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Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i.S. X. gegen Bundesamt für Migration
E 2352/2011 vom 9. April 2013

Nichteintreten auf ein Asylgesuch (Dublin-Verfahren). Anwendbar­keit der Dublin-II-VO auf einen Anknüpfungspunkt, der sich zeitlich vor deren Inkrafttreten für die Schweiz ereignet hat. Grundsatz­urteil.

Art. 34 Abs. 2 Bst. d AsylG. Art. 29a Abs. 1 und 2 AsylV 1. Art. 5 Abs. 2, Art. 10 ff., Art. 24 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (nachfolgend: Dublin-II-VO).

In Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Prinzip der Reziprozität, den allgemeinen Regeln über die Rückwirkung und den expliziten Übergangsbestimmungen der Dublin-II-VO sind die Bestimmungen dieser Verordnung auch in Bezug auf einen Anknüpfungspunkt anzuwenden, der zeitlich vor deren Inkraft­treten für die Schweiz liegt (E. 5).

Non-entrée en matière sur une demande d'asile (procédure Dublin). Applicabilité du règlement Dublin II à un événement antérieur à son entrée en vigueur pour la Suisse. Arrêt de principe.

Art. 34 al. 2 let. d LAsi. Art. 29a al. 1 et 2 OA 1. Art. 5 al. 2, art. 10 ss, art. 24 al. 2 et art. 29 al. 2 du règlement (CE) no 343/2003 du Conseil du 18 février 2003 établissant les critères et mécanismes de déter­mi­nation de l'Etat membre responsable de l'examen d'une demande d'asile présentée dans l'un des Etats membres par un ressortissant d'un pays tiers (ci-après: règlement Dublin II).

En conformité avec le principe de réciprocité du droit inter­national public, les règles générales sur la rétroactivité et les dis­positions transitoires explicites du règlement Dublin II, les dis­positions dudit règlement s'appliquent également à un événement (correspondant à un critère de rattachement) antérieur à leur entrée en vigueur pour la Suisse (consid. 5).

Non entrata nel merito di una domanda d'asilo (procedura Dublino). Applicazione del Regolamento Dublino II fondata su un criterio di collegamento sorto prima della sua entrata in vigore per la Svizzera. Sentenza di principio.

Art. 34 cpv. 2 lett. d LAsi. Art. 29a cpv. 1 e 2 OAsi 1. Art. 5 cpv. 2, art. 10 segg., art. 24 cpv. 2 e art. 29 cpv. 2 del regolamento (CE) n. 343/2003 del Consiglio, del 18 febbraio 2003, che stabilisce i criteri e i meccanismi di determinazione dello Stato membro competente per l'esame di una domanda d'asilo presentata in uno degli Stati membri da un cittadino di un paese terzo (qui di seguito: regolamen­to Dublino II).

Conformemente al principio di reciprocità vigente nel diritto internazionale pubblico, alle regole generali applicabili alla retroattività e alle disposizioni transitorie esplicite del regola­mento Dublino II, le disposizioni di detto regolamento si applica­no anche ad un criterio di collegamento esistente in precedenza la loro entrata in vigore per la Svizzera (consid. 5).

 

Der Beschwerdeführer, ein Georgier, stellte am 19. August 2003 erstmals in der Schweiz ein Asylgesuch. Dieses wurde vom damaligen Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) mit Verfügung vom 28. Oktober 2003 abgewiesen und erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Am 3. Dezember 2003 reiste der Beschwerdeführer unkontrolliert aus.

Am 14. Februar 2011 reiste der Beschwerdeführer erneut in die Schweiz ein und stellte am gleichen Tag ein zweites Asylgesuch.

Abklärungen, die durch das Bundesamt für Migration (BFM) mittels der europäischen Fingerabdruck-Datenbank (EURODAC) durchgeführt wur­den, ergaben, dass der Beschwerdeführer unter anderem am 22. Juli 2005 in Österreich daktyloskopisch erfasst worden war. Anlässlich der Be­fragung im Empfangs- und Verfahrenszentrum vom 28. Februar 2011 wurde ihm das rechtliche Gehör zu einer allfälligen Wegweisung nach Österreich gewährt, wobei er diese EURODAC-Erfassung bestätigte und vorbrachte, er wolle nicht nach Österreich zurückkehren, weil ihm dort eine sofortige Ausschaffungshaft drohe.

Am 22. März 2011 richtete das BFM gestützt auf den EURODAC-Treffer vom 22. Juli 2005 in Österreich gemäss Art. 16 Abs. 1 Bst. e der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Fest­legung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitglied­staats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Amtsblatt der Euro­päischen Gemeinschaften [ABl.] L 50/1 vom 25.2.2003, nachfolgend: Dublin-II-VO) das Ersuchen um Wiederaufnahme (« take back ») des Beschwerdeführers an Österreich. Die österreichischen Behörden stimm­ten am 25. März 2011 einer Rückübernahme zu.

Mit Verfügung vom 6. April 2011 trat das BFM gestützt auf Art. 34 Abs. 2 Bst. d des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) auf das Asylgesuch nicht ein, wies den Beschwerdeführer aus der Schweiz nach Österreich weg und ordnete den Vollzug an.

Mit Eingabe vom 19. April 2011 focht der Beschwerdeführer diesen Entscheid beim Bundesverwaltungsgericht an.

Mit Instruktionsverfügung vom 28. April 2011 lud das Bundesverwal­tungsgericht die Vorinstanz unter anderem dazu ein, ihre aktuelle Praxis in Bezug auf EURODAC-Treffer, die vor dem operationellen Inkraft­treten der Dublin-II-VO für die Schweiz am 12. Dezember 2008 datier­ten, darzulegen.

Die Vernehmlassung erfolgte am 10. Mai 2011. Der Beschwerdeführer verzichtete auf sein Replikrecht.

Das Bundesverwaltungsgericht weist die Beschwerde ab.

Aus den Erwägungen:

5.                    

5.1                Erstens gilt es zu beantworten, ob die Bestimmungen der Dublin-II-VO in Bezug auf einen Anknüpfungspunkt angewendet werden dürfen, der zeitlich vor deren Inkrafttreten für die Schweiz liegt. Nament­lich stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um eine Rückwirkung handelt und, falls ja, ob dies eine zulässige oder unzulässige Rückwirkung darstellt.

5.2                Das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossen­schaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (DAA, SR 0.142.392.68) wurde am 26. Oktober 2004 abgeschlossen und von der Bundesversammlung am 17. Dezember 2004 genehmigt. Die Hinter­legung der Schweizerischen Ratifikationsurkunde erfolgte am 20. März 2006 und das DAA trat am 1. März 2008 in Kraft. In Art. 1 Abs. 1 DAA wird festgehalten, dass die Bestimmungen der Dublin-II-VO, der Eurodac-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von « Eurodac » für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens, ABl. L 316 vom 15.12.2000) sowie der beiden Verordnungen mit den Dublin und den Eurodac-Durchführungs­bestimmungen (Verordnung [EG] Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Dublin-II-VO, ABl. L 222 vom 5.9.2003 [nachfolgend: DVO Dublin] sowie Verordnung [EG] Nr. 407/2002 des Rates vom 28. Februar 2002 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen zur Eurodac-Verordnung, ABl. L 62 vom 5.3.2002) von der Schweiz umgesetzt und im Rahmen ihrer Beziehungen zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union angewendet werden. Die Dublin-II-VO trat zwar formell für die Schweiz am 1. März 2008 in Kraft, die operationelle Inkraftsetzung erfolgte jedoch erst (nachdem durch die EU ein spezielles Evaluationsverfahren zur Umsetzung der Schengener Vorschriften in der Schweiz abgeschlossen wurde) am 12. Dezember 2008. Dieses Datum stellt somit den ausschlaggebenden Zeitpunkt der Rückwirkungsfrage dar.

5.3                Rückwirkung im nationalen Recht bedeutet die Anwendung neuen Rechts auf Sachverhalte, die sich noch unter altem Recht zuge­tragen haben, wobei zwischen echter und unechter Rückwirkung zu unterscheiden ist. Echte Rückwirkung liegt vor, wenn neues Recht auf einen Sachverhalt angewendet wird, der sich abschliessend vor Inkraft­treten dieses Rechts verwirklicht hat (vgl. BVGE 2009/3 E. 3.2, BVGE 2007/25 E. 3.1). Echte Rückwirkung ist - weil sie der Rechtssicherheit offensichtlich widerspricht - im Falle, dass sie sich belastend auswirkt, nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen zulässig (vgl. Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/Markus Müller, Allgemeines Verwal­tungsrecht, 3. Aufl., Bern 2009, § 24 Rz. 26 S. 192; Ulrich Häfelin/ Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Aufl., Zürich/St. Gallen 2010, S. 71). Als unechte Rückwirkung ist demgegenüber das Anknüpfen neuer Rechtsnormen an einen in der Vergangenheit eingetretenen, jedoch in die Gegenwart fortdauernden Sachverhalt zu bezeichnen (BVGE 2009/3 E. 3.2). Unechte Rückwirkung ist - da sie die Rechtssicherheit weit weniger berührt - grundsätzlich zulässig (Tschannen/Zimmerli/Müller, a.a.O., § 24 Rz. 28 S. 193).

5.4                Im Folgenden wird vorerst untersucht, wie sich der Sachverhalt im Dublin-Verfahren grundsätzlich charakterisiert.

5.4.1           Im Zuständigkeitsverfahren nach Dublin beinhaltet der zu­ständigkeitsrelevante Sachverhalt zwingend zwei Sachverhaltselemente: Das eine ist das zuständigkeitsbegründende Ereignis; als ein solches wird im Hinblick auf die Zuständigkeitskriterien der Art. 10 ff. Dublin-II-VO insbesondere der erste nachweisbare Aufenthalt der asylsuchenden Person im Dublin-Raum (beispielsweise die erste daktyloskopische Er­fassung oder das erste Asylgesuch) angesehen. Das andere ist das zustän­digkeitsauslösende Ereignis, als welches derjenige Asylantrag in einem Dublin-Staat verstanden wird, der den Zuständigkeitsbestimmungspro­zess gemäss der Dublin-II-VO überhaupt erst auslöst. Anhand dieser zwei - notwendigerweise zu differenzierenden - Elemente wird klar, dass dem Dublin-System eine retrospektive Betrachtungsweise inhärent ist. Da der « Dublin-Sachverhalt » mit dem ersten (dem zuständigkeits­begründenden) Ereignis noch nicht abgeschlossen ist, sondern erst mit dem zweiten (dem zuständigkeitsauslösenden) Ereignis, ist ein Rückblick zwingend nötig. Deutlich wird dies auch anhand des Folgenden: In den Fällen, in denen der Sachverhalt nur aus einem (oder mehreren) Asyl­anträgen im selben Dublin-Staat besteht, ist gar kein Zuständigkeitsver­fahren nach Dublin nötig.

5.4.2           Wenn sich nun das zuständigkeitsauslösende Moment zeitlich nach dem Inkrafttreten der Dublin-Verordnung ereignet (beispielsweise ein Asylantrag in der Schweiz, der nach dem 12. Dezember 2008 datiert), das zuständigkeitsbegründende Ereignis aber zeitlich davor, liegt zwar eine Rückwirkung vor. Es handelt sich hierbei indes um eine unechte Rückwirkung, denn der in der Vergangenheit begonnene Sachverhalt wird erst durch das zuständigkeitsauslösende Ereignis (nach Inkraft­treten) abgeschlossen (vgl. Christian Filzwieser/Andrea Sprung, Dublin II-Verordnung. Das Europäische Asylzuständigkeitssystem, 3. Aufl., Wien/Graz 2010, Art. 24 Abs. 2 K8 S. 192).

5.4.3           Dass durch das zuständigkeitsauslösende Moment der Sach­ver­halt definitiv abgeschlossen wird, wird durch die in Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-VO enthaltene « Versteinerungsregel » zum Ausdruck ge­bracht. Diese besagt, dass zur Prüfung der Zuständigkeitskriterien ausschliesslich jener Sachverhalt beachtlich ist, der zum Zeitpunkt der Stellung des ersten Asylantrags vorgelegen hat, und damit nachträgliche Änderungen - vor­behältlich einer anderslautenden eindeutigen Regelung in der Verordnung selbst - unbeachtlich sind (vgl. Filzwieser/Sprung, a.a.O., Art. 5 Abs. 2 K4 S. 86 f.). Die notwendige retrospektive Betrachtungsweise wird auch hier - wenn auch nicht explizit - ersichtlich.

5.4.4           Im Zeitpunkt der Beurteilung der Zuständigkeit nach der Dublin-II-VO liegt daher grundsätzlich ein Sachverhalt vor, der in der Vergangenheit begonnen hat (mit dem zuständigkeitsbegründenden Ereignis) und bis in die Gegenwart fortdauert (bis zum zuständigkeits­auslösenden Ereignis).

5.5                Sind die Dublin-Bestimmungen für den betreffenden Mit­glied­staat erst zwischenzeitlich anwendbar geworden, liegt somit eine unechte Rückwirkung vor, die grundsätzlich zulässig ist (vgl. E. 5.3).

5.6                 

5.6.1           Die Dublin-II-VO enthält in Kapitel VII (Art. 24 ff.) explizite Übergangs und Schlussbestimmungen. Diese stehen ganz im Sinne des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention, SR 0.111); gemäss Art. 28 Wiener Vertragsrechtskonvention wirken Verträge nicht rückwirkend, sofern sich nicht eine abweichende Absicht aus dem Vertrag ergibt oder anderweitig festgestellt wird. Dem klaren Wortlaut ist zu entnehmen, dass die Nichtrückwirkung zwar die Regel darstellt, die Vertragsparteien jedoch eine Rückwirkung explizit oder implizit vorsehen können (BVGE 2010/40 E. 4.4 mit Hinweis auf: Mark E. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, Leiden/Boston 2009, N. 6 ff. zu Art. 28 VRK). Die Schweiz hat bezüglich der Übergangs­bestimmungen keine Vorbehalte angebracht.

5.6.2           Art. 24 Abs. 2 Dublin-II-VO schreibt vor, dass zur Sicherung der Kontinuität bei der Bestimmung des für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats (wenn der Asylantrag nach dem in Artikel 29 Absatz 2 Dublin-II-VO genannten Datum gestellt wurde) Sachverhalte, die die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats gemäss dieser Verordnung nach sich ziehen können, auch berücksichtigt werden, wenn sie aus der Zeit davor datieren. Ausnahme bilden die in Art. 10 Abs. 2 Dublin-II-VO genannten Sachverhalte. Art. 29 Abs. 2 Dublin-II-VO besagt, dass die Verordnung auf Asylanträge anwendbar ist, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten gestellt werden und - ungeachtet des Zeitpunkts der Stellung des Antrags - ab diesem Zeitpunkt für alle Ge­suche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von asylsuchenden Personen gilt. Art. 24 Dublin-II-VO regelte als Übergangsbestimmung primär, was bei Inkrafttreten der Dublin-II-VO am 17. März 2003, als Nachfolge­regelung des zuvor geltenden Dubliner Übereinkommens, gelten sollte.

In der Literatur wird die Frage erörtert, ob die Übergangsregel generell auch Anwendung finden könne für Staaten, die - wie vorliegend seit dem 12. Dezember 2008 die Schweiz - die Dublin-II-VO erst zu einem späteren Zeitpunkt als geltendes Recht übernahmen (vgl. Filzwieser/ Sprung, a.a.O., Art. 24 Abs. 2 K6 ff. S. 191 f.). Auf diesen Standpunkt stellte sich die Europäische Kommission (vgl. E. 5.6.4). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat diesbezüglich schon ein Urteil gefällt (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E 5630/2011 vom 26. Oktober 2011).

5.6.3           Das BFM verneinte zunächst in seiner ersten « Dublin-Praxis », die es ab dem 12. Dezember 2008 einführte, seine Zuständigkeit, wenn ein Dublin-Staat die Schweiz um Übernahme oder Rückübernahme ersuchte und sich dabei mit seinem Ersuchen gemäss Dublin-II-VO auf einen zeitlich davor liegenden Anknüpfungspunkt in der Schweiz stützte. Diese Auffassung hätte aber reziprok dazu führen müssen, dass die Schweiz ein Asylgesuch oder einen EURODAC-Treffer aus einem anderen Dublin-Staat, der zeitlich vor dem 12. Dezember 2008 lag, eben­falls nicht hätte verwenden dürfen. Die Schweiz wendete indes zu Beginn die Dublin-II-VO regelmässig zugunsten der Schweiz « rück­wirkend » an.

5.6.4           Die Europäische Kommission sprach sich zu der Frage der Rückwirkung (in Bezug auf den am 1. Mai 2004 erfolgten Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten) in einer Äusserung vom 11. Juni 2004 (JAI/B2/AG/sg D [2004] 5563) grundsätzlich dafür aus, dass sowohl Aufnahme als auch Wiederaufnahmeersuchen der neuen Mitgliedstaaten zu akzeptieren seien, wenn sich das zuständigkeitsbegründende Moment vor dem Beitrittszeitpunkt ereignet habe. Ausschlaggebend sei lediglich, dass sich das zuständigkeitsauslösende Ereignis nach dem Beitritts­zeitpunkt zugetragen habe (vgl. Filzwieser/Sprung, a.a.O., Art. 24 Abs. 2 K9 S. 192 f.).

5.6.5           Aufgrund eines konkreten Falles, in dem die Schweiz ihre Zuständigkeit gegenüber Luxemburg verneinte und die Rückübernahme verweigerte, weil der Anknüpfungspunkt zeitlich vor dem 12. Dezember 2008 lag, gelangte das luxemburgische Aussendepartement an die Euro­päische Kommission mit der Bitte, sich zur Anwendbarkeit der Dublin­bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten und den erst kürzlich beigetretenen Staaten - namentlich der Schweiz - zu äussern. Mit schrift­licher Äusserung vom 9. Dezember 2010 (Ref. Ares [2010]923295-09/12/2010) legte die Europäische Kommission dar, dass die Schweiz übergangsrechtlich gleich zu behandeln sei wie die letztbeigetretenen « neuen » Mitgliedstaaten, da für sie keine « Übergangszeit » vorgesehen sei. Demnach könne ein neuer Mitgliedstaat ersucht werden, eine asyl­suchende Person aufgrund eines Umstandes (rück )zu übernehmen, der vor dem Inkrafttreten der Dublinbestimmungen für den entsprechen­den Mitgliedstaat eingetreten sei. Gemäss Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-VO gelte, dass der zuständige Staat sich aufgrund der Situation bestimme, die gegeben sei, wenn die asylsuchende Person ihr erstes Asylgesuch in einem Mitgliedstaat stelle. Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung impliziere, dass Anknüpfungspunkte beachtet werden müssten, die vor Inkrafttreten der Dublin-Verordnung für die Schweiz erfolgt seien. Daher handle es sich vorliegend nicht um eine Frage der (unzulässigen) « Rück­wirkung » eines juristischen Instruments, weil das ausschlaggebende Ereignis, welches das Zuständigkeitsverfahren ausgelöst habe, zeitlich nach dem Inkrafttreten der Dublin-Verordnung für die Schweiz liege.

5.6.6           In der Folge sah sich das BFM veranlasst, seine vorgängige Praxis zu revidieren.

5.7                 

5.7.1           Die zuständige Instruktionsrichterin hat im vorliegenden Ver­fahren das BFM mit Verfügung vom 28. April 2011 unter anderem dazu aufgefordert, seine aktuelle Praxis in Bezug auf EURODAC-Treffer darzulegen, welche vor Inkrafttreten der Dublin-II-VO für die Schweiz am 12. Dezember 2008 datieren.

5.7.2           Das BFM führte mit Vernehmlassung vom 10. Mai 2011 diesbe­züglich Folgendes aus: Die Bestimmungen von Art. 24 Abs. 2 in Ver­bindung mit Art. 29 Abs. 2 Dublin-II-VO legten fest, dass das zuständig­keitsauslösende Moment zeitlich nach dem Inkrafttreten der Dublinbe­stimmungen für die Schweiz liegen müsse, damit die Dublin-II-VO Anwendung finde, das zuständigkeitsbegründende Moment jedoch zeit­lich vor dem Inkrafttreten der Dublin-II-VO liegen könne. Die Vorinstanz verwies dabei auf die Inhalte der sich zu dieser Frage (betreffend den Beitritt der zehn neuen EU-Mitgliedstaaten) äussernden Schreiben der Europäischen Kommission vom 11. Juni 2004 (vgl. E. 5.6.4) und (betref­fend den Beitritt der Schweiz) vom 9. Dezember 2010 (vgl. E. 5.6.5). Abschliessend bemerkte sie, dass für die Schweiz mithin alle zustän­dig­keitsbegründenden Sachverhalte vor dem 12. Dezember 2008 anrechen­bar seien.

5.7.3           Die vom BFM dargelegte aktuelle Praxis entspricht der Rechts­auffassung der Europäischen Kommission und des Bundesverwaltungs­gerichts (vgl. E. 5.6.2) und ist daher nicht zu beanstanden.

5.7.4           Nach dem Gesagten steht fest, dass in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Prinzipien, namentlich dem Grundsatz der Reziprozität und den expliziten Bestimmungen in der Dublin-II-VO, ein An­knüpfungspunkt, der vor dem Inkrafttreten der Dublin-II-VO für die Schweiz liegt, als zuständigkeitsbegründendes Ereignis beizuziehen ist.

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