegweisungsverfahren unverzüglich fort (Art. 69 Abs. 4 AsylG), wobei eine Anhörung zu den Asylgründen nach Art. 29 AsylG durchzuführen wäre, falls um Schutz im Sinne von Art. 18 AsylG ersucht wird (vgl. Urteil des BVGer E-2877/2022 vom 6. Juli 2022). Als Asylgesuch gilt gemäss Art. 18 AsylG jede Äusserung mit der eine Person zu erkennen gibt, dass sie die Schweiz um Schutz vor Verfolgung ersucht. Diesbezüglich gilt ein weiter Verfolgungsbegriff, der über die ernsthaften Nachteile nach Art. 3 AsylG hinausreicht (vgl. BVGE 2013/10 E. 7.4.1 m.w.H.).

6.2  Der Beschwerdeführer brachte in der Kurzbefragung und auf Beschwerdeebene vor, er sei mit der Politik Russlands nicht einverstanden und habe deshalb am 26. Februar 2022 einen «Telegram»-Kanal und kurz darauf einen «Telegram»-Chat erstellt. Dort habe er sich mit anderen Ukrainer/-innen in Russland ausgetauscht und regierungskritisch geäussert. Deswegen habe er ab dem 21. März 2022 mehrere anonyme Anrufe erhalten. Er habe sich davor gefürchtet, in Russland als politischer Dissident verfolgt zu werden. Die anonymen Anrufe hätten seine Ausreise aus Russland beschleunigt. In der Eingabe vom 18. Oktober 2022 macht er zusätzlich geltend, sich aufgrund der Teilmobilmachung in Russland nun auch vor einer Einziehung ins russische Militär zu fürchten. Diese Vorbringen fallen klarerweise unter den weiten Verfolgungsbegriff, weshalb das Schutzersuchen des Beschwerdeführers als Asylgesuch im Sinne von Art. 18 AsylG zu qualifizieren ist.

Daran ändern die Ausführungen des Beschwerdeführers in der Replik nichts, wonach sich die Frage, ob er die Flüchtlingseigenschaft erfülle, vorliegend gar nicht stelle. Die rechtliche Qualifikation der Parteivorbringen obliegt dem Bundesverwaltungsgericht und erfolgt von Amtes wegen (vgl. Urteil des BVGer B-1183/2020 vom 4. Februar 2022 E. 7.3 m.w.H.). Demgegenüber steht es dem Beschwerdeführer frei, ob er auf eine Prüfung seines Gesuchs im Rahmen eines Asylverfahrens verzichten will. Dabei kann aus seinen Ausführungen in der Replik jedoch nicht leichthin geschlossen werden, er habe tatsächlich auf die Durchführung eines solchen Verfahrens verzichten wollen, zumal seine diesbezüglichen Äusserungen in direktem Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen von Bst. c der Allgemeinverfügung vom 11. März 2022 standen.

6.3  Nach dem Gesagten hat das SEM Bundesrecht verletzt, soweit es in der angefochtenen Verfügung die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz und dem Schengen-Raum angeordnet hat (Dispositivziffern 2-4).

7. 
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt wird. Die Dispositivziffern 2 - 4 der Verfügung vom 7. Juni 2022 sind aufzuheben, und die Sache ist gestützt auf Art. 61 Abs. 1 VwVG zur Fortsetzung als ordentliches Asylverfahren im Sinne der Erwägungen an das SEM zurückzuweisen. Hierfür sind ihm die Akten zu überweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen.

8.   

8.1  Bei diesem Ausgang des Verfahrens (hälftiges Obsiegen) wären die um die Hälfte reduzierten Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen. Nachdem jedoch das in der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 65 Abs. 1 VwVG) mit Zwischenverfügung vom 7. Juli 2022 gutgeheissen worden ist, und keine Veränderung der finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers eingetreten ist, sind vorliegend keine Verfahrenskosten zu erheben.

8.2  Dem Beschwerdeführer ist in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine reduzierte Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten auszurichten. Es wurde keine Kostennote eingereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Angesichts des hälftigen Obsiegens ist die vom SEM auszurichtende Parteientschädigung gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9-13 VGKE) auf pauschal Fr. 800.- festzusetzen.

 

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit damit die Aufhebung der Dispositivziffern 2-4 der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung an die Vorinstanz beantragt wird. Im Übrigen (Ablehnung des Gesuchs um vorübergehenden Schutz) wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Verfügung des SEM vom 7. Juni 2022 wird hinsichtlich der Dispositivziffern 2-4 aufgehoben, und die Sache wird zur Durchführung eines ordentlichen Asylverfahrens im Sinne der Erwägungen an das SEM zurückgewiesen.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4. 
Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine reduzierte Parteientschädigung von Fr. 800.- auszurichten.

5. 
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

 

Der vorsitzende Richter:

Der Gerichtsschreiber:

 

 

Thomas Segessenmann

Daniel Widmer

 

 

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