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Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i.S. A., B., C. und D. gegen Staatssekretariat für Migration
E 6330/2015 vom 7. Dezember 2015

Asyl. Verfahrensgarantien. Geschlechtsspezifische Verfolgung.

Art. 17 Abs. 2 AsylG. Art. 6 AsylV 1.

Verfahrensvorschriften bei Hinweisen auf geschlechtsspezifische Verfolgung (E. 5).

Asile. Garanties de procédure. Persécution de nature sexuelle.

Art. 17 al. 2 LAsi. Art. 6 OA 1.

Règles de procédure particulières en présence d'indices de persé­cution de nature sexuelle (consid. 5).

Asilo. Garanzie procedurali. Persecuzione di natura sessuale.

Art. 17 cpv. 2 LAsi. Art. 6 OAsi 1.

Norme procedurali particolari in caso di sospetta persecuzione di natura sessuale (consid. 5).

 

B. verliess die Türkei eigenen Angaben zufolge in Begleitung ihres Sohnes C. Anfang April 2012 und gelangte am 8. April 2012 in die Schweiz, wo sie am 11. April 2012 im Empfangs- und Verfahrenszentrum Basel um Asyl nachsuchte. Am 24. April 2012 fand die Befragung zur Person (BzP) und am 19. Juni 2015 die Anhörung zu ihren Asylgründen statt.

Mit am 4. September 2015 eröffneter Verfügung vom 2. September 2015 stellte das Staatssekretariat für Migration (SEM) fest, die Beschwerdefüh­renden und ihre Kinder erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte ihre Asylgesuche ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug an.

Mit Rechtsmitteleingabe vom 5. Oktober 2015 gelangten die Beschwerde­führenden durch ihren Rechtsvertreter an das Bundesverwaltungsgericht und beantragten in materieller Hinsicht die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur ergän­zenden Sachverhaltsabklärung und zur neuen Entscheidung. Eventualiter sei ihnen unter Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft Asyl zu gewäh­ren, subeventualiter die vorläufige Aufnahme anzuordnen.

Mit Eingabe vom 4. November 2015 reichte der Rechtsvertreter eine Ver­tretungsvollmacht von B. (nachfolgend: Beschwerdeführerin) und einen fachärztlichen Bericht des Psychiatrie-Teams Stans vom 2. November 2015 betreffend die Beschwerdeführerin zu den Akten.

Diesem Bericht könne unter anderem die Diagnose (depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, posttraumatische Belastungsstörung, schwere psychosoziale Belastungsstörung) und die Anamnese (sie sei mehrere Male vergewaltigt, anschliessend im Gesicht und am Oberkörper « beschmutzt » worden) entnommen werden. Gestützt darauf sei die Be­schwerdeführerin derzeit aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht nicht reisefähig und eine Rückführung an den Ort des Geschehens könne zu einer massiven Retraumatisierung mit Suizidalität führen.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut, hebt die vorin­stanzliche Verfügung auf und weist die Sache ans SEM zurück. Das Staats­sekretariat wird angewiesen, die Beschwerdeführerin durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anzuhören, den rechtserheblichen Sach­verhalt richtig respektive vollständig festzustellen und über die Asylge­suche neu zu entscheiden.

Aus den Erwägungen:

5.                    

5.1                In der Rechtsmitteleingabe wird unter anderem zur unvollstän­digen Sachverhaltsermittlung vorgebracht, bei der BzP respektive Anhö­rung der Beschwerdeführerin falle insbesondere auf, dass trotz klaren Andeutungen auf sexuellen Missbrauch seitens der türkischen Polizei keine Nachfrage erfolgt sei. Sie habe bereits bei der BzP geltend gemacht, sie sei von den Polizisten belästigt worden, sie habe Todesdrohungen er­halten und sie sei von den Nachbarn als « Terroristin » beschimpft worden. Auch bei der Anhörung habe sie die Übergriffe der Polizisten erwähnt und ausgesagt, sie hätten sie angeschrien, die Bettsachen auf den Boden gewor­fen, die Schubladen gezogen und dann hätten sie sie angefasst. Des Weite­ren habe sie die aufgemalte Todesdrohung an der Hauswand erwähnt. Diesbezügliche Nachfragen seien unterblieben und die Beschwerdefüh­rerin sei auch nicht zur Verfolgung von Familienangehörigen befragt wor­den, obwohl sie bei der BzP diesbezüglich erwähnt habe, ihre Grossmutter mütterlicherseits sei umgebracht worden und ihr Onkel mütterlicherseits befinde sich im Gefängnis. Das Unterbleiben von Nachfragen zu den poli­zeilichen Übergriffen erscheine umso erstaunlicher, als die Beschwerde­führerin bei ihren Erzählungen zu weinen begonnen und « nicht bloss » mit zittriger Stimme gesprochen habe, was dem beigelegten Bericht der anwesenden Hilfswerkvertreterin entnommen werden könne.

Angesichts dessen, dass es für sie stark belastend gewesen sei, über die Geschehnisse während der Hausdurchsuchung zu sprechen, sei nicht nach­vollziehbar, dass eine Nachfrage unterblieben sei. In Anbetracht der Um­stände sei offensichtlich, dass die Beschwerdeführerin ihre Gefährdungs­situation nicht aufschlussreich habe darlegen können. Es sei ihr angesichts der ausgebliebenen Ergänzungsfragen seitens der männlichen Befrager bei der BzP und der Anhörung nicht möglich gewesen, von der erlittenen Ver­gewaltigung durch die Polizisten zu erzählen. Die Konfrontation mit dem negativen Asylentscheid habe bei ihr eine schwere psychische Reaktion hervorgerufen.

Die Vorinstanz habe angesichts dieser Umstände Verfahrensvorschriften verletzt, weil sie verpflichtet gewesen wäre, bei diesen konkreten Hinwei­sen auf geschlechtsspezifische Verfolgung die Anhörung durch eine Per­son gleichen Geschlechts durch- respektive weiterzuführen. Ferner sei ihre Situation durch den speziellen Befragungsstil des Sachbearbeiters zusätz­lich erschwert worden. Aus dem eingereichten Bericht ergebe sich, dass es der Dolmetscher offenbar für nötig erachtet habe, die Beschwerdeführerin über die « etwas spezielle Charakterart des Sachbearbeiters aufzuklären, damit dies die [Beschwerdeführerin] nicht verwirrt ». Die Anhörung habe offensichtlich unter Umständen stattgefunden, die es verunmöglicht hät­ten, ein offenes Gespräch zu führen. Nach dem Geschilderten werde er­sichtlich, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt nicht voll­ständig abgeklärt habe, weshalb die Sache zur vertieften Abklärung des Sachverhalts zurückzuweisen und die (zu wiederholende) Anhörung der Beschwerdeführerin von einem weiblichen Befragungsteam durchzufüh­ren sei.

5.2                Gemäss Art. 17 Abs. 2 AsylG (SR 142.31) in Verbindung mit Art. 6 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) wird die asylsuchende Person von einer Person gleichen Geschlechts be­fragt, wenn konkrete Hinweise auf geschlechtsspezifische Verfolgung vor­liegen. Geschlechtsspezifisch ist die Verfolgung dann, wenn sie in der Form sexueller Gewalt stattfindet oder die sexuelle Identität des Opfers treffen soll (Entscheidungen und Mitteilungen der [vormaligen] Schwei­zerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2003 Nr. 2 E. 5a und b). Das Geschlecht soll nach Möglichkeit auch bei der Auswahl der Personen, die als Dolmetscher eingesetzt werden und das Protokoll führen, berücksich­tigt werden. Art. 6 AsylV 1 der bei Frauen und Männern gleichermassen Anwendung findet ist eine Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs, mithin eine Schutzvorschrift, deren Zweck es ist, dass asylsuchende Personen ihre Vorbringen angemessen vortragen, das heisst konkret erlittene Übergriffe möglichst frei und unbeeinträchtigt von Schamgefühlen schildern können. Gleichzeitig dient sie dazu, die Richtigkeit der Sachverhaltsabklärung zu gewährleisten. Da diese Schutzvorschrift nicht bloss ein Recht der asyl­suchenden Person beinhaltet, eine solche Befragung zu verlangen, sondern die Behörde dazu verpflichtet, in der vorgesehenen Weise vorzugehen, sobald entsprechende Hinweise vorliegen, ist sie von Amtes wegen an­zuwenden. Ein Verzicht der betroffenen asylsuchenden Person auf die Be­fragung durch eine Person gleichen Geschlechts könnte nur dann ange­nommen werden, wenn er ausdrücklich erklärt wird (EMARK 2003 Nr. 2 E. 5b/dd und 5c).

5.3                Bereits mit der Aussage der Beschwerdeführerin anlässlich der BzP vom 24. April 2012, die zivilen Polizeibeamten hätten bei den Haus­durchsuchungen respektive Razzien nicht nur sie, sondern auch ihren
Sohn belästigt (...), lagen konkrete Hinweise auf eine geschlechtsspezi­fische Verfolgung (Eingriff in die sexuelle Identität) vor, welche zwingend (vgl.
EMARK 2003 Nr. 2 E. 5c; und unter anderen Urteile des BVGer
E 4285/2006 vom 25. November 2009; E 5321/2007 vom 22. September 2010; D 3161/2013 vom 19. November 2013; E 6707/2013 vom 14. Juli 2014) dazu Anlass hätten geben müssen, die Schutzvorschrift von Art. 6 AsylV 1 anzuwenden und die Beschwerdeführerin in der Folge durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anzuhören. Wie bereits vorste­hend (E. 5.2) erwähnt, ist Zweck der Schutzvorschrift von Art. 6 AsylV 1, dass asylsuchende Personen ihre Vorbringen angemessen vortragen, das heisst, konkret erlittene Übergriffe möglichst frei und unbeeinträchtigt von Schamgefühlen schildern können. Zudem dient sie dazu, die Richtigkeit der Sachverhaltsabklärung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdefüh­rerin aus Scham gegenüber den bei der Anhörung vom 19. Juni 2015 anwesenden Männern (Befrager und Dolmetscher) darauf verzichtet hat, ausführlicher über das bei den Hausdurchsuchungen Erlittene zu berich­ten. Angesichts der Tatsache, dass es der Befrager anlässlich der Anhörung unterlassen hat, die Beschwerdeführerin über ihre diesbezüglichen Rechte aufzuklären, kann ein (impliziter) Verzicht auf eine Anhörung durch ein reines Frauenteam ausgeschlossen werden.

5.4                Damit ergibt sich, dass das Staatssekretariat dadurch, dass es die Beschwerdeführerin trotz klaren Hinweisen auf eine geschlechtsspezi­fische Verfolgung sowohl bei der BzP als auch bei der Anhörung nicht durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anhören liess, den An­spruch auf rechtliches Gehör verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt unrichtig respektive unvollständig festgestellt und damit Bundesrecht verletzt hat. Angesichts der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör spielt von vornherein keine Rolle, ob die Missachtung der Verfah­rensvorschrift von Art. 6 AsylV 1 auch Einfluss auf das Ergebnis hatte.

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