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Auszug aus dem Urteil der Abteilung V
i. S. A., B., C. und D. gegen Bundesamt für Migration
E-7221/2009 vom 10. Mai 2011

Nichteintreten auf Asylgesuch (Dublin-Verfahren). Zuständig­keit nach Dublin-II-Verordnung. Selbst­eintritt aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen.

Art. 29a Abs. 3 AsylV 1. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mit­gliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist. Art. 3 EMRK.

1.      Verpflichtung zum Selbsteintritt bei drohendem Verstoss gegen das menschenrechtliche Refoulement-Verbot von Art. 3 EMRK aus gesundheitlichen Gründen. Im vorliegenden Fall der trau­ma­tisierten Beschwerdeführenden ist die hohe Schwelle von Art. 3 EMRK nicht erreicht, obwohl eine angemessene, langfristige psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung in Polen nicht garantiert ist (E. 4-7).

2.      Beim Selbsteintritt aus humanitären Gründen verfügt das Bun­desamt für Migration über einen Ermessensspielraum, den es ausüben muss. Im vorliegenden Fall sind humanitäre Gründe im Sinne einer Gesamtwürdigung zu bejahen: Ausschlaggebend sind die traumatisierenden Erfahrungen im Heimatland, in Polen und in Österreich, die Behandlungsbedürftigkeit der Beschwer­de­führenden, die vor bald zwei Jahren in der Schweiz begonnene notwendige Behandlung und der Umstand, dass in Polen kaum eine angemessene Behandlung erhältlich wäre (E. 8).

 

 

 

Non-entrée en matière sur une demande d'asile (Dublin). Compé­tence pour traiter une demande d'asile selon le règlement Dublin II. Application de la clause de souveraineté se fondant sur le droit international public et pour des raisons huma­ni­taires.

Art. 29a al. 3 OA 1. Art. 3 par. 2 règlement (CE) no 343/2003 du Conseil du 18 février 2003 établissant les critères et mécanismes de détermination de l'Etat membre responsable de l'examen d'une demande d'asile présentée dans l'un des Etats membres par un res­sortissant d'un pays tiers. Art. 3 CEDH.

1.      Obligation de traiter une demande d'asile en cas de risque de vio­lation de l'interdiction de refoulement de l'art. 3 CEDH pour des rai­sons de santé. Dans le présent cas concernant des recourants traumatisés, le seuil élevé de l'art. 3 CEDH n'est pas atteint, bien qu'un traite­ment psychiatrique et psychothérapeutique ap­pro­prié et de lon­gue durée ne soit pas garanti en Pologne (consid. 4-7).

2.      Lorsqu'il s'agit de se saisir d'une demande pour des raisons hu­manitaires, l'Office fédéral des migrations dispose d'une marge d'appréciation dont il doit faire usage. Dans le présent cas, une appréciation d'ensemble amène à admettre l'existence de motifs humani­taires: les expériences traumatisantes vécues dans le pays d'origine, en Pologne et en Autriche, le besoin de traitement des recourants, le traitement nécessaire commencé depuis presque deux ans en Suisse et le fait qu'un traitement ap­proprié ne serait pratiquement pas possible en Pologne sont déterminants (con­sid. 8).

Non entrata nel merito di una domanda di asilo (Dublino). Compe­tenza per la domanda di asilo secondo il regolamento Dublino II. Applicazione della clausola di sovranità in base al diritto inter­nazionale pubblico e per delle ragioni umanitarie.

Art. 29a cpv. 3 OAsi 1. Art. 3 cpv. 2 del regolamento (CE) n. 343/2003 del Consiglio del 18 febbraio 2003 che stabilisce i criteri e i mecca­nismi di determinazione dello Stato membro competente per l'esame di una domanda di asilo presentata in uno degli Stati membri da un cittadino di un paese terzo. Art. 3 CEDU.

  1. Obbligo di trattare una domanda di asilo in caso di violazione del divieto di respin­gimento in base all'art. 3 CEDU, in presenza di ragioni mediche. Nel caso in questione, concernente dei ri­cor­renti traumatizzati, non è raggiunta l'ele­vata soglia dell'art. 3 CEDU, sebbene un adeguato tratta­mento psichiatrico e psico­te­rapeutico di lungo periodo non sia ga­rantito in Polonia (con­sid. 4-7).
  2. In caso di trattamento di una domanda per ragioni umanitarie, l'Ufficio federale della migrazione dispone di un potere di apprez­zamento, che è tenuto ad esercitare. Nel caso in questione, un apprezzamento di insieme conduce ad ammettere delle ragioni umanitarie:  le esperienze traumatiche in patria, in Polonia ed in Austria, il bisogno di trattamento dei richiedenti, il trattamento necessario iniziato in Svizzera ormai quasi due anni fa, ed il fatto che in Polonia un trattamento adeguato sarebbe difficilmente ottenibile sono determinanti (consid. 8).

 

Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um eine russische Familie aus Tschetschenien. Die Eltern reisten eigenen Angaben zufolge im Dezember 2006 aus Tschetschenien aus und stellten anschliessend in Polen ein Asylgesuch. Nach etwa einem Jahr und vier Monaten verliess die Familie Polen vor Abschluss ihres Asylverfahrens und gelangte nach Österreich, wo sie zweimal erfolglos um Asyl ersuchte.

Am 5. Juli 2009 gelangten sie von Österreich in die Schweiz, wo sie am gleichen Tag um Asyl nachsuchten.

Zur Begründung ihres Asylgesuchs machten die Beschwerdeführenden geltend, sie hätten bei einem Hausbrand in Tschetschenien Ende 2006 ihren einjährigen Sohn verloren. Der Brand sei wahrscheinlich von je­mandem gelegt worden und ihr Haus sei dabei vollständig abgebrannt. Im Hinblick auf eine eventuelle Rücküberstellung nach Polen im Rah­men eines Dublin-Verfahrens machten sie geltend, ihre Unterkunft in Polen sei so feucht gewesen, dass ihre noch nicht einjährige Tochter an einer Lungenentzündung erkrankt sei und über einen Monat im Spital verbracht habe. Die Wohnung sei vor Schimmel schwarz gewesen, doch hätten sie vergeblich um Zuteilung einer anderen Unter­kunft gebeten.

Mit Verfügung vom 12. November 2009 trat das Bundesamt für Migra­tion (BFM) auf ihr Asylgesuch nicht ein und verfügte ihre Wegweisung nach Polen. Zur Begründung führte das BFM an, gestützt auf die Ver­ordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festle­gung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mit­gliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Amtsblatt der Euro­päischen Gemeinschaften [ABl.] L 50/1 vom 25.2.2003, nachfolgend: Dublin-II-VO) sei Polen für die Durchführung des Asylverfahrens zu­ständig.

Mit Eingabe vom 19. November 2009 erhoben die Beschwerdeführenden gegen die Verfügung des BFM Beschwerde beim Bundesverwaltungs­ge­richt und beantragten, die Verfügung sei aufzuheben, das BFM sei anzu­weisen, sein Selbsteintrittsrecht auszuüben und sich für das Asylgesuch zuständig zu erklären.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut und weist das BFM an, vom Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen.

Aus den Erwägungen:

3.                  

3.1                Auf Asylgesuche wird in der Regel nicht eingetreten, wenn Asylsuchende in einen Drittstaat ausreisen können, der für die Durch­führung des Asyl- und Wegweisungsverfahrens staatsvertraglich zustän­dig ist (Art. 34 Abs. 2 Bst. d des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31]).

3.2                Das BFM betrachtete sich im vorliegenden Fall nach Art. 16 Abs. 1 Bst. c Dublin-II-VO nicht für die Durchführung des Asylver­fahrens zuständig, da die Beschwerdeführenden sich unerlaubt in der Schweiz aufhielten, während in Polen ihr Asylverfahren im Gange war, und Polen den Rückübernahmegesuchen des BFM vom 28. August 2009 mit Schreiben vom 2. September 2009 zugestimmt hatte (Art. 20 Abs. 1 Bst. b Dublin-II-VO).

 

4.1                Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO kann die Schweiz ein Asyl­gesuch materiell prüfen, auch wenn nach den in der Verordnung vorgese­henen Kriterien ein anderer Staat zuständig ist (Selbsteintrittsrecht). Diese Bestimmung ist nicht direkt anwendbar, sondern kann nur in Ver­bindung mit einer anderen Norm des nationalen oder internationalen Rechts angerufen werden (BVGE 2010/45 E. 5). Art. 29a Abs. 3 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) sieht vor, dass das BFM aus humanitären Gründen ein Gesuch behandeln kann, auch wenn nach den Kriterien der Dublin-II-VO ein anderer Staat zu­stän­dig ist. Es handelt sich dabei um eine Kann-Bestimmung, die den Behör­den einen gewissen Ermessensspielraum lässt und restriktiv auszulegen ist (BVGE 2010/45 E. 8.2.2). Droht hingegen ein Verstoss gegen über­geordnetes Recht, zum Beispiel gegen eine Norm des Völker­rechts, so besteht ein einklagbarer Anspruch auf Ausübung des Selbstein­trittsrechts (BVGE 2010/45 E. 7.2; Christian Filzwieser/Andrea Sprung, Dublin II-Verordnung. Das europäische Asylzuständig­keits­sys­tem, 3. Aufl., Wien/Graz 2010, K8 zu Art. 3). In Frage kommen insbe­sondere das flüchtlingsrechtliche Refoulement-Verbot nach Art. 33 des Abkom­mens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) und menschenrechtliche Garantien der Konvention vom 4. No­vember 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grund­freiheiten (EMRK, SR 0.101), des Internationalen Paktes über bürger­liche und po­litische Rechte (SR 0.103.2), des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder ernied­rigende Behandlung oder Strafe (SR 0.105).

4.2                Das BFM äusserte sich in seiner Verfügung nicht zur Frage des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO.

4.3                Die Beschwerdeführenden machen in ihrer Beschwerdeschrift geltend, die Schweiz sei wegen humanitärer Gründe gehalten, vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen und sich für ihr Asylgesuch zuständig zu erklären. Zur Begründung bringen sie Folgendes vor:

Erstens seien sie vor der Verfolgung durch tschetschenische Sicherheits­kräfte geflohen und müssten bei einer Rückkehr nach Tschetschenien mit asylrelevanter Verfolgung rechnen. In Polen würden sie keinen Schutz im Sinne der FK finden, da das Risiko bestehe, dass Polen sie nach Russland abschiebe. Zudem könnten sie nicht in Polen bleiben, da sie damit rech­nen müssten, dort weiterhin von Leuten von Ramzan Kadyrow bedrängt und bedroht zu werden.

Zweitens seien sie beide durch die Erlebnisse in Tschetschenien, insbe­sondere durch den Tod ihres damals einjährigen Sohnes bei einem Brand­anschlag auf ihr Haus, schwer traumatisiert. Gemäss den ärztlichen Zeugnissen benötigten sie spezialisierte psychotraumatologische und medikamentöse Behandlung, die nur unter stabilen und sicheren Lebens­bedingungen erfolgreich sein könne. In der Schweiz fühlten sie sich sicher. Bei einer Rückkehr nach Polen würden sie dieses Sicherheits­gefühl verlieren, und es sei zudem davon auszugehen, dass ihnen in Polen keine adäquate medizinische Behandlung zugänglich sei. Deshalb müsste im Falle eines Vollzugs der Wegweisung mit einer Chroni­fi­zierung ihres Zustandes und mit akuter Suizidalität gerechnet werden.

4.4                Das BFM leitet seine Vernehmlassungsantwort mit der Fest­stellung ein, beim Selbsteintrittsrecht (Souveränitätsklausel) handle es sich nicht um eine reine Kann-Bestimmung, sondern vielmehr um einen einklagbaren Anspruch, wenn gegen übergeordnetes Recht verstossen werde, und führt weiter aus, die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft sei nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und es lägen keine An­zeichen vor, dass Polen das Refoulement-Verbot nicht einhalte. Die an­gebliche Bedrohung durch Agenten Kadyrows in Polen sei von den Beschwerdeführenden in keiner Weise substanziiert worden und zudem sei solches Verhalten auch in Polen strafbar. Schliesslich äussert sich das BFM ausführlich dazu, inwiefern Asylsuchende in Polen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung hätten und verweist darauf, dass die Ausschaffung von Personen mit gesundheitlichen Problemen nur unter ganz aussergewöhnlichen Umständen einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstelle. Es folgert, dass mangels drohenden Verstosses gegen die EMRK und mangels besonders schwerwiegender humanitärer Grün­de kein Anlass für die Anwendung der Souveränitätsklausel bestehe.

5.                   Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das BFM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu über­prüfen (Art. 32-Art. 35 AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vor­instanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2007/8 E. 2.1 mit weiterem Hinweis).

Die Frage, ob die Beschwerdeführenden bei einer Rückkehr in ihr Heimat­land einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären, bildet damit nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Auch die Frage einer vorläu­figen Aufnahme aufgrund einer eventuellen Unzulässigkeit oder Unzu­mutbarkeit der Wegweisung nach Art. 44 Abs. 2 AsylG ist vorliegend nicht Prozessgegenstand. Zu prüfen ist hingegen, ob das BFM von sei­nem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO hätte Gebrauch machen müssen (vgl. BVGE 2010/45 E. 8.2.3), entweder aufgrund der Gefahr einer Verletzung des Refoulement-Verbots durch Polen (E. 6) oder aufgrund der gesundheitlichen Probleme der Beschwerdeführenden (E. 7 und 8).

6.                   Bezüglich der Gefahr einer Verletzung des Refoulement-Verbots durch Polen ist festzustellen, dass dieses Land sowohl Signatarstaat der FK als auch der EMRK ist. Zudem muss sich Polen an die ent­spre­chenden Normen der Europäischen Union (EU) halten (insbes. Richtlinie Nr. 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Mindest­normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staa­tenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig interna­tio­nalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304/12 vom 30.9.2004). Grundsätzlich ist davon auszu­gehen, dass die sogenannten Dublin-Staaten sich an ihre völkerrecht­lichen Verpflichtungen halten. Es liegt an den Beschwerde­führenden dar­zulegen, inwiefern ein ernsthaftes Risiko besteht, Opfer eines Ver­stosses gegen völkerrechtliche Normen zu werden (BVGE 2010/45 E. 7.4.1).

Im vorliegenden Fall liegen keine Anhaltspunkte vor, wonach sich Polen generell oder im konkreten Fall nicht an seine völkerrechtliche Ver­pflichtung zur Einhaltung des Refoulement-Verbots hält. Die Beschwer­deführenden substanziieren nicht weiter, inwiefern in ihrem Fall ein Ver­stoss gegen diese völkerrechtlichen Rechtsnormen durch Polen dro­hen sollte. Bei Polen handelt es sich um einen Rechtsstaat mit funk­tio­nie­ren­den Polizeiorganen, die in der Lage und willens sind, den Beschwerde­führenden Schutz gegen allfällige Drohungen zu gewähren.

Damit besteht diesbezüglich keine völkerrechtliche Pflicht für die Schweiz, von ihrem Recht auf Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen.

7.                   Bezogen auf die gesundheitlichen Probleme der Beschwerde­führenden führt das BFM in seiner Vernehmlassung zu Recht aus, die Schwelle für die Annahme eines Verstosses gegen das menschen­recht­liche Refoulement-Verbot nach Art. 3 EMRK aus gesundheitlichen Grün­den sei hoch.

7.1                Nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men­schenrechte (EGMR) ergibt sich aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Anspruch auf Verbleib in einem Konventionsstaat, um weiterhin in den Genuss medizinischer Leistungen dieses Staats zu kommen. In Einzel­fällen und unter ganz aussergewöhnlichen Umständen kann aber der Vollzug der Weg- oder Ausweisung einer ausländischen Person mit Blick auf deren gesundheitliche Situation einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK darstellen (EGMR, D. gegen Grossbritannien, Urteil vom 2. Mai 1997, Recueil des arrêts et décisions 1997-III, E. 49 ff.; vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission 2005 Nr. 23 E. 5.1). Im Fall Bensaid gegen Grossbritannien hat der EGMR präzisiert, dass der Schutzbereich von Art. 3 EMRK grundsätzlich auch dann betroffen sein könne, wenn mangels angemessener medizinischer Behandlungsmöglichkeiten im Heimat- oder Herkunftsstaat eine Ver­schlimmerung eines bereits bestehenden psychischen Leidens zu er­warten wäre, die selbstgefährdende Handlungen der betroffenen Person zur Folge haben könnte (EGMR, Bensaid gegen Grossbritannien, Urteil vom 6. Februar 2001, Recueil des arrêts et décisions 2001-I, E. 37). Allerdings wies der Gerichtshof auch in diesem Urteil auf die hohe Schwelle für die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK hin (EGMR, Bensaid gegen Grossbritannien, Urteil vom 6. Februar 2001, Recueil des arrêts et décisions 2001-I, E. 40). Entsprechend muss gemäss EGMR aufgrund der Gefahr einer Kettenabschiebung in Verletzung des Refoulement-Verbots dann von der Abschiebung einer Person in einen Drittstaat abgesehen werden, wenn gewichtige Gründe dafür vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr (« real risk ») einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht (EGMR, Saadi gegen Italien, Urteil vom 28. Februar 2008, Beschwerde-Nr. 37201/06, § 125; EGMR, Bensaid gegen Gross­britannien, Urteil vom 6. Februar 2001, Recueil des arrêts et décisions 2001-I, E. 39 f.; vgl. auch den Unzulässigkeitsentscheid des EGMR vom 7. Oktober 2004, Dragan und andere gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 33743/03).

7.2                Gemäss ärztlichem Zeugnis der Universitätsklinik und Poli­kli­nik für Psychiatrie Bern vom 11. November 2009 leidet die Beschwerde­führerin unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischen Symptomen. Konkret beklage sie sich über Angstzustände, massive Ein- und Durch­schlafstörungen mit Albträumen, Konzentrationsmangel, Appetitverlust, depressive Grundstimmung und Suizidgedanken. Zudem leide sie unter regelmässigen Flashbacks (intrusives Wiedererleben) in Bezug auf den Tod ihres Sohnes, der bei einem Hausbrand in Tschetschenien verbrannt ist, weswegen sie Schuldgefühle plagten. Seit dem 6. August 2009 sei die Beschwerdeführerin in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Zur Stabilisierung ihres Zustandes besuche sie wöchentlich Gesprächs­sitzungen und werde medikamentös für ihre Schlafstörungen und die innere Anspannung behandelt. Nach der Geburt ihrer Tochter am 1. Ok­tober 2009 habe sich ihr Zustand leicht verbessert.

Auch der Beschwerdeführer befindet sich gemäss ärztlichem Zeugnis der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern vom 4. November 2009 wegen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode in Behandlung. Auch er leide unter Schlafstörungen, Albträumen, Flashbacks und erhöhter psychomo­torischer Anspannung. Aufgrund der verschiedenen traumatisierenden Erlebnisse (Gefangennahme mit Todesdrohungen und Misshandlungen in Tschetschenien, Tod des Sohnes in Tschetschenien, Tod einer Tochter nach einer Frühgeburt in Österreich) sei bei ihm von einer kumulativen oder sequentiellen Traumatisierung auszugehen. Seit dem 15. September 2009 sei er in ambulanter Behandlung. Seither besuche er wöchentlich psychologische Gesprächssitzungen und stehe unter medikamentöser Behandlung wegen Schlafstörungen, der hohen inneren Anspannung sowie wegen einer Depression.

Für beide Beschwerdeführenden ist gemäss den ärztlichen Zeugnissen eine weitere Behandlung dringend notwendig, da ansonsten die Gefahr einer Chronifizierung des Zustandes und akuter Suizidalität bestehe. Für eine längerfristige Behandlung, die offenbar bereits in die Wege geleitet wurde, sei ein stabiles und sicheres Umfeld notwendig. Beide Beschwer­de­führenden hätten Vertrauen in ihre Ärzte gefasst und zeigten sich kooperativ und sehr motiviert. In der Schweiz fühlten sie sich in Si­cherheit. Dieses innere Gefühl der Sicherheit sei eine wesentliche Vor­aussetzung für einen positiven Verlauf der Traumatherapie. Im Falle einer Ausreise seien eine Verstärkung der Symptome und das Auftreten einer akuten Suizidalität nicht auszuschliessen.

7.3                Bezüglich des Zugangs zu medizinischer Versorgung für Asylsuchende in Polen führt das BFM in seiner Vernehmlassungsantwort aus, seine Abklärungen hätten ergeben, dass alle 19 Aufenthaltszentren für Asylsuchende über eine Ambulanz mit verschiedenen Fachärzten verfügten, in denen auch Sprechstunden mit Psychologen angeboten würden. Bei Bedarf könnten Patienten an externe Spezialisten über­wiesen werden. Asylsuchende, die ausserhalb der Aufenthaltszentren lebten, erhielten über das ihrem Wohnort nächstgelegene Aufenthalts­zentrum Zugang zum Gesundheitssystem. Die Ambulanzen verfügten über eigene Apotheken, und rezeptpflichtige Medikamente würden von den Aufenthaltszentren rückerstattet. Die Medikamente, die die Be­schwerdeführenden gemäss ihren ärztlichen Zeugnissen benötigten, seien in diesen Zentren erhältlich, und es könnten wöchentliche Therapie­gespräche durchgeführt werden. Damit entbehre die Aussage der Be­schwerdeführenden, ihnen würde in Polen keine angemessene medizi­nische Behandlung zuteil, jeder Grundlage.

Bei diesen Ausführungen stützt sich das BFM offensichtlich auf zwei interne Abklärungen, die seine damalige Fachstelle « Migrations- und Länderanalysen MILA » am 30. Dezember 2009 und 8. Januar 2010 in Berichten zusammengefasst und elektronisch in der Datenbank Artis abgelegt hat, auf welche auch das Bundesverwaltungsgericht Zugriff hat (Art. 1b Abs. 3 der Asylverordnung 3 vom 11. August 1999 [AsylV 3, SR 142.314]). Es ist jedoch festzuhalten, dass das BFM in seiner Ver­nehmlassungsantwort zwei Elemente der Abklärungen seiner Fachstelle bezüglich der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern in Polen verschweigt. Erstens wird darin festgestellt, dass die Psychologen in den Aufenthaltszentren nicht auf Trauma-Patienten spezialisiert seien und es eher selten vorkomme, dass solche Patienten an externe Spezialisten weitergeleitet würden. Zudem hätten die Asylsuchenden keinen vollen Zugang zum polnischen Gesundheitssystem, sondern nur zu Institu­tionen, die vom Innenministerium zur medizinischen Grundversorgung der Asylbewerber verpflichtet worden seien. Obwohl sich die Situation in den letzten Jahren stark verbessert habe und sich das Amt für Ausländer um die Umsetzung der EU-Vorgaben bemühe, sei die medizinische Grundversorgung im Asylverfahren auf einem bescheidenen Niveau und die Arbeitsbedingungen der Psychologen in den Aufenthaltszentren nicht optimal.

7.4                Somit ist festzustellen, dass eine angemessene, langfristige psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung der Beschwerdeführen­den als Asylbewerber in Polen nicht garantiert ist. Zudem würde ihre Wegweisung aus der Schweiz in jedem Fall die vor längerer Zeit und offenbar mit einigem Erfolg begonnene Behandlung gefährden, da sie aus ihrem einigermassen stabilen Umfeld gerissen würden.

7.5                Trotzdem erreichen diese Umstände die hohe Schwelle eines Verstosses gegen Art. 3 EMRK nicht. Das BFM war somit nicht - auf­grund übergeordneten Völkerrechts - verpflichtet, vom Selbsteintritts­recht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen und auf das Gesuch einzutreten.

 

8.                    

8.1                Die Schweiz kann zudem aus humanitären Gründen gestützt auf Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch machen. Da es sich bei Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 um eine Kann-Bestimmung handelt, verfügt das BFM bei der Ausübung dieses Rechts über einen gewissen Ermessensspielraum. Entgegen der Auffassung des BFM gibt es nicht nur die Überstellung der Asyl­suchenden an den zuständigen Staat auf der einen Seite und die Aus­übung des Rechts auf Selbsteintritt in den Fällen, wo die Überstellung gegen übergeordnetes Recht verstossen würde, auf der anderen Seite. Abgesehen von diesem letztgenannten Fall, wo der Selbsteintritt zur Pflicht wird, ist die Schweiz sehr wohl berechtigt und je nach den Um­ständen sogar gehalten, auch aus anderen, weniger zwingenden huma­nitären Gründen ihr Ermessen zu Gunsten des Wohls des Asylsuchenden in Form eines Selbsteintritts auszuüben. Durch eine restriktive Praxis der Auslegung von Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 wird sichergestellt, dass das Zuständigkeitssystem der Dublin-II-VO nicht unterhöhlt wird (vgl. Filzwieser/Sprung, a. a. O., K8 zu Art. 3, welche Autoren sich zu Recht von der von Hermann [Mathias Hermann, Das Dublin System, Zürich/Basel/Genf 2008, S. 121] postulierten « grenzenlosen Souveräni­tätsklausel » distanzieren).

8.2                Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass alle Dublin-Staaten die grundlegenden medizinischen Bedürfnisse der Asylsuchenden erfüllen (BVGE 2010/45 E. 8.2.2). Deshalb stellt die Notwendigkeit einer Betreuung im Rahmen der ärztlichen Grundversorgung für sich allein keinen genügenden Grund dar, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-1244/2010 vom 13. Januar 2011 E. 3.4.4).

Kommen jedoch im Rahmen einer Gesamtabwägung aller relevanten Um­stände im konkreten Einzelfall verschiedene Gründe zusammen, die eine Wegweisung aus humanitärer Sicht problematisch erscheinen lassen, ist auf die Überstellung des Asylsuchenden an einen anderen Dublin-Staat zur Prüfung seines Asylgesuchs zu verzichten und auf das Asylgesuch einzutreten (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-2510/2010 vom 28. April 2011 E. 7.2). Dabei sind insbesondere auch die gesund­heitlichen Folgen, die eine Wegweisung auf die psychische Verfassung des Asylbewerbers haben könnte, zu beachten (vgl. z. B. Urteil des Bun­desverwaltungsgerichts E-5989/2010 vom 9. September 2010).

8.3                Im vorliegenden Fall benötigen die Beschwerdeführenden eine Behandlung von auf Trauma-Patienten spezialisierten Fachärzten und ein stabiles Umfeld, damit die Behandlung Aussicht auf Erfolg haben kann. Die Beschwerdeführenden befinden sich seit längerer Zeit - die Be­schwerdeführerin seit August 2009, der Beschwerdeführer seit Septem­ber 2009 - in der Schweiz in psychiatrisch-psychotherapeutischer Be­handlung. In dieser Zeit konnten sie das zur Behandlung notwendige Vertrauensverhältnis zu den behandelnden Ärzten aufbauen. Durch die Wegweisung aus der Schweiz würden sie aus diesem Vertrauens­ver­hältnis gerissen, was nicht nur weitere therapeutische Fortschritte ver­unmöglichen, sondern insbesondere auch die bisher erzielten Fortschritte gefährden würde. Zudem ist eine adäquate psychiatrisch-psychothera­peutische Behandlung im Zielstaat nicht gewährleistet. Schliesslich ist die traumatische Erfahrung zu berücksichtigen, welche die Beschwerde­führenden im Zielstaat mit der schweren Erkrankung ihrer Tochter auf­grund der ihnen zugewiesenen Unterkunft machen mussten. Diese wiegt umso schwerer als die traumatisierenden Erlebnisse der Beschwer­de­führenden vor ihrer Einreise in die Schweiz zu einem grossen Teil auf den Tod von zwei ihrer Kinder zurückzuführen sind, weshalb es den Beschwerdeführenden umso weniger zuzumuten ist, für die Prüfung ihrer Asylgesuche nach Polen überstellt zu werden. Das Vorliegen humanitärer Gründe nach Art. 29a Abs. 3 AsylV 1 ist im vorliegenden Fall aufgrund der Behandlungsbedürftigkeit der Beschwerdeführenden, ihrer vor bald zwei Jahren begonnenen und notwendigen Behandlung, der in Polen kaum erhältlichen angemessenen Behandlung sowie ihrer traumati­sierenden Erfahrungen im Heimatland, in Polen und in Österreich im Sinne einer Gesamtwürdigung der verschiedenen Umstände zu bejahen.

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asylgesuch
entscheid
uno
schweizer bürgerrecht
zuständigkeit
tschetschenien
europäischer gerichtshof für menschenrechte
verstossung
embryotransfer
medizin
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