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Auszug aus dem Urteil der Abteilung III
i.S. 56 Beschwerdeführerinnen gegen 110 Beschwerdegegnerinnen und Regierungsrat des Kantons Thurgau
C 2461/2013 und C 2468/2013 vom 28. August 2014

Krankenversicherung. Tarife für physiotherapeutische Leistungen in freier Praxis. Verhältnis zwischen kantonalen und nationalen Tarifen und nationalen Einzelleistungstarifstrukturen.

Art. 43 Abs. 4 und Abs. 5, Art. 46 Abs. 4, Art. 47 Abs. 1 KVG. Art. 59c KVV.

1.      Zustandekommen von gesamtschweizerischen oder kantonalen Tarifen sowie von gesamtschweizerisch einheitlichen Einzelleis­tungstarifstrukturen (E. 4.3 f. und 5.1).

2.      Fehlen einer gesamtschweizerisch einheitlichen Einzelleistungs­tarifstruktur für physiotherapeutische Leistungen in freier Pra­xis seit 1. Juli 2011 (E. 5.4 f.).

3.      Unzulässigkeit der Festsetzung eines kantonalen Tarifs auf der Basis einer weggefallenen gesamtschweizerischen Struktur oder dessen Herleitung von einer fiktiven nationalen Struktur (E. 5.5.4 und 5.6).

4.      Verpflichtung der Kantonsregierung, im vertragslosen Zustand im Sinne von Art. 59c KVV eine kantonsbezogene Sachverhalts­ermittlung zu gewährleisten und, basierend darauf, einen den Grundsätzen und Vorgaben des KVG (insb. Wirtschaftlichkeit, betriebswirtschaftliche Bemessung, sachgerechte Struktur, mög­lichst günstige Kosten) entsprechenden kantonalen Tarif festzu­setzen (E. 5.7).

Assurance-maladie. Tarifs des prestations des physiothérapeutes indépendants. Relation entre les tarifs cantonaux et nationaux et les structures nationales des tarifs à la prestation.

Art. 43 al. 4 et al. 5, art. 46 al. 4, art. 47 al. 1 LAMal. Art. 59c OAMal.

1.      Etablissement de tarifs nationaux ou cantonaux ainsi que de structures de tarifs à la prestation uniformes pour l'ensemble de la Suisse (consid. 4.3 s. et 5.1).

2.      Absence de structure des tarifs à la prestation uniforme pour l'ensemble de la Suisse en ce qui concerne les prestations
des physiothérapeutes indépendants depuis le 1er juillet 2011 (consid. 5.4 s.).

3.      Non-conformité de l'établissement d'un tarif cantonal basé sur une structure tarifaire nationale qui n'est plus applicable ou qui est déduit d'une structure nationale fictive (consid. 5.5.4 et 5.6).

4.      En l'absence de convention tarifaire, le gouvernement cantonal est tenu, en vertu de l'art. 59c OAMal, d'assurer une analyse de la situation dans le canton et, sur la base de celle-ci, de fixer un tarif cantonal conforme aux principes et aux exigences légales de la LAMal (en particulier: caractère économique, calcul selon les règles applicables en économie d'entreprise, structure appropriée et coûts les plus avantageux possibles) (consid. 5.7).

Assicurazione malattia. Tariffe per le prestazioni dei fisioterapisti indipendenti. Rapporto tra le tariffe cantonali e nazionali e le strut­ture tariffali nazionali per singola prestazione.

Art. 43 cpv. 4 e cpv. 5, art. 46 cpv. 4, art. 47 cpv. 1 LAMal. Art. 59c OAMal.

1.      Determinazione di tariffe nazionali o cantonali e fissazione di strutture tariffali per singola prestazione uniformi a livello svizzero (consid. 4.3 seg. e 5.1).

2.      Mancanza di una struttura tariffale per singola prestazione uni­forme a livello svizzero per le prestazioni dei fisioterapisti indi­pendenti a partire dal 1o luglio 2011 (consid. 5.4 seg.).

3.      Inammissibilità della fissazione di una tariffa cantonale fondata su una struttura nazionale non più applicabile o derivata da una struttura tariffale nazionale fittizia (consid. 5.5.4 e 5.6).

4.      In assenza di una convenzione tariffale, il governo cantonale è tenuto, ai sensi dell'art. 59c OAMal, a garantire l'esecuzione di un'analisi della situazione nel Cantone, e, sulla base di quest'ul­ti­ma, a fissare una tariffa cantonale conforme ai principi e alle disposizioni della LAMal (in particolare, economicità, cal­colo secon­do le regole dell'economia, struttura adeguata, costi il più possi­bile convenienti) (consid. 5.7).

 

Am 1. September 1997 schlossen der Schweizerische Physiotherapeuten­verband (SPV; heute: Schweizer Physiotherapieverband physioswiss [nachfolgend: physioswiss]) und das Konkordat Schweizerischer Kran­kenversicherer (KSK; heute: santésuisse) einen nationalen Tarif­vertrag für die Behandlung durch Physiotherapeuten in freier Praxis (nach­folgend: Nationaler Tarifvertrag 1998). Am 1. Juli 1998 genehmigte der Bundesrat diesen Tarifvertrag. Der « Tarif nach Anhang 1 » dieses Ver­trages wurde gleichzeitig « als gesamtschweizerisch geltende einheitliche Einzelleistungstarifstruktur » festgelegt. Nicht genehmigt wurde die zugleich unterbreitete Vereinbarung über einen Taxpunktwert von Fr. 1. . Im Oktober 2000 hielt der Bundesrat in einem Entscheid fest, dass der auf dem Nationalen Tarifvertrag basierende Modelltaxpunktwert auf Fr.  .94 festzulegen sei. Anhand der in diesem Entscheid verwendeten « Bundesratsformel » sei, gestützt auf diesen Taxpunktwert, der im je­weiligen Vertragskanton geltende Taxpunktwert zu berechnen. Der Tax­punktwert für frei praktizierende Physiotherapeuten wurde im Kanton Thurgau ab dem 1. Januar 2003 auf Fr.  .92 festgesetzt.

Im Dezember 2009 kündigte physioswiss den Nationalen Tarifvertrag per 30. Juni 2010 und im Juni 2011 alle kantonalen Tarifverträge per 31. Dezember 2011.

Mit Entscheid vom 7. Juni 2013 trat der Bundesrat auf ein Begehren von physioswiss um Festsetzung eines (neuen) Nationalen Taxpunktwertes nicht ein und hielt fest, die am 1. Juli 1998 genehmigte Tarifstruktur habe weiterhin Gültigkeit (nachfolgend: Nichteintretensentscheid).

Am 28. Februar 2012 verfügte der Regierungsrat, dass der Taxpunktwert für physiotherapeutische Leistungen in freier Praxis im Kanton Thurgau von Fr.  .92 weitergelte, ab 1. Januar bis 31. Dezember 2012. Mit Be­schluss vom 2. April 2013 stellte er fest, es liege ein vertragsloser Zustand vor, und setzte den Taxpunktwert für physiotherapeutische Leistungen in freier Praxis ab dem 1. Januar 2013 auf Fr.  .97 fest.

Gegen diesen Beschluss erhoben 47 Krankenversicherer, vertreten durch tarifsuisse (nachfolgend: tarifsuisse-Gruppe), am 1. Mai 2013 Beschwer­de und beantragten die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Rückweisung an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung. Eventualiter sei der Taxpunktwert in Gutheissung der Beschwerde auf Fr.  .85 ab 1. Januar 2013 festzusetzen. Am 2. Mai 2013 erhoben weitere 13 Kran­kenversicherer, vertreten durch die Helsana Versicherungen AG (nach­folgend: HSK-Gruppe), gegen den Regierungsratsbeschluss Beschwerde und beantragten ihrerseits die Aufhebung des Beschlusses und Rück­weisung zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz.

Mit Teilurteil vom 29. Januar 2014 entschied das Bundesver­wal­tungs­gericht, dass der Kantonalverband Schaffhausen/Thurgau und 109 Per­sonen (als Erbringerinnen physiotherapeutischer Leistungen im Kanton Thurgau) Parteistellung als Beschwerdegegnerinnen zukomme. Hingegen komme physioswiss und weiteren im Teilurteil aufgelisteten Personen keine Parteistellung als Beschwerdegegnerinnen zu.

Der zur Stellungnahme eingeladene Preisüberwacher empfahl mit Ein­gabe vom 13. März 2014 die Festsetzung des kantonalen Taxpunktwertes auf maximal Fr.  .90.

Im Juli 2014 wurden vier bis dahin zur tarifsuisse-Gruppe gehörige Krankenversicherer in einem separaten Verfahren unter einer neuen Verfahrensnummer erfasst.

Das Bundesverwaltungsgericht tritt auf die Beschwerden der Be­schwer­­deführerinnen 42 und 43 nicht ein, heisst die Beschwerden der Be­schwerdeführerinnen 1 41 vollständig und jene der Beschwerde­führer­innen 44 56 teilweise gut und hebt den angefochtenen Beschluss vom 2. April 2013 auf.

Aus den Erwägungen:

4.2                Die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) über­nimmt nach Art. 24 KVG (SR 832.10) die Kosten für die Leistungen gemäss den Artikeln 25 31 nach Massgabe der in den Artikeln 32 34 festgelegten Voraussetzungen. Als Leistungserbringer zulasten der OKP sind unter anderem Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, die ihren Beruf selbstständig und auf eigene Rechnung ausüben, und Orga­nisationen der Physiotherapie zugelassen (vgl. Art. 46 Abs. 1 Bst. a, Art. 47 und Art. 52a KVV [SR 832.102] i.V.m. Art. 35 Abs. 2 Bst. e und Art. 38 KVG; vgl. ausserdem Art. 4 Bst. e und Art. 5 der Krankenpflege-Leistungsverordnung vom 29. September 1995 [KLV, SR 832.112.31]).

4.3                Gemäss Art. 43 KVG erstellen die Leistungserbringer ihre Rechnungen nach Tarifen oder Preisen (Abs. 1). Der Tarif ist eine Grundlage für die Berechnung der Vergütung; er kann namentlich für die einzelnen Leistungen Taxpunkte festlegen und den Taxpunktwert bestim­men (Einzelleistungstarif [Abs. 2 Bst. b]). Tarife und Preise werden in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern (Tarifvertrag) vereinbart oder in den vom Gesetz bestimmten Fällen von der zu­stän­di­gen Behörde festgesetzt (Abs. 4 Satz 1). Kommt zwischen Leistungser­bringern und Versicherern kein Tarifvertrag zustande, so setzt die Kantonsregierung nach Anhören der Beteiligten den Tarif fest (Art. 47 Abs. 1 KVG).

4.4                Nach Art. 43 KVG ist bei der Tarifvereinbarung oder Fest­set­zung durch die zuständige Behörde auf eine betriebswirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struktur der Tarife zu achten. Bei Tarifverträgen zwischen Verbänden sind vor dem Abschluss die Orga­nisationen anzuhören, welche die Interessen der Versicherten auf kanto­naler oder auf Bundesebene vertreten (Abs. 4 Sätze 2 und 3). Einzel­leistungstarife müssen auf einer gesamtschweizerisch vereinbarten einheitlichen Tarifstruktur beruhen. Können sich die Tarifpartner nicht einigen, so legt der Bundesrat diese Tarifstruktur fest (Abs. 5). Der Bundesrat kann Anpassungen an der Tarifstruktur vornehmen, wenn sie sich als nicht mehr sachgerecht erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision einigen können (Abs. 5bis [in Kraft seit 01.01.2013]). Die Vertragspartner und die zuständigen Behörden achten darauf, dass eine qualitativ hochstehende und zweckmässige gesundheitliche Versorgung zu möglichst günstigen Kosten erreicht wird (Abs. 6). Die Leistungs­erbringer müssen sich an die vertraglich oder behördlich festgelegten Tarife und Preise halten und dürfen für Leistungen nach diesem Gesetz keine weitergehenden Vergütungen berechnen (Tarifschutz; Art. 44 Abs. 1 KVG). Der Tarifschutz in weit gefasster Definition umfasst die Pflicht der Leistungserbringer und Versicherer zur Einhaltung der mass­geblichen Tarife und Preise sowohl im gegenseitigen als auch im Verhältnis zu den Versicherten (vgl. Urteil des BGer 9C_252/2011 vom 14. Juli 2011 E. 3.1 m.H.).

4.5                Der Bundesrat kann Grundsätze für eine wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struktur sowie für die Anpassung der Tarife aufstellen. Er sorgt für die Koordination mit den Tarifordnungen der anderen Sozialversicherungen (Art. 43 Abs. 7 KVG). Nach Art. 59c KVV (in Kraft seit 1. August 2007 [AS 2007 3573]) prüft die Genehmi­gungsbehörde im Sinne von Artikel 46 Absatz 4 des Gesetzes, ob der Tarifvertrag namentlich folgenden Grundsätzen entspricht: a. Der Tarif darf höchstens die transparent ausgewiesenen Kosten der Leistung decken. b. Der Tarif darf höchstens die für eine effiziente Leistungs­er­bringung erforderlichen Kosten decken. c. Ein Wechsel des Tarifmodells darf keine Mehrkosten verursachen (Abs. 1). Die Vertragsparteien müssen die Tarife regelmässig überprüfen und anpassen, wenn die Er­füllung der Grundsätze nach Absatz 1 Buchstaben a und b nicht mehr gewährleistet ist. Die zuständigen Behörden sind über die Resultate der Überprüfungen zu informieren (Abs. 2). Die zuständige Behörde wendet die Absätze 1 und 2 bei Tariffestsetzungen nach den Artikeln 43 Ab­satz 5, 47 oder 48 des Gesetzes sinngemäss an (Abs. 3; vgl. auch Urteil des BVGer C 4961/2010 vom 18. September 2013 E. 4.3 m.H.).

5.                    

5.1                Im System des KVG bildet die Tarifvereinbarung zwischen den Tarifpartnern die Regel, das Eingreifen der Kantonsregierung die Aus­nahme. Voraussetzung für die behördliche Festsetzung ist, dass ein vertragsloser Zustand besteht, die Tarifverhandlungen zwischen den Par­teien tatsächlich gescheitert sind oder die Partner zumindest Gelegenheit hatten, eine Vereinbarung zu treffen (vgl. Urteil des BVGer C 1390/2008 vom 9. März 2011 E. 5.2; BVGE 2012/18 E. 5.7).

5.2                Unter den Parteien ist unumstritten, dass die Voraussetzungen für eine Tariffestsetzung durch die Kantonsregierung nach Art. 47 Abs. 1 KVG (kein bestehender Tarif, gescheiterte Tarifverhandlungen) gegeben sind. Die vom Regierungsrat verfügte Verlängerung des kantonalen Tarif­vertrages vom 20./25. Juni 2002 endete am 31. Dezember 2012 (...). Seit dem 1. Januar 2013 besteht somit ein vertragsloser Zustand. (...)

5.3                Umstritten ist vorliegend die Höhe des festzusetzenden kanto­nalen Taxpunktwertes. (...)

5.3.1 5.3.6 (...)

5.4                In Bezug auf die ab 1. Januar 2013 zur Bestimmung des kanto­nalen Taxpunktwerts zu verwendende Methode ist zunächst die Ent­stehungsgeschichte des Nationalen Tarifvertrags 1998 in Erinnerung zu rufen und danach aufzuzeigen, wie der kantonale Tarif während der Gültigkeit des Vertrags im Streitfall bestimmt wurde.

Im Verlaufe der zum Nationalen Tarifvertrag 1998 führenden Ver­handlungen einigten sich die Tarifpartner auf ein gesamtschweizerisches Kostenmodell eines Modellphysiotherapieinstituts (MPI; MPI-Kosten­modell). Dieses Modell bezieht sich auf damals empirisch ermittelte, normativ ergänzte und statistisch bereinigte Daten. Am 1. Juli 1998 genehmigte der Bundesrat mit Wirkung ab 1. Januar 1998 den Nationalen Tarifvertrag 1998, zusammen mit beiden Anhängen (Anhang 1: « Tarif »; Anhang 2: « Ausführungsbestimmungen »). Zugleich legte er den Tarif nach Anhang 1 dieses Vertrages als gesamtschweizerisch einheitliche Tarifstruktur für Einzelleistungstarife fest. Eine zugleich unterbreitete Vereinbarung über einen Taxpunktwert von Fr. 1. wurde hingegen nicht genehmigt mit der Begründung, dass der Taxpunktwert auf kantonaler Ebene von den Tarifpartnern zu vereinbaren sei. Ab dem 1. Januar 1998 wurde somit derselben Leistung in der ganzen Schweiz dieselbe Anzahl Taxpunkte zugeordnet. Eine kantonale Anpassung der Taxpunkte je Leistung war ausgeschlossen. Die Taxpunktwerte hingegen waren auf kantonaler Ebene zu vereinbaren und zu genehmigen oder subsidiär auf kantonaler Ebene hoheitlich festzusetzen.

Als Beschwerdeinstanz ging der Bundesrat im Falle der Uneinigkeit der kantonalen Tarifpartner zur Bestimmung des kantonalen Taxpunktwerts zunächst vom gesamtschweizerischen, als landesweit repräsentativ be­urteilten MPI-Kostenmodell aus, was dem Willen der Tarifpartner entspreche. Die Eckwerte des Kostenmodells zum MPI (Personal-, Sach- und Anlagenutzungskosten) dienten dabei grundsätzlich als Ausgangs­punkt für die Berechnung des kantonalen Taxpunktwerts, wobei der Bundesrat in seinem (diese Praxis begründenden) Entscheid vom 18. Oktober 2000 in Sachen Taxpunktwert für Physiotherapie in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden (in: Kranken- und Unfallversicherung Rechtsprechung und Verwaltungs­praxis [RKUV] 5/2001 S. 456 ff.) gewisse Korrekturen am MPI-Kosten­modell vornahm und hieraus einen nationalen Modelltaxpunktwert (...) in der Höhe von Fr.  .94 als rechnerische Ausgangsgrösse für die Bestimmung der kantonalen Taxpunktwerte ermittelte.

Zur Umrechnung von diesem nationalen auf den kantonalen Tax­punkt­wert benutzte der Bundesrat die Lohn- und Mietstrukturerhebung des Preisüberwachers (später des BSV), beide Indizes je Kanton. Die Formel dazu (sog. Bundesratsformel) lautete:

TpwK = Tpwn (m*M + I *L + r *100) / 100

TpwK = Taxpunktwert Kanton

Tpwn = Taxpunktwert national (fix: Fr.  .94)

m = Mietindex Kanton

M = Mietkostenanteil im MPI (11,4 %)

I = Lohnindex Kanton

L = Lohnkostenanteil im MPI (67,9 %)

r = Restkostenanteil im MPI (20,7 %)

Die Variablen Mietindex und Lohnindex des betroffenen Kantons, welche in die Berechnungsformel für die Anpassung des nationalen Taxpunktwertes an die lokalen Märkte einzusetzen sind, geben lediglich Auskunft über das (aktuelle) Verhältnis zum nationalen Ausgangswert, welcher dem (gewichteten) Durchschnitt sämtlicher kantonaler Tax­punktwerte entspricht. Veränderungen der kantonalen Werte im Ver­hältnis zum nationalen Durchschnitt sind demnach gesamtschwei­ze­risch betrachtet in sich neutral. Solange der nationale Ausgangswert von Fr.  .94 nicht erhöht wird, was der Bundesrat in seiner Recht­sprechung stets verweigert hat, ist eine über einen Ausgleich der inter­temporalen lokalen Märkte hinausgehende Erhöhung des Taxpunktwerts ausgeschlossen. Es handelt sich dabei um eine rein mathematische Berechnung. Der Einbezug weiterer Kriterien (namentlich Teuerung, Lohnerhöhungen für Spitalphysiotherapeuten und Mietindex eines anderen Kantons) wurde vom Bundesrat in seiner Rechtsprechung stets abgelehnt (vgl. RKUV 5/2001 S. 456 ff.; Bundesratsentscheid vom 25. Februar 2004 betreffend Festsetzung des Taxpunktwertes für die Leistungen der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten im Kanton Basel-Landschaft E. 7; Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 7. Dezember 2004 über die Praxis des Bundesrates betreffend hoheitliche Festlegung des Taxpunktwertes für Physiotherapieleistungen Ziff. 3.1 und 4.; Bundesratsentscheid vom 6. April 2005 betreffend Festsetzung des Taxpunktwertes für die Physiotherapieleistungen im Kanton Zürich E. 6.2). Eine Überprüfung der KVG-Konformität des auf diese Weise berechneten Taxpunktwerts war somit ausgeschlossen.

5.5                 

5.5.1           Anhand der in E. 5.4 beschriebenen Methode wurde der an­wendbare kantonale Taxpunktwert, basierend auf der im Nationalen Tarifvertrag 1998 als Anhang 1 enthaltenen nationalen Tarifstruktur, ermittelt. Es bestand somit eine direkte Verbindung zwischen der nationalen Tarifstruktur und dem kantonalen Taxpunktwert. Wenn eine Physiotherapieleistung in der nationalen Tarifstruktur enthalten war und ihr darin bestimmte Taxpunkte zugeordnet wurden, konnte mittels Multiplikation dieser Taxpunkte mit dem kantonalen Taxpunktwert der konkrete Frankenbetrag berechnet werden, den die OKP dem Leistungs­erbringer für diese Leistung zu vergüten hatte. Die Festsetzung eines kantonalen Taxpunktwerts kann somit nur Wirkung entfalten, wenn dieser in Bezug auf eine geltende nationale Tarifstruktur festgesetzt wird.

5.5.2           Es ist vorliegend unbestritten und offensichtlich, dass die vereinbarte und in Ziff. 1 des Bundesratsbeschlusses vom 1. Juli 1998 als Teil des Nationalen Tarifvertrages 1998 genehmigte nationale Tarif­struktur während der Geltungsdauer des Vertrages für die dem Vertrag beigetretenen Leistungserbringer und Krankenversicherer Bestand hatte und verbindlich war. Unbestritten zwischen den Parteien ist auch, dass physioswiss mit der Kündigung des Nationalen Tarifvertrags auch seine Anhänge (darunter die vom Bundesrat genehmigte und als schweizweit anwendbar erklärte Tarifstruktur) gekündigt hat. Zu prüfen ist, ob die nationale Tarifstruktur im vorliegend interessierenden Zeitraum ab 1. Januar 2013 weiterhin galt/gilt.

5.5.3           Die Ziff. 1 3 des bundesrätlichen Genehmigungsbeschlusses vom 1. Juli 1998 lauten wie folgt:

1.              Der Vertrag zwischen dem Konkordat der Schweizerischen Krankenversicherer und dem Schweizerischen Physiotherapeuten Verband vom 1. September 1997 wird gestützt auf die Artikel 46 Absatz 4 und 43 Absatz 5 des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) bezüglich der folgenden Bestandteile genehmigt:

I.              Tarifvertrag;

II.              Anhang 1 Tarif;

III.              Anhang 2 Ausführungsbestimmungen.

(...)

2.              Der Tarif nach Anhang 1 wird gestützt auf Art. 43 Absatz 5 KVG als gesamtschweizerisch einheitliche Tarifstruktur für Einzelleis­tungstarife festgesetzt.

3.              Die Mitteilung an die Interessenten erfolgt durch das EDI (BSV).

Der in Ziff. 2 des Genehmigungsbeschlusses enthaltene Verweis auf den (mit Ziff. 1 genehmigten) Anhang 1 des Tarifvertrages stellt eine direkte Verbindung zwischen der Vertragsgenehmigung in Ziff. 1 und der Tarif­strukturfestsetzung in Ziff. 2 des Beschlusses her. In seinem Schreiben vom 1. Juli 1998, mit welchem das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) das KSK über den Beschluss vom 1. Juli 1998 informierte, führte es vom Bundesrat mit der Information der Interessenten beauftragt (vgl. Ziff. 3 des Genehmigungsbeschlusses) aus, dass der Bundesrat den Anhang 1 des vorliegenden Tarifes für diejenigen Physiothera­peut­Innen sowie Krankenversicherer, welche dem Vertrag nicht beiträten, als gesamtschweizerisch einheitliche Tarifstruktur nach Art. 43 Abs. 5 KVG festgesetzt habe.

Die Festsetzung der Tarifstruktur erfolgte somit unter Bezugnahme auf die Genehmigung des Nationalen Tarifvertrages und erfasste mit dem Festsetzungsbeschluss zusätzlich die übrigen Leistungserbringer und Krankenversicherer, die nicht Vertragsparteien waren. Weder aus dem Genehmigungsbeschluss noch aus dem Informationsschreiben des BSV lassen sich Hinweise auf die Geltungsdauer der festgesetzten Tarif­struktur entnehmen und darauf, ob die Festsetzung in Ziff. 2 des Ge­nehmigungsbeschlusses eigenständige Bedeutung habe. Damit fehlen explizite Hinweise dafür, dass bei Wegfall des Nationalen Tarifvertrages 1998 die ergänzend dazu festgesetzte Tarifstruktur alleinige umfassende Wirkung für alle Leistungserbringer der Physiotherapie in freier Praxis und für alle Krankenversicherer entfalten solle. Vielmehr legt der Wortlaut des Beschlusses und des BSV-Schreibens den Schluss nahe, dass mit dem Wegfall des Tarifvertrages auch die ergänzende Festsetzung einer Tarifstruktur ausser Kraft trete. Dass der Bundesrat beabsichtigte, mit der Tarifstrukturfestsetzung in Ziff. 2 eine generell-abstrakte An­ordnung zu treffen, die auch nach Wegfall des Tarifvertrages um­fassende Wirkung haben sollte, ist auch insofern unwahrscheinlich, als Art. 43 Abs. 5 KVG vorsieht, dass die Tarifpartner zunächst Verhand­lungen betreffend eine (neue) Tarifstruktur führen können müssen, bevor der Bundesrat ersatzweise hoheitlich eine Tarifstruktur festsetzt.

Wie der Bundesrat im Nichteintretensentscheid vom 7. Juni 2013 zu­tref­fend ausführte, ist die hoheitliche Festsetzung einer nationalen Tarif­struktur generell-abstrakter Natur und hat in Verordnungsform zu erfolgen. Auch das Bundesgericht geht in seiner Rechtsprechung zu TARMED (als nationale Tarifstruktur) davon aus, dass diese eine generell-abstrakte Regelung darstellt und eine auf Art. 43 Abs. 5bis KVG gestützte Anpassung von TARMED und aller anderen gesamt­schweize­risch einheitlichen Tarifstrukturen mittels Verordnung zu erfolgen habe (vgl. BGE 134 V 443 E. 3.3; Urteil des BGer 9C_524/2013 vom 21. Januar 2014 E. 3 f.). Dementsprechend hat der Bundesrat zur An­pas­sung der Tarifstruktur TARMED vor kurzem gestützt auf Art. 43 Abs. 5bis KVG die Verordnung über die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung vom 20. Juni 2014 erlassen (AS 2014 1883; In­krafttreten: 1. Oktober 2014).

Hätte der Bundesrat im Juli 1998 eine Tarifstrukturfestsetzung generell-abstrakter Natur vornehmen wollen, hätte er diese nicht in Ziff. 2 des Ge­nehmigungsbeschlusses verfügt, sondern eine entsprechende Verord­nung erlassen, und hätte er namentlich die dafür massgeblichen Vorschriften einhalten müssen (d.h. Publikation des Verordnungstextes im Bundesblatt [vgl. Art. 1 des Publikationsgesetzes vom 21. März 1986 {AS 1987 600, aufgehoben per 1. Januar 2005}]); vorliegend erfolgte die Information an die interessierten Parteien einzig via Schreiben des BSV vom 1. Juli 1998. In seinem Nichteintretensentscheid vom 7. Juni 2013 bestätigte der Bundesrat denn auch, dass die Tariffestsetzung im Genehmigungs­be­schluss vom 1. Juli 1998 in Verfügungsform erfolgt sei und der allfällige Erlass einer neuen Tarifstruktur angesichts ihrer generell-abstrakten Be­deutung mittels Verordnung zu erfolgen hätte.

Ergänzend kann auf Folgendes hingewiesen werden: Nachdem der Schweizer Physiotherapie Verband Fisio (heute: physioswiss) beim Bundesrat eine Erhöhung des nationalen Modelltaxpunktwerts beantragt hatte, begründete auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den in Aussicht gestellten Nichteintretensentscheid in seiner Antwort vom 22. Februar 2007 in erster Linie damit, dass während der Geltungsdauer des Nationalen Tarifvertrages 1998 kein vertragsloser Zustand für ambu­lante Physiotherapieleistungen in der freien Praxis bestehe und der Bundesrat in dieser Situation nicht über die Kompetenz verfüge, eine Tarifstruktur festzusetzen. Weiter erklärte das BAG mit Schreiben vom 10. August 2011, dass der Bundesrat für die Beurteilung eines Antrages auf Festsetzung einer Tarifstruktur zuständig sei, falls sich die Tarif­partner nicht einigen könnten. Die Frage, ob eine solche Einigung ausstehe, sei insbesondere angesichts der vorliegenden Verträge in der Physiotherapie zu klären. Auch hier ebenso im ergänzenden Schreiben vom 23. September 2011 führte das BAG nicht an, dass bereits eine vom Bundesrat festgesetzte gesamtschweizerische Tarifstruktur bestehe. Soweit der (Gesamt-)Bundesrat in seinem Nichteintretensentscheid vom 7. Juni 2013, Bundesrat Alain Berset in seinem Schreiben vom 29. August 2012 und das BAG mit Stellungnahme vom 10. April 2014 festhalten, dass die nationale Tarifstruktur weiterhin Geltung habe, be­gründen sie das lediglich damit, dass sich dies aus dem Genehmigungs­beschluss vom 1. Juli 1998 ergebe. Diese nicht weiter substanziierte Begründung vermag angesichts der obigen Ausführungen nicht zu über­zeugen.

5.5.4           Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit der Vertragskündigung und dem Wegfall des Nationalen Tarifvertrags per 30. Juni 2011 keine nationale Tarifstruktur für in freier Praxis erbrachte Physiotherapie­leis­tungen mehr besteht; auch wurde zwischenzeitlich keine neue Tarif­struk­tur vom Bundesrat genehmigt oder festgesetzt (Art. 43 Abs. 5 KVG). Da eine Einzelleistungstarifstruktur gesamtschweizerisch vereinbart und ge­nehmigt oder gesamtschweizerisch festgesetzt werden muss, und im Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses des Regierungsrates des Kantons Thurgau vom 2. April 2013 keine entsprechende nationale Einzelleis­tungstarifstruktur mehr bestand, wurde mit dem angefochtenen Beschluss auch kein gültiger OKP-Tarif festgesetzt. Der Beschluss ist bereits aus diesem Grund aufzuheben.

5.6                Ferner ist zu prüfen, ob der Regierungsrat des Kantons Thurgau mit Aufrechnung der Teuerung Bundesrecht verletzt hat, wie die Be­schwerdeführerinnen geltend machen.

5.6.1           Vorliegend hat die Vorinstanz gestützt auf die Tarifstruktur 1998 sowie gestützt auf Überlegungen zur Teuerung seit 1998 in einem ersten Schritt den Nationalen Taxpunktwert von Fr.  .94 auf Fr. 1.03 angehoben (...). Danach hat sie in einem zweiten Schritt den kantonalen Taxpunkt­wert gestützt auf den neuen (angehobenen, teuerungsangepassten) Natio­nalen Taxpunktwert unter Berücksichtigung der Bundesratsformel und der darin aktualisierten Werte bestimmt und daraus einen kantonalen Taxpunktwert von Fr.  .97 ermittelt.

5.6.2           Dieses Vorgehen ist wie oben dargelegt und wie die Beschwer­deführerinnen und die beigezogenen Fachämter zu Recht monieren KVG-widrig. Da von den tarifsuisse/ASPI- und HSK/ASPI-Verträgen abgesehen (ASPI = Association Suisse des Physiothérapeutes Indépen­dants) auf nationaler Ebene (noch) keine Taxpunktwertvereinbarungen abgeschlossen und auch keine Übereinkunft über eine gesamtschwei­zerisch anwendbare Methode zur Bestimmung kantonaler Taxpunktwerte getroffen worden sind, sind die Kantonsregierungen dazu verpflichtet, den jeweiligen Tarif kantonsspezifisch zu bestimmen. Es ist ihnen dabei aber verwehrt, einseitig ein (fiktives) nationales Modell zu entwickeln beziehungsweise auf einem früheren nationalen Modell aufzubauen und von diesem nach selbst festgelegten Regeln auf den für ihren Kanton geltenden Tarif zu schliessen, zumal damit Art. 46 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 KVG in doppelter Hinsicht (fehlende Einigung der Tarifpartner über ein nationales Modell, Unzuständigkeit der Kantons­regierung zur [Teil ]Festlegung eines nationalen Tarifmodells) verletzt wird.

Soweit der Regierungsrat vorliegend eine Hochrechnung auf ein (fik­tives) nationales Modell vorgenommen und daraus den kantonalen Tarif hergeleitet hat, stellt dieses Vorgehen somit einen Verstoss gegen Bundesrecht dar und ist der angefochtene Regierungsratsbeschluss auch daher aufzuheben.

5.7                Zu prüfen ist weiter, ob und wenn ja, inwieweit die Vor­instanz gegen Art. 59c KVV verstossen hat und welche Schlüsse daraus für das Verwaltungsverfahren zu ziehen sind.

5.7.1           Mit dem per 1. August 2007 in Kraft getretenen Art. 59c KVV hat der Bundesrat eine die im KVG enthaltenen Tarifgrundsätze er­gän­zende Regelung betreffend die Tarifgestaltung im vertragslosen Zustand erlassen. Dabei hat er gestützt auf Art. 43 Abs. 7 KVG und im Hinblick auf den per 1. Januar 2007 erfolgten Übergang seiner Rechtsprechungs­kompetenz an das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen Grund­sätze in das Verordnungsrecht überführt, welche er im Rahmen seiner Beschwerdeentscheide entwickelt hatte.

5.7.2           Dies gilt insbesondere für Art. 59c Abs. 1 Bst. a und b KVV, mit welchen die Grundsätze und gesetzlichen Vorgaben für KVG-Tarife, ins­besondere das Gebot der Wirtschaftlichkeit, der betriebswirtschaftlichen Bemessung und der sachgerechten Struktur sowie der möglichst günstigen Kosten, durch den dazu ermächtigten Verordnungsgeber präzi­siert und die zur Tarifbeurteilung notwendige Transparenz hervorgehoben wurden (vgl. zum Ganzen Urteil des BVGer C 5543/2008 vom 1. April 2011 E. 6.1 m.w.H.).

5.7.3           Zudem verpflichtet Art. 59c Abs. 3 KVV in Verbindung mit Abs. 2 die Tariffestsetzungsbehörden dazu, eine regelmässige Überprü­fung eines geltenden Tarifs auf die Erfüllung der Grundsätze nach Abs. 1 Bst. a und b im Tariffestsetzungsverfahren zu ermöglichen und eine Tarifanpassung vorzunehmen, wenn die Erfüllung dieser Grundsätze nicht mehr gewährleistet ist. Dadurch wird für das Tariffestsetzungs­verfahren die allgemeine verwaltungsrechtliche Untersuchungsmaxime akzentuiert. Die zuständige Behörde muss die notwendigen Untersu­chungsmassnahmen ergreifen, namentlich die benötigten Informationen und Dokumente beschaffen, welche eine vollständige und richtige Er­mittlung des rechtserheblichen Sachverhalts erlauben und eine entspre­chende Überprüfung beziehungsweise Ausgestaltung des anzusetzenden Tarifs überhaupt erst ermöglichen (vgl. Art. 12 VwVG und Krauskopf/ Emmenegger, Praxiskommentar VwVG, 2009, Art. 12 N. 16). Im Rahmen des Tariffestsetzungsverfahrens hat sich die zuständige Behörde primär an die Tarifpartner (namentlich an die Leistungserbringer) zu halten und diese ausdrücklich und konkret zur Vorlage entsprechender Dokumente anzuhalten. Mit einem passiven Zuwarten und Abstellen auf die von den Parteien aus eigenem Antrieb eingereichten Unterlagen wird der gesteigerten Untersuchungspflicht nicht Genüge getan. Sollte sich eine Partei zu Unrecht weigern, die von ihr angeforderten Dokumente einzureichen, hat die zuständige Behörde sie unter Androhung ange­mes­sener Folgen zu mahnen. Sollte es der zuständigen Behörde infolge Weigerung der einen und/oder anderen Partei nicht möglich sein, die Ge­währleistung der Erfüllung der Grundsätze gemäss Art. 59c Abs. 1 Bst. a und b KVV vollständig zu überprüfen, hat sie zur Sachverhaltsabklärung nach Möglichkeit ergänzend oder subsidiär auf andere Quellen zurück­zugreifen (z.B. Statistiken oder Untersuchungen des Bundes). Die Wei­ge­rung, einer Tarifpartei entsprechende Unterlagen einzureichen, ist im Endentscheid im Rahmen der verbleibenden Unschärfe unter dem Aspekt der Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten und betreffend die Be­ur­teilung der Beweislage zu berücksichtigen (vgl. RKUV 6/2002 488 f.).

Diesbezüglich fällt vorliegend besonders ins Gewicht, dass aus den Akten nicht ersichtlich wird, dass der im Rahmen des Nationalen Tarif­vertrags 1998 vereinbarte kantonale Taxpunktwert von der Regierung des Kantons Thurgau seit seiner Genehmigung im Jahre 2003 jemals auf seine KVG-Konformität hin überprüft worden wäre. Die in der Recht­sprechung des Bundesrats massgebliche (rein rechnerische) Ermittlung des kantonalen Taxpunktwerts sah für Beschwerdeverfahren eine solche Überprüfung auch nicht vor. Umso mehr muss nun, nachdem keine Bin­dung mehr an diese Rechtsprechung besteht, eine vertiefte Abklärung des Sachverhalts und der Vereinbarkeit des bisherigen Tarifs mit den KVG-Grundsätzen erfolgen. Dabei hätte die Vorinstanz die Empfehlung des Preisüberwachers, den bisherigen Taxpunktwert auf maximal Fr.  .90 zu senken, als zusätzliches Indiz für die Notwendigkeit einer fundierten Abklärung und inhaltlichen Überprüfung des bisherigen Tarifs im Sinne von Art. 59c KVV erkennen müssen, zumal nach der Rechtsprechung den Empfehlungen des Preisüberwachers ein besonderes Gewicht zu­kommt (vgl. BVGE 2012/18 E. 5.4). Mangels nationaler Regelung hat diese Abklärung den kantonalen Sachverhalt zu betreffen. Ausserdem hat tarifsuisse in ihrem Festsetzungsbegehren diverse Anträge zur Verbes­serung der Datenlage gestellt, was die Vorinstanz zwar zur Kenntnis ge­nommen hat (...), aber über diese Anträge nicht formell befunden und nicht dargelegt hat, weshalb sie diesen Anträgen keine Folge geleistet hat.

5.7.4           In Bezug auf die in Art. 59c Abs. 1 Bst. a und b KVV präzisier­ten, seit 2007 geltenden materiellen Vorgaben zur Tarifbestimmung (vgl. E. 5.7.2) ist den Erwägungen des regierungsrätlichen Beschlusses wie das BAG in seiner Stellungnahme zu Recht darauf hinweist nicht zu entnehmen, inwiefern die Vorinstanz diese beachtet hätte. So enthalten weder die eingereichten Vorakten noch die Ausführungen im Beschluss Hinweise darauf, dass den Berechnungen der Vorinstanz aktuelle Leistungs- und Kostendaten der Physiotherapeuten in freier Praxis zugrunde liegen würden. Entgegen der Meinung der Vorinstanz hat der Bundesrat mit seiner Genehmigung am 1. Juli 1998 zwar die damalige Bundesrechtskonformität des Nationalen Tarifvertrags 1998 und die schweizweit geltende Tarifstruktur, die auf diesem Vertrag basiert, und mit Nichteintretensentscheid am 7. Juni 2013 die Weitergeltung der bisherigen Tarifstruktur auf nationaler Ebene bestätigt, jedoch ist damit nicht gleichzeitig das seinerzeit gestützt auf den Nationalen Tarifvertrag 1998 festgelegte und später vom Bundesrat in seiner Rechtsprechung korrigierte Niveau des Modelltaxpunktwertes bestätigt worden. Zudem beachtet die Vorinstanz nicht, dass den (zwar als solchen nachvoll­zieh­baren) Ausführungen zur Teuerung zusätzlich Überlegungen zur Effi­zienz der bisher erbrachten Leistungen zur Effizienzsteigerung beispiels­weise mittels Verdichtung der Infrastruktur, gemeinsamer Nutzung der Administration, Zusammenlegung sich gleichender Prozesse und zur Ver­einfachung der Kostenstruktur gegenüberzustellen sind. Dies tut die Vor­instanz nicht ansatzweise. Stattdessen begnügt sie sich damit, das frühere Lohnniveau dem heutigen Lohnniveau gegenüberzustellen und den Taxpunktwert entsprechend zu erhöhen, womit jedoch keineswegs Überlegungen zur Leistungs- und Kosteneffizienz angestellt werden. Ausserdem ist keine spezifische Auseinandersetzung betreffend die per 1. August 2009 neu als Leistungserbringerinnen zugelassenen Organi­sa­tionen der Physiotherapie (Art. 52a KVV) erkennbar. Schliesslich enthält der angefochtene Beschluss auch keine Ausführungen dazu, inwiefern sich die seit 1. Januar 1998 durchgeführten Revisionen von Art. 5 KLV, der regelt, welche physiotherapeutische Leistungen zulasten der OKP ab­gerechnet werden können und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen, auf die Überprüfung beziehungsweise Neufestsetzung des OKP-Tarifs auswirken.

5.7.5           Unter Bezugnahme auf die Überprüfungs-, Untersuchungs- und Anpassungspflichten gemäss Art. 59c Abs. 2 KVV (vgl. E. 5.7.3) rügt die tarifsuisse-Gruppe mit ihrer Beschwerde, sie habe die Vorinstanz ersucht, die Physiotherapeuten zu verpflichten, Kosten- und Leistungsrechnungs­daten sowie die Erfolgsrechnungen und Bilanzen über ihre Praxen für die Jahre 2008 bis 2011 vorzulegen. Die Vorinstanz habe jedoch diesen Anträgen nicht stattgegeben und kein konkretes Datenmaterial ange­for­dert. Diese Ausführungen sind aufgrund der Aktenlage im Beschwerde­verfahren zu bestätigen. Weder der Begründung des angefochtenen Be­schlusses noch den eingereichten Akten ist zu entnehmen, dass die Vor­instanz Vorkehrungen getroffen hat, um konkrete Angaben und Daten zu erhalten, aufgrund welcher sie hätte prüfen können, ob der von ihr er­höhte Tarif den Anforderungen von Art. 59c Abs. 1 Bst. a und b KVV ge­recht wird. Ebenfalls fehlen Hinweise dafür, dass die Vorinstanz gestützt auf solches Datenmaterial eine Überprüfung des festzusetzenden Tarifs auf seine Wirtschaftlichkeit und Billigkeit hin vorgenommen hätte, wie ihr vom Gesetzgeber aufgetragen wird (Art. 43 Abs. 4 und Art. 46 Abs. 4 Satz 2 KVG; vgl. auch BGE 123 V 280 E. 6). Diesbezüglich kann der nicht weiter substanziierten Aussage der Beschwerdegegnerinnen, den Beilagen zum Festsetzungsantrag könne sehr wohl entnommen werden, dass die Vorinstanz auf rechtsgenüglich vorhandene Daten abgestützt habe, nicht gefolgt werden.

Damit hat die Vorinstanz wie die Beschwerdeführerinnen 1 41 zu Recht rügen auch ihre Untersuchungspflicht verletzt und den Sach­ver­halt ungenügend abgeklärt. Zwar haben auch physioswiss und tarifsuisse ihre Substanziierungs- und Mitwirkungspflichten nicht (vollständig) erfüllt. Da die Vorinstanz aber davon abgesehen hat, von den Parteien konkretere Mitwirkungshandlungen zu verlangen, kann ihnen dies vor­lie­gend nicht zum Nachteil gereichen, und ist der angefochtene Regierungs­ratsbeschluss (auch) wegen ungenügender Klärung des Sachverhalts aufzuheben.

5.8                Darauf hinzuweisen bleibt, dass die von den Beschwerde­gegne­rinnen in der Beschwerdeantwort angerufenen Übergangsbestimmungen der Änderung des KVG vom 20. Dezember 2006 (Pflegetarife) zwar die Möglichkeit der teuerungsbedingten Anpassung der Rahmentarife durch das Departement für Leistungen der Krankenpflege zu Hause, ambulant oder im Pflegeheim vorsehen, jedoch nicht ersichtlich ist, inwiefern diese Bestimmungen für die vorliegend interessierende Festsetzung eines Einzelleistungstarifs für in freier Praxis praktizierende Physiotherapeuten einschlägig wären, und die Beschwerdegegnerinnen auch nicht behaup­ten, das KVG enthalte zur vorliegend interessierenden Frage eine positiv­rechtliche (Übergangs )Regelung. Auf diese Rüge und die zitierten Ent­scheide der Regierungsräte der Kantone Graubünden, Solothurn und Aargau ist daher nicht weiter einzugehen.

5.9                Damit erweist sich der angefochtene Beschluss des Regierungs­rates des Kantons Thurgau in mehrfacher Hinsicht als bundesrechts­widrig. (...)

6.                    

6.1                Damit bleibt festzuhalten, dass dem Tariffestsetzungsentscheid des Regierungsrates des Kantons Thurgau vom 2. April 2013 keine gültige Tarifstruktur zugrunde liegt und sich der Beschluss in mehrfacher Hinsicht als bundesrechtswidrig erweist, weshalb er aufzuheben ist. (...)

 

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