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Abteilung IV

D-2161/2022

 

 

 

 

 

Urteil vom 25. Mai 2022

Besetzung

 

Einzelrichter Thomas Segessenmann,

mit Zustimmung von Richter David R. Wenger;

Gerichtsschreiberin Selina Sutter.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

Ukraine,

B._______, geboren am (...),

C._______, geboren am (...),

beide Lettland,

alle vertreten durch Elia Menghini,

(...),

Beschwerdeführende,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

 

 

 

Gegenstand

 

Verweigerung vorläufiger Schutz;

Verfügung des SEM vom 3. Mai 2022 / N (...).

 

 

 


Sachverhalt:

A.   

A.a  Die Beschwerdeführenden, ein lettischer Staatsbürger (nachfolgend: Beschwerdeführer), seine Ehefrau mit ukrainischer Staatsbürgerschaft (nachfolgend: Beschwerdeführerin), sowie ihr gemeinsamer einjähriger Sohn mit lettischer Staatsbürgerschaft, reisten am 2. März 2022 in die Schweiz ein und stellten am 21. März 2022 im Bundesasylzentrum D._______ ein Gesuch zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes. Am 12. April 2022 fand die mündliche Kurzbefragung statt.

A.b  Im Rahmen ihrer Kurzbefragung gaben die Beschwerdeführenden an, der Beschwerdeführer lebe seit dem Jahr 2005 oder 2006 in der Ukraine - zuerst mit einer befristeten, später mit einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung; er habe keine Verwandten mehr in Lettland. Sie seien seit 2017 verheiratet und hätten ein gemeinsames Kind, welches - wie der Beschwerdeführer - nur über die lettische Staatsangehörigkeit verfüge. Ihr Wohnsitz sei in Kiew gewesen. Sie hätten die Ukraine aufgrund des Krieges am 1. März 2022 verlassen und seien auf Einladung ihres Gastgebers in die Schweiz gereist.

A.c  Der Beschwerdeführer reichte einen lettischen Reisepass (gültig von 7. Oktober 2021 bis 6. Oktober 2031) und eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung für die Ukraine (Ausstellungsdatum 20. September 2012) zu den Akten. Die Beschwerdeführerin reichte einen ukrainischen Reisepass (gültig von 30. April 2021 bis 30. April 2031) ein. Ausserdem reichten die Beschwerdeführenden den lettischen Reisepass (gültig von 12. Februar 2021 bis 11. Februar 2023) ihres Kindes zu den Akten.

B. 
Mit Verfügung vom 3. Mai 2022 - eröffnet am 6. Mai 2022 - lehnte das SEM das Gesuch um vorübergehenden Schutz ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug der Wegweisung nach Lettland an.

C. 
Mit Eingabe vom 11. Mai 2022 erhoben die Beschwerdeführenden durch ihren Rechtsvertreter beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragten die vollumfängliche Aufhebung der Verfügung des SEM und die Gewährung von vorübergehendem Schutz. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung und rechtsgenügenden Begründung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter sei festzustellen, dass der Vollzug der Wegweisung nach Lettland unzumutbar beziehungsweise unzulässig sei, womit sie vorläufig in der Schweiz aufzunehmen seien. In verfahrensrechtlicher Sicht ersuchten sie, es sei ihnen die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren, ihr Rechtsvertreter als amtlicher Rechtsbeistand einzusetzen und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.

Die Beschwerdeführenden reichten unter anderem eine Kopie des spanischen Geburtszertifikats ihres Kindes vom 1. Februar 2021 und eine Kopie ihrer ukrainischen Eheurkunde vom 28. Februar 2017 zu den Akten.

D. 
Am 12. Mai 2022 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - so auch vorliegend - endgültig (Art. 72 i.V.m. Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

1.2  Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG und dem VGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

1.3  Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 AsylG sowie Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 72 i.V.m. Art. 108 Abs. 6 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG).

2. 
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3. 
Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 72 i.V.m. Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachfolgend aufgezeigt, handelt es sich um eine solche, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 72 i.V.m. Art. 111a Abs. 2 AsylG). Gestützt auf Art. 72 i.V.m. Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde zudem auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.

4.   

4.1  Gestützt auf Art. 4 AsylG kann die Schweiz Schutzbedürftigen für die Dauer einer schweren allgemeinen Gefährdung, insbesondere während eines Krieges oder Bürgerkrieges sowie in Situationen allgemeiner Gewalt, vorübergehenden Schutz gewähren. Der Bundesrat entscheidet, ob und nach welchen Kriterien Gruppen von Schutzbedürftigen vorübergehender Schutz gewährt wird (Art. 66 Abs. 1 AsylG). Ehegatten von Schutzbedürftigen und ihren minderjährigen Kindern wird gemäss Art. 71 Abs. 1 AsylG vorübergehender Schutz gewährt, wenn sie gemeinsam um Schutz nachsuchen und keine Ausschlussgründe nach Art. 73 AsylG vorliegen (Bst. a) oder wenn die Familie durch Ereignisse nach Art. 4 AsylG getrennt wurde, sich in der Schweiz vereinigen will und keine besonderen Gründe dagegen sprechen (Bst. b).

4.2  Am 11. März 2022 hat der Bundesrat gestützt auf Art. 66 Abs. 1 AsylG eine Allgemeinverfügung zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine erlassen (BBI 2022 586). Gemäss Ziff. I Bst. a der Allgemeinverfügung gehören zur Gruppe der schutzberechtigten Personen insbesondere schutzsuchende ukrainische Staatsbürgerinnen und -bürger und ihre Familienangehörigen (Partnerinnen und Partner, minderjährige Kinder und andere enge Verwandte, welche zum Zeitpunkt der Flucht ganz oder teilweise unterstützt wurden), welche vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine wohnhaft waren.

5. 
Das SEM führte zur Begründung der angefochtenen Verfügung aus, der Beschwerdeführer gehöre nicht zu der vom Bundesrat definierten Gruppe der schutzberechtigten Personen, weil er die lettische Staatsbürgerschaft besitze und es keine Anhaltspunkte gebe, die dagegen sprächen, mit seiner Familie in Sicherheit und dauerhaft nach Lettland zu gehen. Zudem besitze auch das gemeinsame Kind die lettische Staatsangehörigkeit. Das Gesuch um Gewährung des vorübergehenden Schutzes sei deshalb abzuweisen.

Weiter seien aus den Akten keine Gründe ersichtlich, die gegen die Zumutbarkeit der Rückführung nach Lettland sprechen würden. Auch die von den Beschwerdeführenden geltend gemachten Befürchtungen, in Lettland Feindseligkeiten ausgesetzt zu sein, würden daran nichts ändern.

6.   

In der Beschwerdeschrift machen die Beschwerdeführenden namentlich geltend, das SEM sei zu Unrecht zum Schluss gelangt, dass sie nicht in die Personenkategorie nach Bst. a der Allgemeinverfügung des Bundesrates vom 11. März 2022 fallen würden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht rügen die Beschwerdeführenden zudem eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, insbesondere der Begründungspflicht.

7.   

7.1  Aus den eingereichten Beweismitteln geht hervor, dass der Beschwerdeführer lettischer Staatsangehöriger ist und über eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung in der Ukraine verfügt. Ausserdem ist erstellt, dass er der Ehemann der Beschwerdeführerin und Vater des gemeinsamen Kindes ist, welches ebenfalls die lettische Staatsbürgerschaft besitzt (vgl. SEM-Akten [...]1/24; Beschwerdebeilagen 4 - 8).

7.2  Die Vorinstanz äussert sich in der angefochtenen Verfügung nicht zu der zentralen Frage, weshalb die Beschwerdeführerin als ukrainische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen (ihr Ehemann und das gemeinsame einjährige Kind mit lettischer Staatsangehörigkeit) nicht unter die Personenkategorie von Ziff. I Bst. a der Allgemeinverfügung des Bundesrates vom 11. März 2022 fallen sollen (vgl. Ziff. II/3 der SEM-Verfügung). Das durch die Vorinstanz vorgenommene vorrangige Abstellen auf die lettische Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers vermag nichts am grundsätzlichen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung des vorübergehenden Schutzes zu ändern.

Soweit die Vorinstanz sodann ausführt, den Beschwerdeführenden könne zugemutet werden, sich nach Lettland zu begeben, ist nicht ersichtlich, ob sich das SEM damit auf das Vorliegen besonderer Umstände gemäss Art. 71 Abs. 1 Bst. b AsylG berufen will oder ob es die Inanspruchnahme des vorübergehenden Schutzes in der Schweiz aufgrund der möglichen Schutzalternative der Familie in Lettland allenfalls als rechtsmissbräuchlich erachtet. In Bezug auf Art. 71 Abs. 1 Bst. b AsylG gilt es festzuhalten, dass diese Bestimmung gemäss dem Willen des Gesetzgebers nur auf Fälle anwendbar ist, in welchen die Familie durch Ereignisse nach Art. 4 AsylG getrennt wurde. Dem Bundesrat wird bei der Festlegung der Aufnahmekriterien zwar weitgehend freies Ermessen eingeräumt (vgl. Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 4. Dezember 1995 [95.088], BBl 1996 II 1 ff. [nachfolgend: Botschaft], S. 78). Die Allgemeinverfügung des Bundesrates vom 11. März 2022 enthält jedoch in Ziff. I Bst. a keine entsprechende Einschränkung für binationale Paare. Demgegenüber hat der Bundesrat in Bezug auf die vorliegend nicht in Frage stehende Kategorie von Ziff. I Bst. c ausdrücklich eine Einschränkung statuiert, wonach Schutzsuchenden anderer Nationalität oder Staatenlosen kein vorübergehender Schutz zu gewähren ist, wenn sie in Sicherheit und dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können. Schliesslich begründet das SEM auch nicht, inwiefern allenfalls ein Ausschluss der Beschwerdeführenden von der Gewährung vorübergehenden Schutzes angezeigt sein könnte (vgl. Art. 71 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 73 AsylG).

Indem die Vorinstanz nicht auf den grundsätzlichen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Gewährung vorübergehenden Schutzes eingegangen ist und sich auch nicht beziehungsweise nicht hinreichend klar dazu geäussert hat, gestützt auf welche rechtlichen Bestimmungen sie das Gesuch um Gewährung vorübergehenden Schutzes der Beschwerdeführenden abgelehnt hat, hat sie ihre Pflicht zur gehörigen Begründung der Verfügung verletzt.

7.3  Weiter fällt auf, dass die Vorinstanz bezüglich des letzten Wohnsitzes der Beschwerdeführenden keine vertieften Abklärungen vornahm. Die Beschwerdeführenden wurden gefragt, ob sie in der Ukraine auch an anderen Wohnorten als in Kiew gelebt hätten (vgl. SEM-Akten [...]3/5 S. 3 und 2/5 S. 2). Auf die Frage eines möglichen (letzten) Wohnsitzes ausserhalb der Ukraine wurde nicht näher eingegangen, obwohl der Beschwerdeführer angab, sich für die Beschaffung des lettischen Reisepasses für seinen Sohn in Lettland aufgehalten zu haben (vgl. SEM-Akten [...]3/5 S. 2). Die - ansonsten bestens dokumentierten - Beschwerdeführenden reichten sodann keine Beweismittel ein, die Kiew als ihren letzten Wohnort vor der Reise in die Schweiz bestätigen würden. Schliesslich legten die Beschwerdeführenden mit der Beschwerde das spanische Geburtszertifikat ihres Kindes zu den Akten. Diese Urkunde legt nahe, dass sich die Beschwerdeführenden im Jahr 2021 für eine gewisse Zeit in Spanien aufgehalten haben. Bei dieser Sachlage bestehen gewisse Zweifel an den Angaben der Beschwerdeführenden in den Kurzbefragungen betreffend ihren (letzten) Wohnsitz in Kiew. Der rechtserhebliche Sachverhalt erweist sich somit im aktuellen Zeitpunkt als unvollständig erstellt.

7.4  Schliesslich erweist sich auch die Rechtsmittelbelehrung als fehlerhaft. Es ist nicht ersichtlich und wird vom SEM auch nicht weiter begründet, weshalb die Beschwerdefrist - wie in der angefochtenen Verfügung angegeben - in Anwendung von Art. 108 Abs. 3 AsylG fünf Arbeitstage betragen soll. Art. 108 Abs. 3 AsylG ist anwendbar auf Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, Entscheide am Flughafen (Art. 23 Abs. 1 AsylG) sowie auf Ablehnungen ohne weitere Abklärungen bei Asylgesuchen aus sicheren Heimat- oder Herkunftsstaaten (Art. 40 i.V., Art. 6a Abs. 2 AsylG). Es liegt hier keine dieser Fallkonstellationen vor.

Das 4. Kapitel des Asylgesetzes über die Gewährung vorübergehenden Schutzes sieht keine spezifische Frist vor, innert welcher Beschwerden gegen die Verweigerung vorübergehenden Schutzes zu erheben ist. Soweit die Art. 66 ff. AsylG keine besonderen Bestimmungen enthalten, finden gemäss Art. 72 AsylG auf die Verfahren nach den Art. 68, 69 und 71 AsylG die Bestimmungen des 1., des 2a. und des 3. Abschnitts des 2. Kapitels sinngemäss Anwendung; auf die Verfahren nach den Art. 69 und 71 AsylG finden die Bestimmungen des 8. Kapitels sinngemäss Anwendung. Zur sinngemässen Anwendung von Verfahrensvorschriften führte der Bundesrat in seiner Botschaft vom 4. Dezember 1995 aus, dass die allgemeinen Regeln des Asylverfahrens auch für die Gewährung vorübergehenden Schutzes gelten sollen (vgl. Botschaft, S. 82). Im Zeitpunkt der Einführung der Regelung über die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Asylgesetz galt für sämtliche Beschwerden im Asylbereich eine Beschwerdefrist von 30 Tagen (vgl. Art. 6 i.V.m. Art. 50 VwVG). Mithin ging der historische Gesetzgeber davon aus, für Verfahren wie das vorliegende gelte eine
30-tägige Beschwerdefrist.

Im heutigen Zeitpunkt sieht Art. 108 AsylG für verschiedene Arten von Verfahren im Asylbereich unterschiedliche Beschwerdefristen vor (vgl. Art. 108 Abs. 1 - 3 AsylG). Soweit das Asylgesetz keine spezifische Beschwerdefrist vorsieht, kommt jedoch auch heute noch bei materiellen Verfahren jeweils die 30-tägige Beschwerdefrist des Auffangtatbestands von Art. 108 Abs. 6 AsylG zur Anwendung; dies ist beispielsweise der Fall bei Gesuchen um Familiennachzug, Zweitasyl oder bei Mehrfachgesuchen. Die gleiche Frist gilt gemäss Art. 108 Abs. 2 AsylG für die erweiterten Asylverfahren. Aufgrund des klar eruierbaren historischen Willens des Gesetzgebers und mangels einer spezifischen Norm, welche im heutigen Zeitpunkt die sinngemässe Anwendung einer kürzeren Beschwerdefrist für die vorliegende Fallkonstellation zwingend nahelegen würde, kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass hier sinngemäss auf Art. 108 Abs. 6 AsylG abzustellen ist. Gegen die Verweigerung des vorübergehenden Schutzes kann demnach innerhalb von 30 Tagen beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde erhoben werden.

Vorliegend ist den Beschwerdeführenden aus der mangelhaften Eröffnung der Verfügung zwar kein Rechtsnachteil erwachsen (Art. 35 Abs. 1 i.V.m. Art. 38 VwVG). Es muss jedoch befürchtet werden, dass es sich nicht bloss um ein einmaliges Versehen der Vorinstanz handelt, sondern dass die mangelhafte Rechtsmittelbelehrung auch in anderen Verfahren verwendet wurde.

8.   

8.1  Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine Kassation und Rückweisung an die Vorinstanz ist insbesondere angezeigt, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist (vgl. WEISSENBERGER/HIRZEL, Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2016, Art. 61 VwVG, N 16 S.1264). Die in diesen Fällen fehlende Entscheidungsreife kann grundsätzlich zwar auch durch die Beschwerdeinstanz selbst hergestellt werden, wenn dies im Einzelfall aus prozessökonomischen Gründen angebracht erscheint; sie muss dies aber nicht (vgl. BVGE 2012/21 E. 5).

8.2  Im vorliegenden Fall ist die Sache an das SEM zurückzuweisen, zumal - wie bereits erwähnt - die angefochtene Verfügung in mehrfacher Hinsicht verfahrensrechtliche Mängel aufweist.

9. 
Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen, soweit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung beantragt worden ist, und die Sache ist im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zur vollständigen Sachverhaltsabklärung und zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

10.   

10.1  Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und der Antrag auf Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses werden damit gegenstandslos.

10.2  Angesichts des Obsiegens ist den vertretenen Beschwerdeführenden in Anwendung von Art. 64 Abs. 1 VwVG und Art. 7 ff. des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]) eine Parteientschädigung im Rahmen der zusammen mit der Beschwerdeschrift eingereichten Kostennote zuzusprechen. Der dort in Rechnung gestellte zeitliche Aufwand ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als hoch, aber noch angemessen zu beurteilen. Gestützt auf die Kostennote ist den Beschwerdeführenden zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'853.60.- (inkl. Auslagen) zuzusprechen. Die Parteientschädigung umfasst keinen Mehrwertsteuerzuschlag im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Bst. c VGKE.

 

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit damit die Aufhebung der angefochtenen Verfügung verlangt worden ist.

2. 
Die Verfügung (Dispositivziffern 1, 2, 3 und 4) des SEM vom 3. Mai 2022 wird aufgehoben und die Sache wird im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zur vollständigen Sachverhaltsabklärung und zur Neubeurteilung zurückgewiesen.

3. 
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4. 
Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'853.60.- auszurichten.

5. 
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

 

Der Einzelrichter:

Die Gerichtsschreiberin:

 

 

Thomas Segessenmann

Selina Sutter

 

 

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