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Auszug aus dem Urteil der Abteilung IV
i. S. X. gegen Bundesamt für Migration
D-4935/2007 vom 21. Dezember 2011

Innerstaatliche Schutzalternative. Auswirkungen des Wechsels von der Zurechenbarkeitstheorie zur Schutztheorie. Grundsatzurteil.

Art. 1 A Ziff. 2 FK. Art. 3 AsylG.

1.      Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft hängt nicht davon ab, wer Urheber der Verfolgung ist, sondern davon, ob im Hei­matstaat adäquater Schutz vor Verfolgung in Anspruch genom­men werden kann (Schutztheorie; Überblick über die Recht­spre­chung; E. 7.1-7.4).

2.      Für die in einem Landesteil von Verfolgung betroffene Person be­steht keine die Flüchtlingseigenschaft ausschliessende inner­staat­liche Schutzalternative in einem anderen Landesteil, wenn sie dort in eine existenzbedrohende Situation geraten würde (Präzi­sierung der Rechtsprechung; E. 8).

Possibilité de protection interne. Effets du passage de la théorie de l'imputabilité à la théorie de la protection. Arrêt de principe.

Art. 1 A ch. 2 Convention du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés. Art. 3 LAsi.

1.      La reconnaissance de la qualité de réfugié ne dépend pas de l'au­teur de la persécution, mais de la possibilité d'obtenir, dans l'Etat d'origine, une protection adéquate contre cette persécution (théo­rie de la protection; aperçu de la jurisprudence; consid. 7.1-7.4).

2.      La qualité de réfugié ne peut être déniée à la personne qui a subi une persécution dans une partie du pays, au motif que celle-ci disposerait d'une possibilité de protection interne dans une autre partie du pays, si elle se retrouvait, au lieu de la pro­tec­tion interne, dans une situation menaçant son existence (préci­sion de la jurisprudence; consid. 8).

 

Alternativa di protezione interna. Conseguenze dell'abbandono della teoria dell'imputabilità a favore della teoria della protezione. Sen­ten­za di principio.

Art. 1 A n. 2 Convenzione del 28 luglio 1951 sullo statuto dei rifu­giati. Art. 3 LAsi.

1.      Il riconoscimento della qualità di rifugiato non dipende dall'au­tore della persecuzione, ma dalla possibilità di ottenere, nel pro­prio Stato di origine, una protezione adeguata contro tale perse­cuzione (teoria della protezione; riassunto della giurisprudenza; consid. 7.1-7.4).

2.      La qualità di rifugiato non può essere negata alla persona che ha subito una persecuzione in una parte del Paese, per il motivo che disporrebbe di un'alternativa di protezione interna in un'altra parte del Paese, se si trovasse, nel luogo della protezione interna, in una situazione che minacci la sua esistenza (precisazione della giurisprudenza; consid. 8).

 

Der Beschwerdeführer, ein ethnischer Araber mit letztem Wohnsitz in Bagdad, verliess den Irak gemäss eigenen Angaben am 26. April 2005 und gelangte am 4. Mai 2005 in die Schweiz, wo er am gleichen Tag um Asyl nachsuchte.

Bei der Erstbefragung im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Kreuz­lingen vom 9. Mai 2005 und der Anhörung zu den Asylgründen vom 13. Mai 2005 führte der Beschwerdeführer zur Begründung seines Gesuches aus, ein Nachbar und ein Verwandter, die gegen die Ameri­kaner und ihre Alliierten gekämpft hätten, hätten ihn zur Zusam­men­arbeit aufgefordert. Zirka 15 bis 20 Meter von seinem Haus entfernt habe sein Nachbar einen Einschnitt in eine Sicherheitsmauer angebracht, durch den die US-Truppen von vielen Leuten angegriffen worden seien. Die Amerikaner hätten wissen wollen, woher die Angreifer kämen und hätten auch mehrmals mit ihm gesprochen. Im Januar 2005 seien drei Bewaffnete in sein Haus gekommen, zwei von ihnen seien aufs Dach gegangen und bis am folgenden Morgen dort geblieben. Anfang Februar 2005 hätten zwei Amerikaner das Haus durchsucht, auch diese seien aufs Dach gegangen und bis am nächsten Morgen dort geblieben. Sein Nach­bar habe ihm gesagt, die Leute dächten, er würde mit den Amerika­nern zusammenarbeiten. Er müsse aufpassen, sonst werde er eines Tages getötet. Am 15. April 2005 sei der Verwandte zu ihm ge­kom­men; dieser habe einige CDs bei sich gehabt, auf denen wahrscheinlich die Namen und Adressen von Personen gespeichert gewesen seien. Einige Tage später sei dieser festgenommen worden. Dies habe er am 20. April 2005 von der Mutter des Festgenommenen, die ihn beschuldigt habe, diesen verraten zu haben, telefonisch erfahren. Da er sich gefürchtet habe, vom Nachbarn und dessen Leuten getötet zu werden, habe er den Irak verlassen.

Mit Eingabe vom 12. Oktober 2005 reichte die Caritas Schweiz für die beiden minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers, die sich in Syrien aufhielten, gestützt auf Art. 20 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) ein Asylgesuch aus dem Ausland und ein Gesuch um Erteilung einer Einreisebewilligung ein.

Das Bundesamt für Migration (BFM) bewilligte den beiden Kindern des Beschwerdeführers mit Verfügung vom 11. November 2005 die Einreise in die Schweiz. Sie reisten am 5. Dezember 2005 in die Schweiz ein.

Die Tochter des Beschwerdeführers wurde am 18. August 2006 von der zuständigen kantonalen Behörde befragt. Sie sagte aus, ihr sei weder im Irak noch in Damaskus (Syrien), wo sie nach der Ausreise aus der Hei­mat bei Verwandten ihres Vaters gelebt habe, etwas zugestossen.

Das BFM führte am 19. Juni 2007 eine ergänzende Anhörung des Beschwerdeführers durch. Eingangs der Befragung wies er darauf hin, er habe bei den ersten beiden Befragungen Angst gehabt, die Wahrheit zu sagen. Die Befragerin bei der ersten Befragung habe gesagt, er sei ein Freund der Terroristen. Er sei verwirrt gewesen und habe keine weiteren Angaben zu seinen Asylgründen gemacht. Um seine berufliche Stellung halten zu können, sei er Mitglied der Baath-Partei gewesen. Im Februar 2003 sei er in einer Fabrik tätig gewesen, in der Medaillen und Abzei­chen hergestellt worden seien. Damals sei der Fabrikdirektor gekommen und habe drei Mitglieder des Olympischen Komitees zu ihm geführt. Diese hätten von ihm verlangt, Stillschweigen über das Treffen zu wah­ren. Die Männer hätten Leute gesucht, die nach dem Einmarsch der Ame­rikaner weiterhin für die Baath-Partei hätten arbeiten wollen. Sie hätten ihm gesagt, er sei von einem Verwandten empfohlen worden. Er habe ein Papier unterzeichnen müssen, in dem er sich zur Zusam­men­arbeit bereit erklärt habe. Mitte 2004 habe man begonnen, sich zu orga­nisieren. Im Januar 2005 sei er dann von drei Terroristen aufgesucht worden, die ihm Grüsse von seinem Nachbarn, einem Mitglied des Ge­heimdienstes, aus­gerichtet hätten. Sein Nachbar habe von ihm ver­langt, dass er vom Dach seines Hauses die Truppenverschiebungen der Ameri­kaner beobachte; er habe dies aber nie getan. Im März 2005 sei sein Nachbar zu ihm ge­kom­men und habe ihm gesagt, er müsse nun mitma­chen. Man wisse, dass die Amerikaner in seinem Haus gewesen seien und er für eine Firma tätig sei, die im Auftrag der Amerikaner arbeite. Am 15. April 2005 sei sein Verwandter zu ihm gekommen und habe versucht, ihm Papiere zur Un­terschrift vorzulegen. Er habe sich ge­wei­gert, etwas zu unter­schreiben. Er habe seinem Verwandten am 17. April 2005 gesagt, er solle das Haus verlassen, da er sich gefährdet fühle. Er habe gesagt, er wolle nicht mehr kontaktiert werden, ansonsten er sich an die Amerikaner wenden werde. Am 20. April 2005 sei der Ver­wandte festgenommen worden. Die Mutter desselben habe ihn am frühen Mor­gen kontaktiert und ihm gesagt, man sei der Ansicht, dass er ihren Sohn an die Amerikaner verraten habe.

Mit Verfügung vom 28. Juni 2007 stellte das BFM fest, die Beschwer­deführenden erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, und lehnte die Asylgesuche ab. Gleichzeitig wurde die Wegweisung angeordnet, deren Vollzug jedoch zufolge Unzumutbarkeit zugunsten einer vorläufigen Aufnahme aufgeschoben wurde.

Mit Eingabe vom 19. Juli 2007 erhob der Beschwerdeführer beim Bun­desverwaltungsgericht gegen diesen Entscheid für sich und seine Kinder Beschwerde und beantragte, es seien die Ziffern 1, 2 und 3 der ange­foch­tenen Verfügung aufzuheben und es sei die Flüchtlingsei­gen­schaft fest­zustellen und ihnen Asyl zu gewähren.

Das Bundesverwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

5.3                Hinsichtlich der Prüfung der asylrechtlichen Relevanz der Vor­bringen ist vom folgenden, rechtserheblichen Sachverhalt auszu­gehen: Der Beschwerdeführer war aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit ge­zwungen, sich der Baath-Partei anzuschliessen. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein arbeitete er bei verschiedenen Unter­neh­men, die teilweise auch mit den im Irak anwesend gewesenen amerika­nischen Truppen zusammenarbeiteten. Ein Nachbar und ein Verwandter versuchten, ihn für die Zusammenarbeit mit Funktionären des ehe­mali­gen Regimes zu gewinnen. Er wies die Aufforderungen zur Zusam­men­arbeit unter Hinweis auf die Sicherheit seiner Familie zurück. Der Ver­wandte des Beschwerdeführers, der sich im April 2005 zwei Tage lang bei ihm aufgehalten hatte, wurde kurz danach von den amerika­nischen Truppen festgenommen. Da sich der Beschwerdeführer davor fürchtete, für dessen Festnahme verantwortlich gemacht und « bestraft » zu wer­den, verliess er seine Heimat.

 

6.1                Die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG erfüllt eine asylsuchende Person nach Lehre und Rechtsprechung dann, wenn sie Nachteile von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft begründe­ter­weise befürchten muss, welche ihr gezielt und aufgrund bestimmter Ver­folgungsmotive durch Organe des Heimatstaates oder durch nicht­staat­liche Akteure zugefügt worden sind beziehungsweise zugefügt zu werden drohen (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37). Aufgrund der Subsidiarität des flüchtlingsrechtlichen Schutzes setzt die Zuerkennung der Flüchtlings­eigenschaft ausserdem voraus, dass die betroffene Person in ihrem Heimatland keinen adäquaten Schutz finden kann (vgl. BVGE 2008/12 E. 7.2.6.2 S. 174 f., BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37 f.). Ausgangspunkt für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Frage nach der im Zeit­punkt der Ausreise vorhandenen Verfolgung oder begründeten Furcht vor einer solchen. Die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheides ist jedoch im Rahmen der Prüfung nach der Aktualität der Verfolgungsfurcht eben­falls wesentlich. Veränderungen der objektiven Situation im Heimat­staat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind deshalb zugunsten und zu­lasten der das Asylgesuch stellenden Person zu berücksichtigen (vgl. BVGE 2008/34 E. 7.1 S. 507 f., BVGE 2008/12 E. 5.2 S. 154 f.; Walter Stöckli, Asyl, in: Peter Uebersax/Beat Rudin/Thomas Hugi Yar/Thomas Geiser [Hrsg.], Ausländer­recht, 2. Aufl., Basel 2009, Rz. 11.17 und 11.18).

6.2                Begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, wenn konkreter Anlass zur Annahme besteht, eine Verfolgung hätte sich - aus der Sicht im Zeitpunkt der Ausreise - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zeit verwirklicht beziehungsweise werde sich - auch aus heutiger Sicht - mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zu­kunft verwirklichen. Eine bloss entfernte Möglichkeit künftiger Verfol­gung genügt nicht; es müssen konkrete Indizien vorliegen, welche den Eintritt der erwarteten - und aus einem der vom Gesetz aufgezählten Mo­tive erfolgenden - Benachteiligung als wahrscheinlich und dement­spre­chend die Furcht davor als realistisch und nachvollziehbar er­schei­nen lassen (vgl. EMARK 2005 Nr. 21 E. 7 S. 193 f., EMARK 2004 Nr. 1 E. 6a S. 9).

6.3                Der Beschwerdeführer hatte bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise weder durch die Behörden seines Heimatlandes noch durch Privat­personen ernsthafte Nachteile im Sinne des AsylG erlitten. Auf­grund der Festnahme seines Verwandten durch die Amerikaner und des Umstandes, dass er von diesem und dessen Gefolgsleuten des Verrats be­zichtigt wurde, erscheint jedoch die für den Zeitpunkt der Ausreise geltend ge­machte Furcht des Beschwerdeführers vor Vergeltungsaktionen ange­sichts der damaligen Lage im Irak als begründet. Die Annahme, dass die Angehörigen des Widerstandes aufgrund des vermuteten Verrats gegen­über dem Beschwerdeführer auch im heutigen Zeitpunkt noch Rache­gedanken hegen dürften, führt - auch angesichts der Angaben seiner Ex-Ehefrau - zum Schluss, dass eine asylrechtlich relevante ernst­hafte und gezielte Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer nach wie vor besteht.

 

7.1                Gemäss der auf der so genannten Zurechenbarkeitstheorie (« accountability view ») beruhenden früheren Praxis der schweize­ri­schen Asylbehörden wurde eine Verfolgung nur dann als flüchtlings­rechtlich relevant erachtet, wenn sie unmittelbar oder mittelbar dem Staat zugerechnet werden konnte (vgl. EMARK 2004 Nr. 14 E. 6d S. 92, EMARK 2004 Nr. 3 E. 4d S. 24, EMARK 2002 Nr. 16 E. 5c/cc S. 133, EMARK 1996 Nr. 16 E. 4c/aa S. 146). Im Gegensatz dazu hängt nach der heute geltenden Praxis, welche auf dem der so genannten Schutz­theorie (« protection view ») zugrunde liegenden Verständnis des Ab­kommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30) basiert, die Bejahung eines internationalen Schutz­bedürf­nisses nicht (mehr) davon ab, wer Urheber der Verfolgung ist, sondern davon, ob im Heimatstaat adäquater Schutz vor Verfolgung in Anspruch genommen werden kann (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 6.3.1 und E. 10.2.1). Damit ist nicht nur unmittelbare oder mittelbare staat­liche, sondern auch private (bzw. nichtstaatliche) Verfolgung flüchtlings­recht­lich relevant, sofern im Heimatstaat kein adäquater Schutz vor Ver­fol­gung besteht (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 7.5-7.9 S. 193 ff.).

7.2                Der Schutz vor privater Verfolgung kann dabei sowohl durch den Staat selbst als auch durch einen besonders qualifizierten Quasi-Staat gewährt werden, allenfalls auch durch internationale Organisationen. Der Schutz vor privater Verfolgung auf tieferem institutionellem Niveau beispielsweise durch einen Clan, durch eine (Gross-)Familie oder auf individuell-privater Basis genügt dagegen nicht (vgl. BVGE 2008/12 E. 7.2.6.2 S. 174 f., BVGE 2008/5 E. 4.1 S. 60, BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37 f.; EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.2.3 S. 202 f.).

7.3                Der Schutz vor privater Verfolgung ist als solcher ausreichend, wenn im Heimatstaat eine funktionierende und effiziente Schutz­infra­struktur zur Verfügung steht, also in erster Linie polizeiliche Aufgaben wahrnehmende Organe und ein Rechts- und Justizsystem, das eine ef­fek­tive Strafverfolgung ermöglicht. Ob das bestehende Schutzsystem als in diesem Sinne effizient erachtet werden kann, hängt letztlich auch davon ab, dass der Schutz die von Verfolgung betroffene Person tat­säch­lich erreicht (vgl. UNHCR, Internationaler Flüchtlingsschutz, Ausle­gung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung von Flücht­lingen, April 2001, Ziff. 15). So kann beispielsweise nicht von adäqua­tem staatlichem Schutz für die betroffenen Frauen die Rede sein, wenn die praktische Umsetzung der in Äthiopien eingeführten Reformen zur Bekämpfung des Phänomens der Entführung von jungen Frauen zwecks Heirat durch bestehende kulturelle Normen und Tradi­tionen in ländlichen Gegenden stark behindert wird (vgl. EMARK 2006 Nr. 32 E. 7.4.1 und E. 7.4.2 S. 348 ff.).

7.4                Ein subsidiäres internationales Schutzbedürfnis im Sinne der Schutztheorie kann sich für die von Verfolgung betroffene Person dem­nach ergeben, weil im Heimatstaat keine Schutzinfrastruktur besteht, die ihr Schutz bieten könnte (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 11.2 S. 204 f.), oder weil der Staat ihr keinen Schutz gewährt, obwohl er dazu in der Lage wäre. Ein Schutzbedürfnis besteht aber auch dann, wenn die be­stehende Schutzinfrastruktur der von Verfolgung betroffenen Person nicht zugänglich ist oder ihr deren Inanspruchnahme aus individuellen Gründen nicht zuzumuten ist (vgl. BVGE 2008/12 E. 6.8 S. 168, BVGE 2008/5 E. 4.2 S. 60 f., BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37 f.; EMARK 2006 Nr. 18 E.10.3.1 und E. 10.3.2 S. 203). Ob ein Schutzbedürfnis besteht, ist im Rahmen einer individuellen Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontextes zu beantworten, wobei es den Asyl­be­hörden obliegt, die Effektivität des Schutzes vor Verfolgung im Heimat­staat abzuklären und zu begründen (vgl. BVGE 2008/5 E. 4.2 S. 60 f., BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37 f.; EMARK 2006 Nr. 32 E. 6.1 S. 340 f., EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.3.2 S. 203).

7.5                Im Zentral- und Südirak existiert kein funktionierendes und effi­zientes Rechts- und Justizsystem (vgl. BVGE 2008/12 E. 6.4-6.8 S. 164 ff.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-430/2008 vom 23. Juni 2011 E. 5.3). Es ist deshalb davon auszugehen, dass weder die irakischen Behörden noch die im Irak anwesend gewesenen interna­tionalen Truppen in der Lage sind (waren), dem Beschwerdeführer im Zentralirak hinreichenden Schutz vor der ihm drohenden Verfolgung zu gewähren. Hingegen sind die Behörden in den drei nordirakischen Pro­vinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniya in der Lage und willens, den Ein­wohnern ihrer Provinzen Schutz vor allfälliger Verfolgung zu gewähren (vgl. BVGE 2008/4 E. 6.1-6.7 S. 40 ff.). Es stellt sich somit die Frage, ob dem Beschwerdeführer in diesen Provinzen eine die Flücht­lingsei­gen­schaft ausschliessende innerstaatliche Flucht- beziehungsweise Schutzal­ternative (vgl. Stöckli, a. a. O., Rz. 11.20) zur Verfügung steht.

 

8.1                Aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schut­zes ergibt sich, dass eine Person, die nur in einem Teil des Landes ver­folgt wird und sich in eine andere, sichere Region begeben kann, keinen internationalen Schutz benötigt. Wirken sich die Benachteili­gungen nur lokal, nicht aber im ganzen Staatsgebiet aus und ist der Heimatstaat in der Lage und willens, dem Betroffenen in anderen Lan­desteilen wirk­samen Schutz vor Verfolgung zu gewähren, so kann dem Asylsuchenden das Vorliegen einer innerstaatlichen Flucht- bezie­hungs­weise Schutz­alternative entgegengehalten werden. Eine solche Alter­native versteht sich sowohl aus der Sicht der FK als auch auf der Grund­lage von Art. 3 AsylG als Schranke des materiellen Flüchtlings­begriffs. Das Institut der innerstaatlichen Flucht- beziehungsweise Schutzalter­native beruht auf dem Wortlaut von Art. 1 A Ziff. 2 FK, wonach nicht Flüchtling sein kann, wer gegen eine in begründeter Weise befürchtete Verfolgung den Schutz seines Heimatstaates in Anspruch nehmen kann (vgl. EMARK 2000 Nr. 2 E. 8 und 9c S. 20 ff., EMARK 2000 Nr. 15 E. 12a S. 127 und E. 14a S. 133).

Die Frage, ob eine Flucht- beziehungsweise Schutzalternative besteht, stellt sich allerdings erst, wenn zuvor eine bestehende oder drohende Ver­folgung aus einem flüchtlingsrechtlich relevanten Motiv festgestellt wor­den ist; wer eine derartige Verfolgung nicht begründet befürchten muss, erfüllt die Flüchtlingseigenschaft bereits aus diesem Grund nicht, und das Bestehen allfälliger Flucht- beziehungsweise Schutzalternativen ist gar nicht zu prüfen (vgl. EMARK 2000 Nr. 15 E. 7b S. 113 f. und E. 14a S. 133). Falls indessen eine begründete Furcht vor Verfolgung aus einem flüchtlingsrechtlich relevanten Motiv besteht, basiert das Institut der innerstaatlichen Flucht- beziehungsweise Schutzalternative - der von Art. 1 A Ziff. 2 FK vorgegebenen Dogmatik folgend - nicht darauf, dass der Verfolger nur in lokalen oder regionalen Dimensionen verfolgen kann, an anderen Orten des Staatsterritoriums hingegen machtlos und verfolgungsunfähig ist, sondern sie basiert auf der Tatsache, dass der Heimatstaat zwar nicht am Ort der Verfolgung, hingegen in anderen Ge­bieten seines Territoriums hinlänglichen Schutz vor Verfolgung be­zie­hungsweise vor dem Verfolger gewährt (vgl. EMARK 2000 Nr. 15 E. 7b S. 113 f., EMARK 1997 Nr. 12 E. 6b, EMARK 1997 Nr. 14 E. 6b S. 118).

8.2                Gemäss Praxis steht der von Verfolgung betroffenen Person eine innerstaatliche Fluchtalternative dann zur Verfügung, wenn sie am Zu­fluchtsort nicht weiterhin oder erneut ernsthafte Nachteile aufgrund un­mittelbarer oder mittelbarer staatlicher Verfolgung aus flüchtlings­recht­lich relevanten Motiven befürchten muss, und sie dort auch nicht Gefahr läuft, anderen, weniger intensiven staatlichen Beeinträchtigungen oder Massnahmen ausgesetzt zu sein, die darauf abzielen, sie aus flücht­lings­rechtlich relevanten Motiven in das Gebiet der ursprünglichen Ver­fol­gung zurückzudrängen (EMARK 1996 Nr. 1 E. 5c S. 6 f.). Die Frage, ob ihr die Niederlassung am Zufluchtsort aufgrund ungünstiger Lebens­bedingungen zuzumuten ist, ist hingegen allein unter dem Aspekt der Wegweisungshindernisse gemäss Art. 14a Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG, BS 1 121; heute: Art. 83 Abs. 4 des Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005 [AuG, SR 142.20]) zu prüfen (vgl. EMARK 2005 Nr. 17 E. 6.3 S. 155 und E. 8.3.2 S. 156, EMARK 2000 Nr. 15 E. 14b S. 135, EMARK 1996 Nr. 1 E. 5.d S. 7 ff.).

8.3                In der Literatur wird diese Praxis kritisiert und darauf hinge­wiesen, sie schränke die Möglichkeiten der Feststellung der Flüchtlings­eigenschaft gemäss der FK in einer von dieser nicht vorgesehenen und damit völkerrechtswidrigen Art und Weise ein. Den von dieser Praxis betroffenen Personen würden die von der Flücht­lingskonvention garan­tierten und die mit der Asylgewährung verknüpften Rechte des AsylG vorenthalten, indem ihnen nur der Status der vorläufigen Auf­nahme gewährt werde. Ausserdem sei diese Praxis im internationalen Vergleich ausgesprochen streng und sie bleibe, indem die Frage, ob es der be­troffenen Person zuzumuten sei, sich am Zufluchtsort nieder­zulas­sen, nicht unter dem Aspekt der Flüchtlingseigenschaft geprüft werde, deut­lich hinter den in der UNHCR-Richtlinie zum inter­nationalen Schutz Nr. 4, « Interne Flucht- oder Neuansiedlungs­alter­native » vom 23. Juli 2003 (nachfolgend: UNHCR-Richtlinien) und in Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staa­ten­losen als Flüchtlinge oder als Perso­nen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt der Euro­päischen Union L 304/12 vom 30.09.2004) emp­fohlenen Standards zurück (vgl. Francesco Maiani, La définition de réfugié entre Genève, Bruxelles et Berne - dif­férences, tensions, ressem­blances, in: Schweizer Asylrecht, EU-Standards und interna­tio­nales Flüchtlings­recht, Eine Vergleichsstudie, 2009, S. 58 f.; Schweize­rische Flüchtlingshilfe SFH [Hrsg.], Handbuch zum Asyl- und Wegwei­sungs­verfahren, Bern 2009, S. 189 ff.; vgl. Stöckli, a. a. O., Rz. 11.20; Kathrin Buchmann, Die Rechtsprechung der Schweize­rischen Asyl­rekurskommission im Jahr 2005, in: ASYL 2006/02 Ziff. 2.1.5 S. 13 f. und Ziff. 5. S. 21; Susanne Bolz, Wie EU-kompa­tibel ist das Schweizer Asylrecht?, in: ASYL 2005/1, Ziff. 3 S. 9 f.; Ruedi Illes, Asylverfahren und Flüchtlingsbegriff - Europäische Harmoni­sierungs­bestrebungen aus der Optik des Schweizer Asylrechts betrachtet, in: ASYL 2004/02, Ziff. 5.4.4 S. 17).

8.4                Die damals zuständige ARK führte zur Begründung der er­wähn­ten, im Grundsatzurteil EMARK 1996 Nr. 1 präzisierten Praxis aus, bei der Beantwortung der Frage, ob eine in einem Teilgebiet ihres Hei­mat­staates verfolgte Person landesintern um wirksamen Schutz vor eben­dieser Verfolgung nachsuchen könne, sei die Intention der staat­li­chen Behörden am Zufluchtsort von entscheidender Bedeutung. Am Schutz­willen des Heimatstaates fehle es nur, wenn diese die betroffene Person auch am Zufluchtsort unmittelbar selber verfolgen oder sie aus Gründen gemäss Art. 3 AsylG darauf abzielen, sie wiederum in das Gebiet der ursprünglichen Verfolgung zurückzudrängen. Von einer Ver­weigerung effizienten Schutzes könne hingegen nicht gesprochen wer­den, wenn der Heimatstaat die Person weder unmittelbar noch mittel­bar asylrechtlich relevanten Behelligungen aussetzen wollte. Es fehle auch nicht an staat­lichem Schutzwillen, wenn die in einem Teilgebiet ihres Heimatstaates verfolgte Person am Zufluchtsort ungünstige Lebens­bedin­gungen, wie beispielsweise einen angespannten Arbeitsmarkt oder kul­turelle oder religiöse Integrationserschwernisse, vorfinde. Hier werde sie in derselben Weise betroffen wie andere Personen in vergleichbaren Lebensverhält­nissen, welche im Gegensatz zu ihr nicht in einem anderen Teil des Lan­des verfolgt worden seien. Unter diese Personengruppen mit vergleich­baren Lebensverhältnissen würden einerseits Landsleute fallen, die seit je am Zufluchtsort gelebt hätten, andererseits aber auch Gewaltflücht­linge, welche aufgrund eines Bürgerkrieges oder bürger­kriegsähnlicher Auseinandersetzungen dorthin gezogen seien. Aus Gründen der Syste­matik der Asylgesetzgebung - wonach allgemein un­günstige Lebensbe­dingungen flüchtlingsrechtlich irrelevant und lediglich unter dem Aspekt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges zu berücksichtigen seien - und der Rechtsgleichheit verbiete sich daher eine ungleiche Behandlung dieser Personengruppen (vgl. EMARK 1996 Nr. 1 E. 5.d.cc S. 9 ff.).

 

8.5.1           Im Gegensatz zur beschriebenen, noch auf der Zurechen­bar­keitstheorie basierenden Praxis ist gemäss der heute geltenden, auf der Schutztheorie beruhenden Praxis für die Beantwortung der Frage, ob der in einem anderen Landesteil von Verfolgung betroffenen Person eine innerstaatliche Flucht- beziehungsweise Schutzalternative zur Verfügung steht, nicht entscheidend, dass sie am Zufluchtsort nicht weiterhin oder erneut staatlicher Verfolgung ausgesetzt ist. Ausschlaggebend ist viel­mehr, dass am Zufluchtsort adäquater Schutz vor Verfolgung in Anspruch genommen werden kann. Bei der Prüfung der Frage, ob eine inner­staat­liche Schutzalternative besteht, die das internationale Schutz­bedürfnis ausschliesst, ist zunächst zu klären, ob im Heimatstaat eine Schutz­infra­struktur besteht und der Staat der von Verfolgung betroffenen Person auch Schutz zu gewähren gewillt ist. Ist der Staat beispielsweise nicht in der Lage, der in einem Landesteil von privater Verfolgung betroffenen Person zumindest in einem anderen Landesteil adäquaten Schutz zu ge­währen, ist ein internationales Schutzbedürfnis ohne weite­res gegeben und es besteht für sie keine innerstaatliche Alternative zum internatio­na­len Schutz (vgl. EMARK 2006 Nr. 32 E. 7.4.3.1 und E. 7.4.3.2 S. 350 f.).

8.5.2           Das der Schutztheorie zugrunde liegende Verständnis der FK ist indes nicht allein auf die Frage fokussiert, ob im Heimatstaat eine funk­tionierende und effiziente Schutzinfrastruktur zur Verfügung steht. Sie richtet das Augenmerk darüber hinaus auf die Frage, ob die von Verfol­gung betroffene Person die im Heimatstaat bestehende Schutz­infra­struktur auch tatsächlich in Anspruch nehmen kann. Besteht eine Schutz­infrastruktur und ist der Staat gewillt, Schutz zu gewähren, ist deshalb weiter zu prüfen, ob die bestehende Schutzinfrastruktur der von Verfol­gung betroffenen Person zugänglich und ihr deren Inanspruch­nahme individuell zuzumuten ist (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.3.1 und E. 10.3.2 S. 203). Nicht anders verhält es sich bei der Prüfung der Frage, ob die von Verfolgung betroffene Person deshalb kein internationales Schutzbedürfnis hat, weil ihr eine innerstaatliche Schutzalternative zur Verfügung steht. Das Bestehen einer innerstaatlichen Alternative zum internationalen Schutz kann nur bejaht werden, wenn die Schutz­in­fra­struktur am Zufluchtsort der im anderen Landesteil von Verfolgung be­troffenen Person zugänglich ist. Sie muss diese mithin, ohne sich in unzu­mutbare Gefahren begeben zu müssen, auf legalem Weg erreichen und sich dort legal aufhalten können (vgl. BVGE 2008/4 E. 6.6.1 S. 47 f.; UNHCR-Richtlinie, a. a. O., Rz. 10-12). Um den am Zufluchtsort er­hält­lichen Schutz längerfristig tatsächlich in Anspruch nehmen zu können, muss es ihr darüber hinaus zuzumuten sein, sich dort nieder­zulassen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Der Zufluchtsort muss mithin eine realistische und nicht - wie noch unter der Zurechenbar­keits­theorie (vgl. EMARK 1996 Nr. 1 E. 6 S. 11) - eine bloss hypothetische innerstaatliche (Flucht- bzw. Schutz-)Alternative zum internationalen Schutz sein. Bei der Prüfung der Frage, ob es der betroffenen Person zuzumuten ist, sich am Zufluchtsort niederzulassen, um tatsächlich Schutz vor Verfolgung zu finden, können aber die Gegebenheiten vor Ort und die persönlichen Umstände, die es ihr allenfalls verunmöglichen, den am alternativen Ort bestehenden Schutz in Anspruch zu nehmen, nicht ausgeblendet werden. Es sind deshalb die allgemeinen Verhältnisse am Zufluchtsort und die persönlichen Umstände der von Verfolgung betroffenen Person in Augen­schein zu nehmen (vgl. UNHCR-Richtlinie, a. a. O., Rz. 18-30) und es ist im Rahmen einer individuellen Einzelfallprüfung unter Berück­sichti­gung des länderspezifischen Kontextes (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.2 S. 37 f. und E. 6.6.1 S. 47 f.; EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.3.2 S. 203) zu be­urteilen, ob der betroffenen Person angesichts der sich für sie am Zu­fluchtsort kon­kret abzeichnenden Lebenssituation realistischerweise zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen und sich eine neue Existenz aufzubauen.

8.5.3           Es versteht sich dabei von selbst, dass allfällige wirtschaftliche Schwierigkeiten, von welchen die vor Ort ansässige Bevölkerung gene­rell betroffen ist, wie beispielsweise Wohnungsnot oder ein schwieriger Arbeitsmarkt, die für sich allein zu keiner konkreten Gefähr­dung im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG führen (vgl. EMARK 2005 Nr. 24 E. 10.1 S. 215, EMARK 2003 Nr. 24 E. 5e S. 159), die Nieder­lassung und den Aufbau einer neuen Existenz am Zufluchtsort nicht unzumutbar erschwe­ren. Das Bestehen einer innerstaatlichen Schutzalternative ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil die betroffene Person aufgrund der Verhält­nisse am Zufluchtsort Einbussen in der Lebensqualität oder in den per­sönlichen Entfaltungsmöglichkeiten in Kauf nehmen muss. Ande­rerseits kann der in einem Landesteil von Verfolgung betroffenen Person das Bestehen einer innerstaatlichen Schutzalternative jedenfalls dann nicht entgegengehalten werden, wenn ihr die Niederlassung und damit die Inanspruchnahme des Schutzes am Zufluchtsort bereits aus den in Art. 83 Abs. 4 AuG erwähnten Gründen nicht zuzumuten wäre. Ist die Situation am Zufluchtsort durch Krieg, Bürgerkrieg oder durch eine Situation all­gemeiner Gewalt gekennzeichnet, oder ist die betroffene Person am Zufluchtsort aus individuellen Gründen einer konkreten Gefahr ausge­setzt, beispielsweise weil sie die absolut notwendige medi­zinische Ver­sorgung nicht erhalten könnte oder wegen der vor­herr­schenden Ver­hältnisse mit grosser Wahrscheinlichkeit unwieder­bringlich in völlige Armut gestossen würde, dem Hunger und somit einer ernst­haften Ver­schlechterung ihres Gesundheitszustands, der Invalidität oder sogar dem Tod ausgeliefert wäre (vgl. BVGE 2009/52 E. 10.1 S. 756 f., BVGE 2009/51 E. 5.5 S. 748), so besteht dort keine realistische inner­staatliche Alternative zum internationalen Schutz.

8.6                Zusammenfassend ergibt sich, dass im Lichte der Schutztheorie die Annahme einer innerstaatlichen Schutzalternative bedingt, dass am Zufluchtsort eine funktionierende und effiziente Schutzinfrastruktur besteht und der Staat gewillt ist, der in einem anderen Landesteil von Verfolgung betroffenen Person am Zufluchtsort Schutz zu gewähren. Die betroffene Person muss darüber hinaus den Zufluchtsort ohne unzu­mut­bare Gefahren auf legalem Weg erreichen und sich dort legal aufhalten können. Schliesslich muss es ihr individuell zuzumuten sein, den am Zufluchtsort erhältlichen Schutz längerfristig in Anspruch nehmen zu können. Dabei sind die allgemeinen Verhältnisse am Zufluchtsort und die persönlichen Umstände der betroffenen Person zu beachten und es ist unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontextes im Rahmen einer individuellen Einzelfallprüfung zu beurteilen, ob ihr angesichts der sich konkret abzeichnenden Lebenssituation am Zufluchtsort realis­tischerweise zugemutet werden kann, sich dort niederzulassen und sich eine neue Existenz aufzubauen.

8.7                Festzuhalten bleibt, dass an der in EMARK 1996 Nr. 1 unter der damals noch geltenden Zurechenbarkeitstheorie begründeten Recht­spre­chung, wonach die Frage, ob der in einem Landesteil von Verfolgung betroffenen Person die Niederlassung am Zufluchtsort aufgrund un­güns­tiger Lebensbedingungen zuzumuten ist, allein unter dem Aspekt von Art. 83 Abs. 4 AuG zu prüfen ist, in Anbetracht der heute geltenden Praxis, welche auf dem der Schutztheorie zugrunde liegenden Ver­ständ­nis der FK beruht, nicht festzuhalten ist.

 

9.1                Hinsichtlich der Frage, ob dem Beschwerdeführer in den drei nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniya eine die Flücht­lingseigenschaft ausschliessende innerstaatliche Schutzalternative zur Verfügung steht, gilt es zu beachten, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass im Norden - trotz der besseren Sicherheitslage als im Zentral- und Südirak - jedermann Zuflucht finden kann. Aus Furcht vor terroristischen Aktivitäten wird der Zugang von Nicht-Kurden in die Nordprovinzen in Bezug auf Einreise und Niederlassung streng kon­trolliert. Für die drei Provinzen bestehen dabei je unterschiedliche Rege­lungen: Während die Einreise in die Provinz Suleimaniya ohne Res­trik­tionen möglich ist, bedarf es in Erbil einer Gewährsperson. Diese gibt ihre Identität und Adresse an und informiert die kurdischen Behör­den im Rahmen einer Befragung über allfällige sicherheits­relevante Umstände. Die Gewährsperson kann eine natürliche oder juristische Person sein, sollte ihrerseits in der entsprechenden Provinz registriert sein und über einen guten Leumund verfügen. In Dohuk schliesslich wird nur bei alleinstehenden Männern eine Gewährsperson im beschriebenen Sinne verlangt. In allen drei Provinzen - in Dohuk allerdings nur bei allein­ste­henden Männern - braucht es für eine definitive Niederlassung eben­falls grundsätzlich eine Gewährsperson. Die Behörden prüfen im Rah­men der Registrierung allfällige Sicherheitsrisiken, die von der intern vertriebe­nen Person ausgehen, und den Grund der Vertreibung. Personen ohne Gewährsperson wird die Niederlassung in der Regel verweigert. Insbe­sondere in Suleimaniya sind gewisse Berufsgruppen allerdings von dieser Pflicht ausgenommen. In der Praxis wurde sodann auch auf eine Gewährsperson verzichtet, wenn Abklärungen ergaben, dass die intern vertriebene Person kein Sicherheitsrisiko darstellt und an ihrem Her­kunftsort gefährdet war (vgl. BVGE 2008/4 E. 6.6.1 S. 47 f.).

9.2                Die Beschwerdeführenden sind arabischer Ethnie und haben - soweit den Akten zu entnehmen ist - im Nordirak weder ein verwandt­schaftliches noch ein anderweitiges Beziehungsnetz. Unter dem Aspekt der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG ist gemäss Rechtsprechung eine erfolgreiche Ansiedlung in den nord­irakischen Provinzen Dohuk, Suleimaniya und Erbil insbesondere für Nichtkurden und für Familien mit Kindern, die dort über kein beste­hendes soziales Netz verfügen, nicht möglich (vgl. BVGE 2008/5 E. 7.5 und insbes. E. 7.5.8 S. 65 ff.). Selbst wenn die Beschwerdeführenden - was fraglich ist - eine Einreise- beziehungsweise Niederlassungs­bewil­ligung für den Nordirak erhalten könnten, muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Situation im Nordirak nicht in der Lage wäre, dort für sich und seine Familie aus eigener Kraft eine Existenzgrundlage aufzubauen. Der Zustrom von irakischen Arabern in den Nordirak löst bei der dort an­säs­sigen kurdischen Bevölkerung gemischte Gefühle aus und nährt die alten kurdisch-arabischen Spannungen. Araber werden zum Teil als mögliche Agenten der irakischen aufständischen Gruppen oder als ehe­malige Baathisten betrachtet, womit für sie ein zusätzliches Gefähr­dungsrisiko besteht (vgl. BVGE 2008/4 E. 6.6.1 S. 47 f.). Es wäre mithin absehbar, dass der Beschwerdeführer sich faktisch gezwungen sähe, über kurz oder lang in den Zentralirak beziehungsweise nach Bagdad zurück­zukehren, wo er vor der ihm drohenden Verfolgung keinen hinreichenden Schutz finden kann. Unter diesen Umständen kann das Bestehen einer inner­staatlichen Schutzalternative für den Beschwerdeführer im Nordirak nicht bejaht werden.

10.                Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in Bezug auf den Be­schwerdeführer sämtliche Kriterien der in Art. 3 AsylG enthaltenen Defi­nition als erfüllt zu betrachten und dieser demzufolge als Flüchtling an­zuerkennen ist. Dementsprechend ist ihm mangels Anzeichen für das Vorliegen eines Ausschlussgrundes (Art. 53 AsylG) in der Schweiz Asyl zu gewähren (vgl. Art. 49 AsylG).

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