Auszug aus dem Urteil der Abteilung V i. S. A. und Familie gegen Bundesamt für Migration
E-4115/2006
vom 18. September 2009
Aus den Erwägungen:
4.2.3 Was die erst im Beschwerdeverfahren geltend gemachte Vergewaltigung der Beschwerdeführerin
im Jahre 1999 betrifft, kann der Auffassung der Vorinstanz, dass es sich dabei aufgrund der vorangegangenen
Prozessgeschichte und des Zeitpunktes der Geltendmachung klarerweise um einen unglaubhaften Nachschub
handle, nicht beigepflichtet werden. Die frühere ARK hatte sich in einem publizierten Entscheid
EMARK 2003 Nr. 17 E.
4ac) einlässlich mit den Ursachen für verspätete Vergewaltigungsvorbringen (bspw. Schuld-
und Schamgefühle, Selbstschutzmechanismen) auseinandergesetzt, welche sich mit den von der Beschwerdeführerin
plausibel geltend gemachten Gründen weitgehend decken. Im Beschwerdeverfahren wurde in diversen
ärztlichen Berichten überzeugend dargelegt, dass die Beschwerdeführerin erst nach Monaten
vertrauensbildender Therapie in der Lage war, über die im Jahre 1999 erlittene Vergewaltigung zu
berichten, und dass sie weitere Wochen benötigte, um das Vorgefallene nach all den Jahren auch ihrem
Ehemann anzuvertrauen. Aus den eingereichten schriftlichen Aufzeichnungen der einzelnen Therapiesitzungen
der Psychiatrischen Dienste des Spitals O. geht der Prozess des Outings gegenüber der ärztlichen
Vertrauensperson einerseits und des Ehemannes andererseits (mittels Schilderung der Emotionen des Ehepaares)
eindrücklich hervor (...). Im Gegensatz zur Einschätzung der Vorinstanz spricht für das
BVGer auch der Zeitpunkt des Geltendmachens der Vergewaltigung gegenüber den Asylbehörden,
nämlich das zögerliche Zuwarten weiterer fünf Monate nach der erstmaligen Thematisierung
gegenüber dem Vertrauensarzt, nicht gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens, sondern stellt, als
Ausfluss eines gemeinhin langwierigen Bewältigungsprozesses, eher ein Indiz für die Glaubhaftigkeit
dar.
Als (...) Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass das BVGer die geltend gemachte Vergewaltigung
durch Armeeangehörige im Jahre 1999 als glaubhaft erachtet.
4.2.4 Für das BVGer steht weiter der Verfolgungscharakter der geltend gemachten Vergewaltigung
durch Armeeangehörige im April 1999 ausser Frage. F. war zwischen März und Juni 1999 Ziel von
NATO-Bombardierungen und somit mitten im Kriegszustand. Vergewaltigungen waren auch dort, wie früher
bereits in erschreckendem Ausmass im Bosnienkrieg, ein gängiges Mittel der Kriegsführung. Die
seitens der vergewaltigenden Armeeangehörigen gemachten Bemerkungen, (...), lassen denn auch klar
den nationalistischen Hintergrund der Tat erkennen (zum Verfolgungscharakter von Vergewaltigungen siehe
auch EMARK 1996 Nr. 16
E. 4c).
4.2.5 Im weiteren stellt sich die Frage der flüchtlingsrechtlichen Relevanz der zweifellos
als Vorverfolgung zu wertenden Vergewaltigung im Jahre 1999 in Anbetracht des Umstandes, dass die Ausreise
der Beschwerdeführerin erst rund zweieinhalb Jahre nach diesem Vorfall erfolgt ist. Zu prüfen
ist, ob die Verfolgungssituation im Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin noch aktuell gewesen
ist bzw. ob ein zeitlicher und sachlicher Kausalzusammenhang zwischen der erlebten Vorverfolgung und
der Ausreise noch bejaht werden kann.
Eine längere Zeitspanne zwischen erlebter Verfolgung
und der erst später erfolgenden Ausreise aus dem Heimatland kann zum Einen im Hinblick auf die Prüfung
der Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Ausreisegründe relevant sein (vgl. EMARK
1996 Nr. 25). Im Falle der Beschwerdeführerin steht dieser Aspekt nach Ansicht des Gerichts
nicht im Vordergrund; sie vermag vielmehr in diesem Zusammenhang plausible Gründe darzulegen, dass
ihr eine frühere Ausreise aus dem Heimatland schon deswegen nicht möglich gewesen sei, da ein
solcher Entschluss mit dem Ehemann, dem sie die Verfolgungserlebnisse nicht offenbaren konnte, besprochen
werden musste; in nachvollziehbarer Weise macht die Beschwerdeführerin hierzu geltend, angesichts
ihrer kulturellen Herkunft und dem selbst auferlegten Schweigen habe sie eine unmittelbare Ausreise der
gesamten Familie nach der Vergewaltigung im Jahre 1999 nicht zu veranlassen vermocht, sondern sei vom
Ausreiseentschluss ihres Ehemannes abhängig gewesen. Das BVGer erachtet diese Stellungnahme nicht
zuletzt auch angesichts der vorliegenden Arztzeugnisse betreffend die Bewältigung der Vergewaltigung
als plausible Erklärung für die erst Jahre später erfolgte Ausreise.
Der Umstand,
dass zwischen der erlebten Verfolgung und der Ausreise aus dem Heimatland eine längere Zeitspanne
vergangen ist, ist indessen zum Andern relevant bei der Prüfung der Frage, ob für den Zeitpunkt
der Ausreise noch eine begründete Verfolgungsfurcht bejaht werden kann. Gemäss Art. 3 des Asylgesetzes
vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31) erfüllt die Flüchtlingseigenschaft, wer aufgrund einer
asylrelevanten Motivation gezielte ernsthafte Nachteile erlitten hat oder begründete Furcht hat,
solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden; sofern die erlittene Vorverfolgung in zeitlichem und sachlichem
Kausalzusammenhang zur Flucht steht, lässt sich dem Asylgesetz ohne dass der Aspekt einer drohenden
Wiederholung der erlittenen Verfolgung noch weiter zu prüfen wäre die Regelvermutung entnehmen,
aufgrund der erlittenen Vorverfolgung sei auch eine begründete Furcht vor weiterer, zukünftiger
Verfolgung zu bejahen (vgl. WALTER KÄLIN, Grundriss des Asylverfahrens, Basel und Frankfurt am Main
1990, S. 126 ff.; ALBERTO ACHERMANN/CHRISTINA HAUSAMMANN, Handbuch des Asylrechts, 2. Aufl., Bern/Stuttgart
1991, S. 107 f.; SAMUEL WERENFELS, Der Begriff des Flüchtlings im schweizerischen Asylrecht, Bern
u. a. 1987, S. 283, 293 ff.). Ein fehlender zeitlicher Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und Ausreise
zerstört (nur) die Regelvermutung zugunsten des Vorliegens begründeter Furcht vor Verfolgung;
dies schliesst nicht aus, dass im konkreten Einzelfall die früher erlittene Verfolgung einen der
guten Gründe für die heutige Verfolgungsfurcht darstellen kann. Die begründete Furcht
vor Verfolgung ist dann freilich nicht aufgrund einer Regelvermutung aus der erlittenen Vorverfolgung
abzuleiten, sondern ihr Bestehen im Zeitpunkt der Ausreise ist von der asylsuchenden Person darzutun
und von der Behörde gesondert zu prüfen. Ausschlaggebend kann dabei nicht allein sein, wie
die betreffende asylsuchende Person in subjektiver Hinsicht durch die ehemals erlittene Verfolgung weiterhin
betroffen war; entscheidrelevant ist, ob im Zeitpunkt der Ausreise auch in objektiver Hinsicht eine Wiederholungsgefahr
der früher erlittenen Verfolgung noch bestanden hat und ein Schutzbedürfnis demnach auch im
Zeitpunkt der Ausreise weiterhin noch bestand (vgl. EMARK
2000 Nr. 2 E. 8.b und c S. 20 ff. mit zahlreichen weiteren Hinweisen; zu den objektiven wie subjektiven
Aspekten der Verfolgungsfurcht vgl. EMARK
1998 Nr. 4 E. 5.d S. 27). Eine starre zeitliche Grenze, wann der Kausalzusammenhang als unterbrochen
zu gelten hat, lässt sich nicht festlegen; zu würdigen sind jeweils bei der Beurteilung auch
allfällige plausible objektive und subjektive Gründe, die eine frühere Ausreise verhindert
haben (vgl. EMARK 2000 Nr.
17 S. 157 f. mit weiteren Hinweisen). Immerhin kann festgehalten werden, dass in der asylrechtlichen
Literatur und Praxis eine Zeitspanne von sechs bis zwölf Monaten genannt wird, nach deren Ablauf
der zeitliche Kausalzusammenhang in der Regel als zerrissen gelten müsste (vgl. WERENFELS, a. a.
O., S. 295; KÄLIN, a. a. O., S. 128; ACHERMANN/HAUSAMMANN, a. a. O., S. 107; MARIO GATTIKER, Das
Asyl- und Wegweisungsverfahren, 3. Aufl., Bern 1999, S. 76; EMARK
1998 Nr. 20 E. 7 S. 179 f., EMARK
2000 Nr. 17 E. 11.a S. 157 f.); bei einer Zeitspanne von mehr als zwei Jahren wird jedenfalls in
der Praxis ein Kausalzusammenhang nicht mehr bejaht (vgl. EMARK
1999 Nr. 7 E. 4.b S. 46).
Wie bereits festgehalten wurde, vermag die Beschwerdeführerin
zwar nachvollziehbare subjektive Gründe dafür anzuführen, weshalb sie eine frühere
Ausreise nicht habe bewerkstelligen können und das Heimatland erst zweieinhalb Jahre nach der erlebten
Verfolgung verlassen hat. Angesichts der langen Zeitspanne vermag dies jedoch für sich allein nicht
zu genügen, um für den Zeitpunkt der Ausreise noch vom Bestehen einer begründeten Furcht
vor einer Wiederholung der erlebten Verfolgung und vor weiterer Verfolgung auszugehen. Dass nämlich
auch in objektiver Hinsicht zum Zeitpunkt der Ausreise weiterhin gute Gründe für die Annahme
bestanden hätten, die Gefährdung habe damals weiterhin angedauert und auch aus objektiver Sicht
sei die Furcht vor weiterer Verfolgung weiterhin begründet gewesen, muss verneint werden. Die Beschwerdeführerin
lebte nach der Vergewaltigung im März/April 1999 weiterhin bis im September 2001, also fast weitere
zweieinhalb Jahre, in F., am Ort des Geschehens; sie hat nicht geltend gemacht, in dieser Zeit je ein
weiteres Mal vergleichbare oder auch weniger intensive Nachteile erlitten zu haben. Dies steht denn auch
in Einklang mit der Tatsache, dass die NATO im Sommer 1999 den kriegerischen Auseinandersetzungen ein
Ende setzte. Auch auf Beschwerdeebene wurde nicht geltend gemacht, die Beschwerdeführerin sei im
Zeitpunkt der Ausreise noch einer aktuellen Gefahr der Wiederholung eines solchen Vorfalles ausgesetzt
gewesen. Zwar wird auch seitens des BVGer nicht bestritten, dass die albanisch sprechende Beschwerdeführerin
damals wie heute in Serbien aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterschiedlichsten Schikanen
und Diskriminierungen ausgesetzt war und ist (vgl. dazu die nachstehenden Erwägungen zur Zumutbarkeit
des Wegweisungsvollzugs). Hinsichtlich dieser die albanischsprachigen Ashkali in Serbien betreffenden
Nachteile hat jedoch bereits die ARK in EMARK
2001 Nr. 13 festgehalten, dass diese zwar im Vergleich zu den übrigen Roma verstärkt Schikanen
ausgesetzt seien, die Behelligungen jedoch die Intensität, welche für die Bejahung des die
Flüchtlingseigenschaft begründenden, unerträglichen psychischen Druckes vorausgesetzt
wird, grundsätzlich nicht erreichten (vgl. EMARK
2001 Nr. 13 E. 4b.aa S. 103 f.). Dem BVGer liegen keine zwischenzeitlich ergangenen Berichterstattungen
über eine entscheidende Veränderung der Intensität und Qualität der von den Minderheiten
in Serbien gemeinhin zu erduldenden Feindseligkeiten vor, welche heute zu einer anderen Einschätzung
dieser Frage führen müssten.
4.2.6 Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass für den Zeitpunkt der Ausreise der
Beschwerdeführerin das Bestehen einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 3
AsylG zu verneinen ist.
4.2.7 Soweit auf Beschwerdeebene weiter geltend gemacht wird, aufgrund der Vergewaltigung
lägen zwingende Gründe vor, welche zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen
müssten, ist auf die Ausführungen in EMARK
1999 Nr. 7 zu verweisen, wonach sich auf sogenannte « raisons impérieuses » nur berufen
kann, wer im Zeitpunkt der Einreise in die Schweiz sämtliche Voraussetzungen für die Anerkennung
der Flüchtlingseigenschaft erfüllt hatte. Dies ist, wie aus den vorstehenden Erwägungen
hervorgeht, nicht der Fall, weshalb sich weitere Ausführungen zu diesem Thema und zur Relevanz einer
Langzeittraumatisierung erübrigen.
4.2.8 Abschliessend ist zu erwähnen, dass auch die zwischenzeitliche Anerkennung der
nichtstaatlichen Verfolgung im schutzunfähigen Staat durch die Asylbehörden (vgl. EMARK
2006 Nr. 18) zu keinem anderen Ergebnis hinsichtlich der Frage der begründeten Furcht vor weiterer
Verfolgung der Beschwerdeführerin auf serbischem Staatsgebiet zu führen vermag.
4.2.9 Somit ist die angefochtene Verfügung vom 30. März 2005 insoweit zu bestätigen,
als die Vorinstanz gestützt auf Art. 7 und Art. 3 AsylG das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft
der Beschwerdeführenden verneint und deren Asylgesuche abgelehnt hat. Hinsichtlich der auf Beschwerdeebene
neu vorgebrachten Vorverfolgung ist sodann das Bestehen einer begründeten Furcht vor weiterer Verfolgung
für den Zeitpunkt der Ausreise und somit die Asylrelevanz zu verneinen. Die Beschwerde ist folglich
im Asylpunkt abzuweisen.
5.
5.1 Lehnt das BFM das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in
der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; dabei ist der Grundsatz der Einheit
der Familie zu berücksichtigen (Art. 44 Abs. 1 AsylG).
Nachdem die Ablehnung des Asylgesuches
zu bestätigen ist und die Beschwerdeführenden - abgesehen vom bisherigen Asylbewerberstatus
- keinen ausländerrechtlichen Aufenthaltstitel besitzen oder beanspruchen können, ist auch
die Anordnung der Wegweisung rechtmässig erfolgt.
Im Folgenden bleibt zu prüfen, ob auch
der Wegweisungsvollzug zu bestätigen ist.
5.2 Ist der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar,
so regelt das BFM das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige
Aufnahme von Ausländern (Art. 44 Abs. 2 AsylG, Art. 83 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember
2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG, SR 142.20]).
5.3 Der Vollzug ist nicht möglich, wenn der Ausländer weder in den Herkunfts- oder
in den Heimatstaat noch in einen Drittstaat verbracht werden kann. Er ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche
Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise des Ausländers in seinen Heimat-, Herkunfts- oder
einen Drittstaat entgegenstehen. Der Vollzug kann insbesondere nicht zumutbar sein, wenn er für
den Ausländer eine konkrete Gefährdung darstellt (Art. 83 Abs. 24 AuG).
5.4 Die erwähnten drei Bedingungen für einen Verzicht auf den Vollzug der Wiedererwägung
(Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit, Unmöglichkeit) sind alternativer Natur: Sobald eine von ihnen
erfüllt ist, ist der Vollzug der Wegweisung als undurchführbar zu betrachten und die weitere
Anwesenheit in der Schweiz gemäss den Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme zu regeln
(vgl. EMARK 2006 Nr. 6
E. 4.2. S. 54 f., wobei zu berücksichtigen ist, dass die Bestimmung über die vorläufige
Aufnahme zufolge einer schwerwiegenden persönlichen Notlage im Sinne von Art. 44 Abs. 3 AsylG per
1. Januar 2007 aufgehoben worden ist). Gegen eine allfällige Aufhebung der vorläufigen Aufnahme
steht der (ab- und weggewiesenen) Asyl suchenden Person wiederum die Beschwerde an das BVGer offen (vgl.
Art. 105 AsylG i. V. m. Art. 44 Abs. 2 AsylG), wobei in jenem Verfahren sämtliche Vollzugshindernisse
von Amtes wegen und nach Massgabe der dannzumal herrschenden Verhältnisse von Neuem zu prüfen
sind (vgl. EMARK 2006 Nr.
6 E. 4.2. S. 54 f., EMARK
1997 Nr. 27 S. 205 ff.).
5.5 Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG ist der Vollzug der Wegweisung nicht
zumutbar, wenn die beschwerdeführende Person bei einer Rückkehr in ihren Heimatstaat einer
konkreten Gefährdung ausgesetzt wäre. Diese Bestimmung wird vor allem bei Gewaltflüchtlingen
angewendet, das heisst bei Ausländerinnen und Ausländern, die mangels persönlicher Verfolgung
weder die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft noch jene des völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips
erfüllen, jedoch wegen der Folgen von Krieg, Bürgerkrieg oder einer Situation allgemeiner Gewalt
nicht in ihren Heimatstaat zurückkehren können. Im Weiteren findet sie Anwendung auf andere
Personen, die nach ihrer Rückkehr ebenfalls einer konkreten Gefahr ausgesetzt wären, weil sie
die absolut notwendige medizinische Versorgung nicht erhalten könnten oder aus objektiver Sicht
wegen der vorherrschenden Verhältnisse mit grosser Wahrscheinlichkeit unwiederbringlich in völlige
Armut gestossen würden, dem Hunger und somit einer ernsthaften Verschlechterung ihres Gesundheitszustands,
der Invalidität oder sogar dem Tod ausgeliefert wären EMARK
2005 Nr. 12 E. 10.3 S. 114, EMARK
2005 Nr. 24 E. 10.1 S. 215, jeweils mit weiteren Hinweisen).
5.6 Sind von einem allfälligen Wegweisungsvollzug Kinder betroffen, so bildet im Rahmen
der Zumutbarkeitsprüfung das Kindeswohl einen Gesichtspunkt von gewichtiger Bedeutung. Dies ergibt
sich nicht zuletzt aus einer völkerrechtskonformen Auslegung des Art. 83 Abs. 4 AuG im Licht von
Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107).
Unter dem Aspekt des Kindeswohls sind demnach sämtliche Umstände einzubeziehen und zu würdigen,
die im Hinblick auf eine Wegweisung wesentlich erscheinen. In Bezug auf das Kindeswohl können namentlich
folgende Kriterien im Rahmen einer gesamtheitlichen Beurteilung von Bedeutung sein: Alter des Kindes,
Reife, Abhängigkeiten, Art (Nähe, Intensität, Tragfähigkeit) seiner Beziehungen,
Eigenschaften seiner Bezugspersonen (insbes. Unterstützungsbereitschaft und -fähigkeit), Stand
und Prognose bezüglich Entwicklung/Ausbildung, Grad der erfolgten Integration bei einem längeren
Aufenthalt in der Schweiz. Gerade letzterer Aspekt, die Dauer des Aufenthaltes in der Schweiz, ist im
Hinblick auf die Prüfung der Chancen und Hindernisse einer Reintegration im Heimatland bei einem
Kind als gewichtiger Faktor zu werten, da Kinder nicht ohne guten Grund aus einem einmal vertrauten Umfeld
herausgerissen werden sollten. Dabei ist aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht nur das unmittelbare
persönliche Umfeld des Kindes (d. h. dessen Kernfamilie) zu berücksichtigen, sondern auch dessen
übrige soziale Einbettung. Die Verwurzelung in der Schweiz kann eine reziproke Wirkung auf die Frage
der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs haben, indem eine starke Assimilierung in der Schweiz mithin
eine Entwurzelung im Heimatstaat zur Folge haben kann, welche unter Umständen die Rückkehr
dorthin als unzumutbar erscheinen lässt (vgl. die vom BVGer übernommene Praxis der ARK: EMARK
2005 Nr. 6 E. 6. S. 55 ff., EMARK
2006 Nr. 24 E. 6.2.3. S. 259; BVGE
2009/28).
5.7 Nachfolgend ist eine Gesamtbetrachtung der Lage vorzunehmen, wie sie sich der Familie
bei einer Rückkehr nach Serbien präsentieren würde.
Zur Lage der Ashkali hat sich
das Gericht namentlich auf folgende Quellen gestützt: UNHCR: Zur Situation von binnenvertriebenen
Minderheiten (Roma, Ashkali und Ägypter) aus dem Kosovo in Serbien und Montenegro, September 2004;
Open Society Institute/EU Monitoring and Advocacy Program (EUMAP): Equal acces to quality education for
Roma, Serbia, 2007; U.S. Department of State: 2008 Country Reports on Human Rights Practices - Serbia,
25. Februar 2009; Human Rights Watch: World Report 2009 - Serbia, 14. Januar 2009; Council of Europe/Commissioner
for Human Rights: Report by the Commissioner for Human Rights Thomas Hammarberg on his visit to Serbia
13th 17th October 2008, 11. März 2009; Konrad-Adenauer-Stiftung: Interethnische
Beziehungen in Südosteuropa, 27. April 2009; Amnesty International: Serbia - Amnesty International
Report 2008, Mai 2008; European Commission against Racism and Intolerance (ECRI): Report on Serbia, 29.
April 2008; Freedom House: Freedom in the World - Serbia (2008), 2. Juli 2008; European Commission: Social
Protection and social inclusion in the Republic of Serbia, Mai 2008; Human Rights Watch: Country Summary:
Serbia, Januar 2009).
5.7.1 Vorab ist klärend zu bemerken, dass das BVGer die Zugehörigkeit
beider Eheleute zur Volksgruppe der Ashkali nicht bezweifelt. Die bisher für die Zweifel ins Feld
geführten Argumente (serbische Muttersprache des Beschwerdeführers, fehlende Kenntnis über
die Volksgruppe, Zentralserbien als untypisches Siedlungsgebiet) sind weitgehend unzutreffend. Gerade
was die Sprache betrifft, ist festzustellen, dass die Ashkali nicht über eine gemeinsame Sprache
wie die Roma verfügen, sondern die Sprache des jeweiligen Landes angenommen haben, in welchem sie
wohnen. In Serbien sozialisierte Ashkali sprechen demnach wie der Beschwerdeführer serbisch (gemäss
Erhebungen im Jahre 2002 gaben 24 % der in Serbien wohnhaften Ashkali an, serbischer Muttersprache zu
sein), während im Kosovo sozialisierte Ashkali, wie die Beschwerdeführerin, naheliegenderweise
Albanisch als Muttersprache bezeichnen. Aufgrund der unterschiedlichen, nachfolgend kurz umrissenen mythischen
Erklärungen zur Herkunft der Ashkali erstaunt sodann nicht weiter, dass viele Ashkali nicht in der
Lage sind, ihre Abstammung genau zu erklären. Nachdem bis anhin die Volkszugehörigkeit der
Beschwerdeführerin zu den Ashkali nicht bestritten wurde, hätte bei der Beurteilung der Ethnie
des Ehemannes auch die Tatsache Berücksichtigung finden müssen, dass Eheschliessungen bei den
Ashkali grundsätzlich endogam, also innerhalb der gleichen Ethnie stattfinden.
5.7.2 Eine Vielzahl der sich zur Lage der Minderheiten äussernden Quellen differenziert
nicht zwischen Roma, Ashkali und Ägyptern. Viele Ashkali wollen sich aber als eine eigene Volksgruppe
verstanden wissen. Manche erklären ihre Andersartigkeit gegenüber den Roma damit, Nachkommen
von Zuwanderern aus der Türkei während der osmanischen Herrschaft zu sein, andere (sog. Ägypter)
behaupten, im Gefolge des Feldzuges Alexanders des Grossen nach Indien von Ägypten aus auf den Balkan
gelangt zu sein. Dieser unbewiesene politische Mythos erhebt den Anspruch, Ägypter beziehungsweise
Ashkali seien vor den Albanern die ersten Bewohner des Balkans gewesen und seien demnach im Besitz älterer
und höherrangiger Rechte. Kulturelle Gemeinsamkeiten deuten darauf hin, dass es sich bei den Ashkali
bzw. Ägyptern um assimilierte Roma handeln dürfte, obwohl Romanes für sie eine Fremdsprache
darstellt, die die Mehrheit nicht versteht. Die Vorstellung einer eigenständigen Ethnizität
abseits der Roma hat sich erst in der Phase einer allgemeinen Ethnisierung der Politik auf dem Balkan
um die 1990-er Jahre ausgebildet. In welchem Umfang sie innerhalb der Minderheit tatsächlich vertreten
wird, ist nicht klar, gibt es doch auch viele Ashkali, die sich als albanische Roma bezeichnen. Von den
Kosovo-Albanern werden sie zusammen mit den im Kosovo ansässigen Roma als eine Gruppe (unter dem
Oberbegriff « Zigeuner ») beziehungsweise zuweilen als « Albaner zweiter Klasse »
bezeichnet. Die Roma selbst betrachten sie als eine Teilgruppe, die ihre Sprache und Kultur im Laufe
der letzten Generationen verloren hat. Bei den Volkszählungen des früheren Jugoslawiens erklärten
sich die Ashkali noch mehrheitlich als Albaner. Mit Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Albanern
und Serben kam es zu einer Spaltung unter den Ashkali. Während die Ashkali vor Ausbruch des Krieges
im Kosovo noch als albanischfreundlich galten und wie die Albaner den Repressionen der serbischen Regierung
ausgesetzt waren, wurde während des Krieges aus der albanischen Bevölkerung heraus der Vorwurf
erhoben, die Ashkali hätten mit den Serben gemeinsame Sache gemacht, was zu Pogromen im Kosovo und
zur Massenflucht dieser Ethnie führte. Serbien und Montenegro zählte gemäss Erhebungen
des UNHCR noch im Jahre 2005 mehr als 22'000 vertriebene Roma, Ashkali und Ägypter.
Diese Ethnien
leben dort in einem Umfeld, das von Feindseligkeiten, extrem hoher Arbeitslosigkeit (ca. 60 %) und dem
allgemeinen Zusammenbruch der Sicherungssysteme geprägt ist. Es ist ihnen in der grossen Mehrzahl
nicht möglich, sich in Serbien sozial zu integrieren und dort zumindest unter einigermassen würdevollen
Bedingungen zu leben. Die Hälfte von ihnen lebt unter der Armutsgrenze, hat Unterschlupf in improvisierten,
informellen Siedlungen, wo sie unter sehr harten Bedingungen ohne Elektrizität, fliessendes Wasser
oder Abwassersystem leben. Gemäss UNHCR existierten in Serbien und Montenegro im Jahre 2004 586
solche inoffizielle Siedlungen der Roma, Ashkali und Ägypter. Diese Ethnien waren in der Vergangenheit
auch immer wieder Opfer von Zwangsräumungen nach Privatisierungsprozessen, was regelmässig
Obdachlosigkeit, Schulabbruch und sofern vorhanden den Verlust der Arbeitsstelle zur Folge hatte.
Neben
den Problemen, die mit der Erlangung eines gesicherten rechtlichen Status verbunden sind, sehen sich
die Roma, Ashkali und Ägypter generell einem Klima der behördlichen Diskriminierung einerseits
und der Feindseligkeiten und Angriffe eines Teils der Gesellschaft anderer seits ausgesetzt. So werden
sie regelmässig Opfer physischer und verbaler Gewalt und von Sachbeschädigung. Der Zugang zur
Gesundheitsfürsorge und anderen sozialen Diensten ist wesentlich erschwert. Zahlreiche Quellen berichten
auch von aktiver polizeilicher Gewalt oder von deren Passivität und mangelndem Schutzwillen.
Von
Interesse ist vorliegend auch die schulische Situation der Roma-Minderheiten in Serbien. Allgemein zugänglichen
Quellen zufolge besuchen nur gerade 40 % der Kinder der erwähnten Minderheiten die Primarschule,
wobei gemäss offiziellen Erhebungen wiederum nur zirka 40 % einen Primarschulabschluss erreichen.
Oft werden für die Minderheiten separate Klassen geführt oder sie werden in Klassen für
intellektuell Schwächere integriert. Allgemein kann gesagt werden, dass den Roma trotz Inangriffnahme
diverser Projekte zur Behebung der Missstände im Schulwesen nach wie vor systematisch eine minderwertigere
Schulbildung angeboten wird, selbst dann, wenn diese mit Nicht-Roma im gleichen Zimmer unterrichtet werden.
Die Vorurteile der Lehrerschaft, welche, wie die serbischen Schüler und deren Elternschaft auch,
nicht mit Diskriminierung und Ausgrenzung zurückhält, spielen dabei eine nicht unwesentliche
Rolle. Die Ashkali in Serbien betreffend sind folgende Zahlen bekannt: 16 % hätten gar keine Schulbildung,
75 % der über 15-Jährigen seien auf Primarschulstufe stehen geblieben, knapp 20 % hätten
einen Sekundarschulabschluss und bloss 4 % hätten höhere Diplome erlangt.
5.8 Vor diesem Hintergrund gilt es den Wegweisungsvollzug der Familie im Allgemeinen und insbesondere
denjenigen der gesundheitlich schwer angeschlagenen Ehefrau sowie denjenigen der drei (...) Kinder näher
zu betrachten.
5.8.1 Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise aus F. (im Jahre 2001) als selbständiger
(Händler) tätig und besass gar einen eigenen Laden. Das beschwerdeführende Paar gehörte
somit nicht zu jener weit verbreiteten Schicht, welche sich im Bereich der Armutsgrenze bewegt. Das BVGer
erachtet es jedoch aufgrund des Zeitablaufs und der Zuwanderung der letzten Jahre von mehr als 200'000
Vertriebenen aus dem Kosovo als äusserst zweifelhaft, dass die Beschwerdeführenden auch nur
einigermassen an den früheren Lebensstandard anknüpfen könnten, zumal ihr früheres
familiäres Beziehungsnetz ebenfalls nach Westeuropa emigriert ist und mit der Beschlagnahmung eines
früheren Privatbesitzes zu rechnen wäre. Es kann auch ohne nähere Abklärungen nicht
wie im angefochtenen Entscheid erwähnt wird davon ausgegangen werden, dass die Roma-Gemeinde in
F. die Beschwerdeführenden bei der Wiedereingliederung massgeblich zu unterstützen vermöchte,
zumal es sich bei dieser Gemeinde (zu welcher dem Gericht keine genauen Daten vorliegen) mehrheitlich
nicht um Ashkali handeln dürfte (das Verhältnis zwischen Roma und Ashkali in Serbien liegt
etwa bei 10 zu 1). Als weitere Erschwernis für eine existenzsichernde Zukunft kommt vorliegend die
schwere psychische Erkrankung der Beschwerdeführerin und ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit dazu.
Gemäss diverser übereinstimmender Arztberichte leidet die Beschwerdeführerin, die in der
Schweiz bereits seit fünf Jahren in engmaschiger psychiatrischer Behandlung steht, insbesondere
an einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche sich ganz massiv auf das tägliche Leben
auswirkt. Gemäss dem Bericht des Q. (Psychiatrie) vom 22. Juni 2007 (...) ist die Beschwerdeführerin
nicht durchgehend in der Lage, für sich und die Kinder zu sorgen, sondern ist immer wieder für
die Bewältigung alltäglicher Anforderungen auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen.
Aus dem jüngsten dem BVGer vorliegenden Arztzeugnis, demjenigen des T. (Sozialpsychiatrie) vom 8.
Juli 2009 (...), geht hervor, dass bisher nur eine bescheidene Reduktion der Symptomatik habe beobachtet
werden können und eine als sicher erlebte Lebenssituation Voraussetzung wäre, um die Beschwerdeführerin
wirkungsvoll behandeln zu können. Die anhaltend schlechte Gesundheitssituation der Beschwerdeführerin
und deren Hilfsbedürftigkeit würde die für den Beschwerdeführer als Ashkali in Serbien
zu erwartenden, ohnehin geringen Erwerbsmöglichkeiten zusätzlich einschränken.
5.8.2 Was die Situation der Kinder betrifft, ist zu erwägen, dass diese quasi ihre gesamte
Sozialisation in der Schweiz erlebt haben und zu ihrem Herkunftsstaat keine persönliche Beziehung
aufbauen konnten. Sie würden aus einer Lebens- und insbesondere Schulstruktur herausgerissen, welche
sich grundlegend von derjenigen, wie sie in Serbien für Roma-Minderheiten geboten wird, unterscheidet
und welche während der letzten Jahre ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihren Alltag geprägt
hat. Auch ist zu bezweifeln, dass sie über die für eine erfolgreiche Wiedereingliederung und
die Fortsetzung der Schule notwendigen, schriftlichen Serbisch-Kenntnisse verfügen. Da sie mit einem
kurzem Unterbruch von wenigen Monaten seit 2001 in der Deutschschweiz leben und hier von Anfang an die
Schule besucht haben, dürften sie weitestgehend an die hiesige Kultur und Lebensweise assimiliert
sein, was nicht zuletzt die vielen Vereinsaktivitäten der Kinder (aber auch der Eltern; ...) widerspiegeln.
Vor diesem Hintergrund erscheint ein Wegweisungsvollzug auch unter dem Aspekt des Kindeswohls nicht geboten.
5.8.3 Aufgrund der sich für Ashkali in Serbien generell präsentierenden Lage, der
dargestellten persönlichen Voraussetzungen des beschwerdeführenden Ehepaares, der medizinischen
Behandlungsnotwendigkeit der Beschwerdeführerin und insbesondere aufgrund der Gefährdung des
Wohles der teilweise bereits adoleszenten Kinder kann zusammenfassend nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
angenommen werden, dass der fünfköpfigen Familie nach achtjähriger Landesabwesenheit eine
erfolgreiche Reintegration in Serbien gelingen würde. In einer Gesamtwürdigung der Umstände
gelangt das BVGer deshalb zum Schluss, dass sich der Vollzug der Wegweisung der Beschwerdeführenden
und ihrer Kinder nach Serbien als nicht zumutbar im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG erweist und diese folglich
in der Schweiz vorläufig aufzunehmen sind.
5.8.4 Aus den Akten gehen für den Sohn C. die Widerhandlung im Strassenverkehrsrecht
(...) und für den Beschwerdeführer die beiden Verurteilungen zu bedingten Gefängnisstrafen
von 30 Tagen beziehungsweise fünf Wochen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Bundesgesetz über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG, BS 1 121) ([...], Erleichterung
der rechtswidrigen Einreise ins Land und des rechtswidrigen Verweilens; rechtswidrige Einreise ohne Ausweis
und Visum) hervor. Diese Verurteilungen sind klarerweise nicht derart schwerwiegend, als dass ein Ausschluss
von der vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 83 Abs. 7 Bst. a oder b AuG in Betracht gezogen werden
müsste.