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Abteilung V

E-5022/2017

 

 

 

 

 

Urteil vom 10. Juli 2018

Besetzung

 

Richter David R. Wenger (Vorsitz),

Richter Simon Thurnheer, Richterin Esther Marti,

Richter Jean-Pierre Monnet, Richter Walter Lang;  

Gerichtsschreiber Arthur Brunner.

 

 

 

Parteien

 

A._______, geboren am (...),

Eritrea, 

vertreten durch lic. iur. Kathrin Stutz,
Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende (ZBA),

Beschwerdeführer,

 

 

 

gegen

 

 

Staatssekretariat für Migration (SEM),

Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

 

 

 

Gegenstand

 

Vollzug der Wegweisung;
Verfügung des SEM vom 7. August 2017 / N (...).

 

 

 


Sachverhalt:

A.   

A.a  Der Beschwerdeführer ist eritreischer Staatsangehöriger tigrinischer Ethnie und hatte seinen letzten Wohnsitz in B._______ (Zoba C._______, Subzoba Adi Quala). Über Äthiopien, Sudan, Libyen und Italien gelangte er am 29. Juli 2015 in die Schweiz, wo er gleichentags um Asyl nachsuchte. Am 17. August 2015 wurde er summarisch zu seinen Asylgründen befragt (Befragung zur Person [BzP]). Die ausführliche Anhörung zu den Asylgründen fand am 5. April 2017 statt.

A.b  Der Beschwerdeführer begründete sein Asylgesuch im Rahmen der Anhörungen im Wesentlichen damit, er habe von Geburt bis zur Ausreise in B._______ gelebt und dort auch die Schule besucht. Ein Schuljahr habe er wiederholen müssen. Weil sein Vater im Militär gedient habe, habe er sich um die Familie kümmern müssen und sei deshalb auch in der Landwirtschaft tätig gewesen. Weil er in der Schule oft gefehlt habe, sei er 2013 in der sechsten Klasse vom Unterricht ausgeschlossen worden. Obwohl er noch keinen Marschbefehl erhalten habe und auch sonst keinen Kontakt zu den militärischen Behörden gehabt habe, habe er sich vor einem Einzug in den militärischen Nationaldienst gefürchtet und deshalb 2014 entschieden, Eritrea zu verlassen. In einem achtstündigen Fussmarsch habe er nachts die Grenze nach Äthiopien überquert; dabei habe er sich an den Sternen orientiert. Er habe bei seiner Ausreise keine Soldaten angetroffen und auch keine militärischen Gebäude passiert.

B. 
Mit Verfügung vom 7. August 2017 - eröffnet am 9. August 2017 - stellte das SEM fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht (Dispositivziffer 1), lehnte sein Asylgesuch ab (Dispositivziffer 2), verfügte die Wegweisung aus der Schweiz (Dispositivziffer 3) und ordnete den Vollzug der Wegweisung an (Dispositivziffern 4 und 5).

C. 
Handelnd durch die oben rubrizierte Rechtsvertreterin focht der Beschwerdeführer die Verfügung des SEM vom 7. August 2017 mit Eingabe vom 5. September 2017 beim Bundesverwaltungsgericht an. Er beantragte die Aufhebung der Dispositivziffern 4 und 5 der angefochtenen Verfügung, die Feststellung der Unzulässigkeit oder zumindest Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs und die Anordnung der vorläufigen Aufnahme. Prozessual ersuchte er um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses, Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Beiordnung einer amtlichen Rechtsbeiständin in Person seiner Rechtsvertreterin.

Der Beschwerde beigelegt war eine Unterstützungsbestätigung der Sozialberatung und Asylbetreuung D._______ vom 21. August 2017.

D. 
Mit Zwischenverfügung vom 11. September 2017 hiess der Instruktionsrichter das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gut, verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und ordnete dem Beschwerdeführer die rubrizierte Rechtsvertreterin als amtliche Rechtsbeiständin bei. Zudem forderte er das SEM zur Einreichung einer Vernehmlassung auf.

E. 
Das SEM liess sich mit Eingabe vom 14. September 2017 zur Beschwerde vernehmen; es hielt in seiner Vernehmlassung an der angefochtenen Verfügung vollumfänglich fest. Der Instruktionsrichter gewährte dem Beschwerdeführer daraufhin mit Verfügung vom 15. September 2017 die Möglichkeit zur Replik.

F. 
Mit Eingabe vom 2. Oktober 2017 machte der Beschwerdeführer von seinem Replikrecht Gebrauch und äusserte sich zur Vernehmlassung des SEM. An den Beschwerdeanträgen hielt er vollumfänglich fest.

G. 
Mit Eingabe vom 23. Januar 2018 reichte die amtliche Rechtsbeiständin eine Aufstellung ihrer Kosten und Aufwendungen zu den Akten.

 

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.   

1.1  Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - wie auch vorliegend - endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]).

Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108 Abs. 1 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG) ist einzutreten.

1.2  Dieses Urteil ergeht in Anwendung von Art. 21 und Art. 25 VGG i.V.m. Art. 32 Abs. 2 und 3 des Geschäftsreglements vom 17. April 2008 für das Bundesverwaltungsgericht (VGR, SR 173.320.1) in Besetzung mit fünf Richterinnen beziehungsweise Richtern.

Im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben bildeten die vorliegend geprüften Rechtsfragen Gegenstand eines Koordinationsverfahrens der Vereinigung der betroffenen Abteilungen IV und V. Diese hat die Fragen anlässlich der Plenumssitzungen vom 22. März 2018, 26. April 2018 und vom 26. Juni 2018 im Sinne der nachfolgenden Erwägungen 3-6 beantwortet. Das vorliegende Urteil dient der Umsetzung dieser Beschlüsse.

2.   

2.1  Das Bundesverwaltungsgericht überprüft die angefochtene Verfügung auf Verletzung von Bundesrecht sowie unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts hin (Art. 106 Abs. 1 AsylG). Im Zusammenhang mit dem Wegweisungsvollzug kann zudem die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 37 VGG i.V.m. Art. 49 VwVG; vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

2.2  Die Beschwerde richtet sich ausschliesslich gegen den von der Vorinstanz angeordneten Vollzug der Wegweisung (dazu nachfolgend,
E. 3-7). Die Dispositivziffern 1 bis 3 der Verfügung des SEM vom 7. August 2017 sind folglich in Rechtskraft erwachsen und bilden nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

3. 
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in jüngerer Zeit in zwei publizierten Referenzurteilen (Urteile des BVGer D-7898/2015 vom 30. Januar 2017 und D-2311/2016 vom 17. August 2017) mit der Situation in Eritrea befasst.

3.1  Im Urteil D-7898/2015 vom 30. Januar 2017 stützte das Bundesverwaltungsgericht nach einer ausführlichen Quellenanalyse (a.a.O., E. 4.6-4.11) die Praxisänderung des SEM, wonach eine illegale Ausreise aus Eritrea für sich genommen nicht mehr zur Flüchtlingseigenschaft führt. Ein auf asylrelevante Motive gestütztes erhebliches Risiko einer Bestrafung bei einer Rückkehr sei nur dann anzunehmen, wenn nebst der illegalen Ausreise weitere Faktoren hinzuträten, welche die asylsuchende Person in den Augen der eritreischen Behörden als missliebige Person erscheinen liessen (a.a.O., E. 5.1). Das Bundesverwaltungsgericht hielt in diesem Urteil darüber hinausgehend fest, dass die Möglichkeit einer Einziehung in den Nationaldienst nach der Rückkehr asylrechtlich nicht von Relevanz sei, weil es sich dabei nicht um eine Massnahme handle, die aus asylrechtlich beachtlichen Motiven (vgl. Art. 3 Abs. 1 AsylG) erfolge (a.a.O., E. 5.1).

Die Frage, ob der Vollzug der Wegweisung angesichts einer drohenden Einziehung in den Nationaldienst unter dem Blickwinkel von Art. 83 Abs. 3 AuG in Verbindung mit Art. 3 und Art. 4 EMRK als zulässig und unter jenem von Art. 83 Abs. 4 AuG als zumutbar betrachtet werden kann, konnte in jenem Verfahren aufgrund der Anordnung der vorläufigen Aufnahme (a.a.O., Sachverhalt, Bst. C) offen bleiben.

3.2  Im Urteil D-2311/2016 vom 17. August 2017 beschäftigte sich das Bundesverwaltungsgericht ausführlich mit der Zulässigkeit und der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Eritrea. Angesichts des konkreten Sachverhalts - es war davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in jenem Verfahren bereits vor ihrer Ausreise aus Eritrea aus dem Nationaldienst entlassen worden war und deshalb auch bei einer Rückkehr nicht mehr eingezogen werden würde - bejahte es die Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs (a.a.O., E. 11-14). Bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs kam es nach eingehender Quellenanalyse (a.a.O., E. 15 und 16) zum Schluss, angesichts der dokumentierten Verbesserungen in der Nahrungsmittel- und Wasserversorgung, im Bildungswesen sowie im Gesundheitssystem Eritreas könne die bisherige Praxis, dass eine Rückkehr nur bei begünstigenden individuellen Umständen zumutbar sei (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 2005 Nr. 12), nicht mehr aufrechterhalten werden (a.a.O., E. 17.2). Angesichts der schwierigen allgemeinen - und insbesondere wirtschaftlichen - Lage des Landes müsse bei Vorliegen besonderer Umstände aber nach wie vor von einer Existenzbedrohung ausgegangen werden. Die Frage der Zumutbarkeit bleibe daher im Einzelfall zu prüfen (a.a.O., E. 17.2).

Auch in diesem Urteil offen blieb die Frage der Zulässigkeit und Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs für den Fall, dass von einer zukünftigen Einziehung der wegzuweisenden Person in den Nationaldienst auszugehen wäre.

3.3  Der Beschwerdeführer beruft sich im vorliegenden Verfahren in erster Linie darauf, dass der Wegweisungsvollzug angesichts der ihm drohenden Einziehung in den Nationaldienst unzulässig beziehungsweise unzumutbar sei. Das vorliegende Grundsatzurteil dient vor diesem Hintergrund der Klärung der bisher offengelassenen Frage, ob der Vollzug der Wegweisung auch angesichts einer drohenden Einziehung in den Nationaldienst als zulässig (Art. 83 Abs. 3 AuG) und zumutbar (Art. 83 Abs. 4 AuG) betrachtet werden kann. Für die Klärung der Frage, ob jemandem eine solche Einziehung droht, sind weiterhin die massgeblichen Erwägungen des Grundsatzurteils D-2311/2016 vom 17. August 2017 (E. 13.2-13.4) zu beachten. Im vorliegenden Fall kann aufgrund des Alters des Beschwerdeführers ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass er bei einer Rückkehr noch in den Nationaldienst eingezogen würde.

Einzugehen ist ausserdem auf das Beschwerdeargument, ihm drohe bei einer Rückkehr nach Eritrea aufgrund seiner illegalen Ausreise eine Inhaftierung und in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 3 EMRK.

4.   

4.1  Die Beschaffung von Informationen über die hier interessierenden Verhältnisse im eritreischen Nationaldienst gestaltet sich aus verschiedenen Gründen schwierig. Die ganze Macht des eritreischen Staats ballt sich in der Führungselite um Präsident Isaias Afewerki; insbesondere seit Ende des Grenzkriegs mit Äthiopien im Jahr 2000 werden vom Regime keine oppositionellen Meinungen zugelassen, was zur Folge hat, dass mittlerweile nur noch staatliche Medien existieren. Ausländische Journalistinnen und Journalisten halten sich in der Regel - wenn überhaupt - nur temporär in Eritrea auf. Aufgrund der hohen Repression äussern sich Zeuginnen und Zeugen auch ihnen gegenüber nur anonym, was die Verifizierung von Informationen erheblich erschwert. Das Regime lässt keine ausländischen Menschenrechtsorganisationen ins Land; die wenigen internationalen Organisationen, die in Eritrea namentlich unter dem Patronat der Vereinten Nationen tätig sind, publizieren keine detaillierten Informationen über die dortigen Verhältnisse. Aktuelle wissenschaftliche Arbeiten über soziopolitische Themen haben Seltenheitswert, auch weil die Reisefreiheit in Eritrea selbst eingeschränkt ist und Datenerhebungen in Eritrea selbst kaum möglich sind. Sowohl wissenschaftliche Abhandlungen als auch Berichte von Nichtregierungsorganisationen stützen sich daher oftmals auf Zeugenaussagen aus der eritreischen Diaspora, welche in ihrer Haltung zum Regime stark gespalten ist. Schliesslich informiert auch das eritreische Regime nur sehr zurückhaltend; offizielle Statistiken - beispielsweise zur Bevölkerungszahl - existieren kaum und auch die eritreische Verwaltungspraxis ist intransparent (vgl. auch die Darstellung der Quellenproblematik in den Referenzurteilen des BVGer D-7898/2015 vom 30. Januar 2017 [E. 4.6] und D-2311/2016 vom 17. August 2017 [E. 10.1]).

Nichtsdestotrotz haben verschiedene Akteure in jüngerer Zeit zu den Verhältnissen im eritreischen Nationaldienst Stellung genommen. Nachfolgend werden die Quellen genannt, auf die das vorliegende Grundsatzurteil Bezug nimmt (vgl. E. 4.2); sodann sind einige Vorbemerkungen zum Beweiswert der wichtigsten dieser Quellen anzubringen (vgl. E. 4.3).

4.2  Für die nachfolgende Analyse der Bedingungen im eritreischen Nationaldienst wurden folgende Quellen verwendet (alphabetisch geordnet):

-        Africa Confidential, Issayas staggers a little, 15. Februar 2013

-        Amnesty International (AI), Eritrea: 20 years of independence, but still no freedom, Mai 2013, abgerufen von https://www.amnestyusa.org/files/eritrea_-_20_years_-_afr_64.001.2013.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018) (zit. 20 years of independence)

-        AI, Just Deserters: Why Indefinite National Service in Eritrea Has Created a Generation of Refugees, Dezember 2015, abgerufen von <https://www.amnesty.org/
download/Documents/AFR6429302015ENGLISH.PDF> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018) (zit. Just Deserters)

-        Bertelsmann Stiftung, BTI 2019 - Eritrea Country Report. Gütersloh: Bertelsmann, 2018, abrufbar unter http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Eritre
a.pdf> (zuletzt abgerufen am 14. Juni 2018) (zit: BTI 2018)

-        Bozzini David, En état de siège. Ethnographie de la mobilisation nationale et de la surveillance en Erythrée, Dissertation Universität Neuenburg, abrufbar unter <https://doc.rero.ch/record/25005/
files/These_BozziniD.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

-        British Broadcasting Corporation (BBC), Has Eritrea's migration problem been exaggerated?, 8. Juni 2016

-        Danish Immigration Service (DIS), Eritrea - Drivers and Root Causes of Emigration, National Service and the Possibility of Return, Appendix Edition, Dezember 2014

-        Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), Bericht über Herkunftsländer-Informationen - Länderfokus Eritrea, Mai 2015 (verfasst durch das SEM), abrufbar unter https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO-Eritrea-CountryFocus-DE.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018) (zit. Länderfokus)

-        EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen - Eritrea: Nationaldienst und illegale Ausreise, November 2016 (verfasst durch das SEM), abrufbar unter https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Er
itrea_COIreport_Dec2016_DE.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018) (zit. Nationaldienst)

-        Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Auf gepackten Koffern, 21. März 2017 (zit. Auf gepackten Koffern)

-        FAZ, Streit über UN-Bericht: Alles gar nicht so schlimm in Eritrea?, 6. Januar 2017 (zit. Alles gar nicht so schlimm?)

-        Habte Mussie, Nationenbildung in einem multiethnischen Staat - Beitrag von Bildung und Schülbücher im nationalen Integrationsprozess Eritreas, Hamburg 2011 (zit. Habte, Nationenbildung)

-        Hirt Nicole, Eritrea, in: Abbink Jon/Elischer Sebastian/Mehler Andreas/Melber Henning (Hrsg.), Africa Yearbook. Politics, Economy and Society South of the Sahara in 2015, Volume 12, Leiden 2016, S. 298-305.

-        Human Rights Watch (HRW), Service for Life - State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea, 16. April 2009 (zit. Service for Life)

-        HRW, World Report 2016 - Eritrea, Januar 2016 (zit. World Report)

-        International Crisis Group (ICG), Eritrea: Ending the Exodus?, 8. August 2014 (zit. Exodus)

-        ICG, Eritrea: Scenarios for Future Transition, 28. März 2013 (zit. Scenarios)

-        International Refugee Rights Initiative (IRRI), Tackling the Root Causes of Human Trafficking and Smuggling from Eritrea - The need for an empirically grounded EU policy on mixed migration in the Horn of Africa, November 2017, abrufbar unter http://www.refugee-rights.org/old-site/Publications/Papers/2017/17%2011%2007%20KP%20final%20on
line.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

-        Kaplan Seth, Eritrea's Economy: Ideology and Opportunity, Atlantic Council Africa Center Report, Dezember 2016, abrufbar unter <http://www.atlanticcouncil.org/images/publications/Eritreas_
Economy_web_1208.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

-        Kibreab Gaim, Sexual Violence in the Eritrean National Service, African Studies Review, 60(1) 2017, S. 123-143 (zit. Sexual Violence)

-        Kibreab Gaim, The Eritrean National Service: Servitude for 'the Common Good' and the Youth Exodus, Rochester 2017 (zit. Kibreab, The Eritrean National Service)

-        Kibreab Gaim, The national service/Warsai-Yikealo Development Campaign and forced migration in post-independence Eritrea, Journal of Eastern African Studies, 2013, 7 (4): 630-649 (zit. Warsai-Yikealo)

-        Kibreab Gaim, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, Oktober 2014, <https://www.ecoi.net/en/file/local/1282042/90_1416473628_gaim-kibreab-the-open-ended-eritrean-national-service-the-driver-of-forced-migration.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018) (zit. Open-Ended Eritrean National Service)

-        Landinfo (Country of Origin Information Centre der norwegischen Migrationsbehörden), Report Eritrea: National Service, 20. Mai 2016

-        Le Monde Diplomatique, Das System Eritrea, 12. November 2015

-        Radio Télévision Suisse (RTS), Temps Présent : Erythrée, enquête au pays des travaux forcés, Sendung ausgestrahlt am 17. Mai 2018 (zit. Temps Présent : Erythree)

-        Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst (Themenpapier der SFH-Länderanalyse), abrufbar unter <https://www.fl
uechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/afrika/eritrea/170630-eri-nationaldienst.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

-        SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), abrufbar unter <https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunft
slaender/afrika/eri/ERI-ber-easo-update-nationaldienst-d.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

-        Stauffer Hans-Ulrich, Eritrea - der zweite Blick, 1. Auflage, Februar 2017

-        Süddeutsche Zeitung, Der Mann, der den verheerenden Krieg beendete, 9. Juli 2018

-        United Kingdom (UK) Home Office, Country Information and Guidance - Eritrea: National (incl. Military) Service, Version 4.0e, Oktober 2016 (zit. National Service)

-        UK Home Office, Report of a Home Office Fact-Finding Mission, Eritrea: Illegal Exit and National Service, Conducted 7 - 20 February 2016 (zit. Fact-Finding-Mission)

-        United Nations Human Rights Council (HRC), Report of the Detailed Findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (A/HRC/29/CRP.1), 5. Juni 2015 (zit.: 2015 Report)

-        HRC, Detailed Findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (A/HRC/32/CRP.1), 8. Juni 2016 (zit. 2016 Report)

-        HRC, National report submitted in accordance with paragraph 5 of the annex to Human Rights Council resolution 16/21: Eritrea (A/HRC/WG.6/18/ERI/1), 8. November 2013 (zit. National report)

-        United States Department of State (USDOS), Eritrea 2017 Human Rights Report, abrufbar unter <https://www.state.gov/documents/organization/277241.pdf> (zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018)

4.3  Der EGMR hat in seiner Praxis zu Art. 3 EMRK verschiedene Kriterien für den Beweiswert allgemeiner Lageberichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen entwickelt. Massgebliche Kriterien sind die Unabhängigkeit, die Vertrauenswürdigkeit und die Objektivität der Urheberin eines Berichts; berücksichtigt werden soll zudem die methodische Qualität der einem Bericht zugrundeliegenden Untersuchung und der daraus gewonnenen Schlüsse. Von erhöhtem Beweiswert sind die Darstellungen eines Berichts, wenn sie durch andere Quellen gestützt werden, wobei insoweit wohl zusätzlich verlangt werden muss, dass die Informationen unabhängig voneinander erhoben worden sind (vgl. zum Ganzen EGMR [Grosse Kammer], Urteil vom 23. August 2016, J.K. und andere v. Schweden, §§ 88-89). Im Lichte dieser Kriterien, die für die Würdigung von Länderberichten generelle Geltung beanspruchen können, sind hinsichtlich des Beweiswerts der nachfolgend hauptsächlich verwendeten Quellen einige Vorbemerkungen zu machen.

Die Berichte des UK Home Office, des DIS, von Landinfo, des EASO und des SEM (welches die Eritrea-Berichte von EASO verfasst hat) beruhen - im Unterschied zu den Berichten von HRW und AI - mehrheitlich auf Informationen, die anlässlich von Fact-Finding-Missions in Eritrea selbst generiert worden sind. Dies alleine ist aber kein Indikator für die Verlässlichkeit der Informationen, zumal die Informationen vor allem von diplomatischen Quellen, Regierungsmitgliedern oder regierungsnahen Personen stammen. Die Methodik der jeweiligen Datenerhebung vor Ort und der Kontext der durchgeführten Interviews ist unterschiedlich transparent. Für die Verifizierung von Aussagen von diplomatischen Quellen, Regierungs- und Behördenquellen sowie regierungsnahen Quellen wären ausserdem weitere umfassende Datenerhebungen in Eritrea nötig. Keine der europäischen Delegationen hat bisher die von ihren Quellen erhaltenen Informationen mit einer Vergleichsgruppe bestehend aus Eritreerinnen und Eritreern aus dem eritreischen Alltag jenseits der Regierungs-, Behörden, Partei- und Diplomatenzirkel abgeglichen, um allfällige Widersprüche aufzuzeigen. Der DIS-Bericht wurde ausserdem wegen mangelnder Kontextualisierung einzelner Aussagen und selektiver Verwendung von Informationen von verschiedener Seite öffentlich kritisiert (vgl. HRW, Denmark: Eritrea Immigration Report Deeply Flawed, 17. Dezember 2014, abrufbar unter https://www.hrw.org/news/2014/12/17/denmark-eritrea-immigration-report-deeply-flawed [zuletzt abgerufen am 12. Juni 2018]; HCR, Fact Finding Mission Report of the DIS - UNHCR's perspective, Dezember 2014, abrufbar unter http://www.ft.dk/samling/20141/almdel/uui/bilag/41/14352
06.pdf> [zuletzt abgerufen am 12. Juni 2018]). Zudem ist fraglich, wie zuverlässig die Informationen sind, die von in Eritrea stationierten Diplomatinnen und Diplomaten stammen, zumal deren Bewegungsfreiheit ausserhalb der Hauptstadt Asmara eingeschränkt ist und ihre Einschätzungen zumeist auf anekdotischem Wissen basieren (SEM, S. 15). Ausserdem ist die internationale Community in Eritrea klein, so dass die Quellen kaum unabhängig voneinander sind (Landinfo, S. 5).

Weil internationale Menschenrechtsorganisationen wie AI oder HRW keinen Zugang zu Eritrea erhalten, stützen sich die empirischen Informationen in ihren Berichten auf Quellen ausserhalb Eritreas, hauptsächlich auf Aussagen von eritreischen Flüchtlingen und Asylsuchenden. Wie Landinfo zutreffend bemerkt hat, fehlt dabei oftmals eine kritische Auseinandersetzung zur Verlässlichkeit, Objektivität und Genauigkeit dieser Quellen, zumal eine Verifizierung ihrer Erzählungen nicht möglich ist; auch erscheint es problematisch, aus den Schilderungen der Erlebnisse von Einzelpersonen auf generelle Zustände zu schliessen (Landinfo, S. 6). Kibreab wies 2009 zudem auf die Eigeninteressen von Flüchtlingen und Asylsuchenden hin: Diese könnten zur Inanspruchnahme von Schutz im Ausland verleitet sein, die Beschreibung der Situation in Eritrea zuzuspitzen (Kibreab Gaim, Forced Labour in Eritrea, in: The Journal of Modern African Studies, 47 [1], 2009, S. 41 ff.).

Auch an der Methodik der HRC-Berichte ist einige Kritik geäussert worden. Die Wissenschaftlerin Tanja R. Müller (University of Manchester) stellte eine fehlende Kontextualisierung der Aussagen der durch das HRC interviewten Personen fest; weil diese ein gewisses Eigeninteresse an einer drastischen Beschreibung der Verhältnisse hätten, hätte es sich ihr zufolge aufgedrängt, die Schilderungen der Interviewten den durchaus existierenden konträren Schilderungen anderer Eritreerinnen und Eritreer, aber auch unabhängiger Expertinnen und Experten gegenüberzustellen. Darüber hinausgehend stellt sie fest, die Berichte verfolgten das (politische) Interesse, die Grundlagen für ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen (Müller Tanja R., Human Rights as a political tool: Eritrea and the ,crimes against humanity' narrative, 10. Juni 2016, abrufbar unter https://tanjarmueller.wordpress.com/2016/06/10/human-rights-as-a-political-tool-eritrea-and-the-crimes-against-humanity-narrative/> [zuletzt abgerufen am 12. Juni 2018]). Kritik am Inhalt des Berichts, insbesondere an der Behauptung struktureller und systematischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit, äusserten auch Diplomatinnen und Diplomaten (FAZ, Alles gar nicht so schlimm?) sowie zwei Vertreterinnen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Asmara (Tages-Anzeiger, Und ewig dauert der Wehrdienst, 3. August 2015, abrufbar unter <https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Und-ewig-dauert-der-Wehrdienst/story/11975391> [zuletzt abgerufen am 12. Juni 2018]); sie äussern, von Menschenrechtsverbrechen in dem in den HRC-Berichten festgestellten Ausmass in Eritrea bislang keine Anzeichen gesehen zu haben.

Das Bundesverwaltungsgericht wird vor dem Hintergrund der Bedenken, die gegenüber allen Quellen bestehen, in erster Linie auf Informationen abstellen, die in verschiedenen unabhängig voneinander entstandenen Publikationen übereinstimmend dargelegt werden. Wo Divergenzen bestehen, wird das Gericht nachfolgend auf diese hinweisen, und - wo nötig - unter Würdigung sämtlicher Quellen jene Tatsachen feststellen, welche für die hier zu beurteilenden Rechtsfragen relevant sind.

5. 
Vor der Auswertung der verfügbaren Quellen im Hinblick auf die hier zu koordinierenden rechtlichen Fragen der Zulässigkeit und Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs trotz drohender Einziehung in den eritreischen Nationaldienst (vgl. zur dogmatischen Einbettung dieser Frage nachfolgend, E. 6.1 und 6.2; zur Auswertung der Quellen nachfolgend E. 5.2), drängt es sich auf, zunächst überblicksweise den Zweck (nachfolgend E. 5.1.1), die Dienstzweige (nachfolgend E. 5.1.2), den Kreis der Dienstpflichtigen (nachfolgend E. 5.1.3) und das Rekrutierungssystem (nachfolgend E. 5.1.4) des eritreischen Nationaldiensts darzustellen.

5.1  Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich massgeblich auf das Urteil des BVGer D-2311/2016 vom 17. August 2017 ab (vgl. dort namentlich E. 12).

5.1.1  Der eritreische Nationaldienst wird entweder in militärischen Einheiten (nachfolgend: militärischer Nationaldienst) oder aber in zivilen Einheiten (nachfolgend: ziviler Nationaldienst) absolviert. Beide Zweige unterstehen dem Verteidigungsministerium; sie sind aufgrund des Ziels entstanden, das Land nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht nur zu verteidigen, sondern auch wirtschaftlich wieder aufzubauen (vgl. Art. 5 der Proclamation No. 82/1995 on National Service vom 23. Oktober 1995 [publiziert in Eritrean Gazette, <http://www.refworld.org/docid/3dd8d3af4.html>, zuletzt abgerufen am 10. Juli 2018; fortan: Nationaldienst-Proklamation] und Kibreab, Warsai-Yikealo, S. 630 ff.; Landinfo, a.a.O., S. 8). Zudem soll eine nationale Identität gestiftet und so das Zusammengehörigkeitsgefühl der verschiedenen religiösen, ethnischen und sozialen Gruppen gestärkt werden (Kibreab, The Eritrean National Service, S. 94 ff.). Insbesondere zu diesem Zweck der Identitätsstiftung durchlaufen alle Dienstpflichtigen eine bis zu sechsmonatige Grundausbildung (vgl. dazu nachfolgend E. 5.1.4 und 5.2.1), bevor sie entweder dem militärischen Nationaldienst (vgl. dazu nachfolgend E. 5.2.2) oder dem zivilen Nationaldienst (vgl. dazu nachfolgend E. 5.2.3) zugeordnet werden.

5.1.2  Der militärische Nationaldienst ist in die eritreische Armee (Eritrean Defense Forces, EDF) eingebettet, über deren Struktur und tatsächliche Einsatzfähigkeit kaum gesicherte Informationen existieren. Hervorgegangen aus der ehemaligen Rebellenbewegung EPLF (Eritrean People's Liberation Front), ist die EDF heute unterteilt in Luftwaffe, Marine und Armee. Räumlich ist das eritreische Militär in fünf operation zones (auch military zones genannt) organisiert, die jeweils von einem General verantwortet werden (HRC, 2015 Report, S. 76; Kibreab, The Eritrean National Service, S. 40). Darüber, wie die operation zones organisatorisch und personell strukturiert sind, ist praktisch nichts bekannt. Die Generäle verfügen über viel Macht und sind direkt dem Präsidenten unterstellt (ICG, Scenarios, S. 15). Seit dem Ende des Grenzkriegs gegen Äthiopien (1998 bis 2000) besteht ein nicht quantifizierbarer, aber beträchtlicher Teil der eritreischen Armee aus Personen, die Nationaldienst leisten und deshalb weitgehend unfreiwillig und für einen geringen Sold in der Armee dienen. Deren Motivation ist tief; das Misstrauen zwischen Offizieren und nationaldienstleistenden Armeeangehörigen ist hoch. Das Verhalten von Offizieren, welche die Arbeitskraft von Angehörigen des National Service teilweise zur persönlichen Bereicherung nutzen, trägt ebenfalls zu einer Demoralisierung der Truppe und zu Desertionen bei (Kibreab, The Eritrean National Service, S. 52 ff.). 2013 schrieb eine Fachpublikation, die eritreische Armee bestehe in der Theorie aus 250'000 bis 300'000 Personen; Deserteure berichteten jedoch, dass einige Armeeeinheiten nur noch über die Hälfte des vorgesehenen Personals verfügten (Africa Confidential, a.a.O.). Die aus der Sicht Eritreas existierende Gefahr einer Annexion durch Äthiopien erlaubt es der eritreischen Regierung, die Armee in Dauermobilisation zu halten. Die eritreischen Behörden rechtfertigen die Notwendigkeit der Verlängerung des National Service und der hohen Ausgaben für die Armee mit dem Zustand von no war, no peace und mit der anhaltenden Besetzung von eritreischem Territorium durch Äthiopien (HRC, National Report, S. 21), wobei aufgrund jüngster Berichte von einer Beilegung dieses Konflikts auszugehen ist (vgl. Süddeutsche Zeitung).

Der zivile Nationaldienst hat demgegenüber eine mittlerweile zentrale volkswirtschaftliche Bedeutung erreicht (vgl. Stauffer, S. 135 ff.) und umfasst etwa die Arbeit in Verwaltung, Schulen, Spitälern, Landwirtschaft und Bauunternehmungen (mit einer instruktiven Darstellung des Einsatzes von Nationaldienstleistenden im eritreischen Gesundheitssystem RTS, Temps Présent : Erythrée). Es gibt Berichte, wonach Nationaldienstpflichtige auch für private Unternehmen beziehungsweise Unternehmen der Regierungspartei und der Armee eingesetzt werden (vgl. HRW, Service for Life, S. 54 f.; Le Monde Diplomatique; HRW, World Report, S. 2; BTI 2018, S. 3, 5; private Unternehmen, die von der Regierungspartei völlig unabhängig sind, gibt es in Eritrea kaum mehr [BTI 2018, S. 18]). Die Dienstpflichtigen im zivilen Nationaldienst sind bei der Arbeit ihren zivilen Arbeitgebern unterstellt, bleiben aber einberufen und ihr Einsatz wird durch das Verteidigungsministerium koordiniert (vgl. HRC, 2015 Report, S. 417). Sie bleiben in militärischer Bereitschaft und können (wieder) in den militärischen Dienst versetzt werden (vgl. Landinfo, S. 15). Die HRC erwähnt die Androhung einer Versetzung in militärische Einheiten als mögliche Bestrafung in zivilen Einheiten (vgl. HRC, 2015 Report, S. 427).

5.1.3  Nach den gesetzlichen Grundlagen sind grundsätzlich alle Eritreerinnen und Eritreer nationaldienstpflichtig, ausser sie hätten schon vor Oktober 1995 Militärdienst geleistet oder sie könnten beweisen, am Unabhängigkeitskrieg zwischen 1962 und 1991 partizipiert zu haben (Landinfo, S. 17). Für den militärischen Nationaldienst Untaugliche sind von militärischen Aufgaben befreit; sie müssen stattdessen im zivilen Bereich Dienst leisten (Art. 13 Nationaldienst-Proklamation). Studentinnen und Studenten werden temporär vom Dienst befreit (Art. 14 Nationaldienst-Proklamation). Auch Menschen mit einer physischen Behinderung oder einer psychischen Störung können vom Dienst befreit werden (Art. 15 Nationaldienst-Proklamation). Sämtliche Freistellungen gelten nur temporär (vgl. Kibreab, Open-ended National Service) und können jederzeit aufgehoben werden. Eine Dienstbefreiung aus Gewissensgründen gibt es nicht (vgl. AI, Just Deserters, S. 27; HRW, Service for Life, S. 47 f.).

Zu beachten ist neben den gesetzlichen Freistellungsgründen, dass Angehörige bestimmter Ethnien - namentlich der Saho, der Afar, Rashaida, der Hedareb, der Beni Amer und der Kunama - trotz formaler Dienstpflicht deutlich seltener effektiv in den Nationaldienst eingezogen werden als junge Frauen und Männer der Tigrinya-sprachigen Mehrheitsbevölkerung (vgl. Kibreab, The Eritrean National Service, S. 187). Insbesondere junge muslimische Frauen, welche in ländlichen Gebieten aufwachsen und den ethnischen Minderheiten der Afar, Rashaida, Hedareb und Beni Amer angehören, werden offenbar nur zurückhaltend rekrutiert, weil von Seiten der Regierung die Befürchtung besteht, konservative muslimische Gruppen würden sich dagegen auflehnen (vgl. Kibreab, The Eritrean National Service, S. 119, S. 188; Kibreab, Sexual Violence, S. 127; Landinfo, S. 18).

5.1.4  Die Rekrutierung für den Nationaldienst läuft in der Regel über das Schulwesen. Im Jahr 2003 wurde die Dauer der Secondary School um ein Jahr verlängert. Alle Schülerinnen und Schüler werden für das 12. Schuljahr der Warsay-Yikealo-Schule im nationalen militärischen Ausbildungszentrum in Sawa zugeteilt, in dem zwischen 20'000 und 30'000 Personen untergebracht werden können (AI, Just Deserters, S. 20; Landinfo, S. 12). Aufgrund unwidersprochener Aussagen des eritreischen Informationsministeriums ist davon auszugehen, dass derzeit pro Jahrgang rund 12'000 junge Männer und Frauen das 12. Schuljahr in Sawa durchlaufen (Eritrean Ministry of Information, NSLCE will start Monday, 19. März 2018, <http://www.shabait.com/news/local-news/22266-11th-grade-students-leave-for-sawa> [zuletzt abgerufen am 25. Mai 2018]). In Sawa erhalten die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Grundausbildung bis zu sechs Monate militärisches Training (vgl. UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.9; Landinfo, S. 12; EASO, Länderfokus, S. 37), beenden ihre schulische Ausbildung und legen ein Abschlussexamen ab (vgl. HRC, 2015 Report, S. 341; AI, Just Deserters, S. 19 ff.). Die besten Absolventen und Absolventinnen der Secondary School erhalten Zugang zu einem der Colleges, wobei sie diesbezüglich keine Wahlmöglichkeit besitzen. Nach mehrjähriger Ausbildung an den Colleges werden sie zumeist dem zivilen Nationaldienst zugeteilt (vgl. Landinfo, S. 13; HRC, 2015 Report, S. 390 ff., UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.11). Schülerinnen und Schülern, die das 12. Schuljahr in Sawa mit tieferen Noten abschliessen, wird innerhalb und ausserhalb von Sawa ein Berufstraining in verschiedenen Bereichen (darunter Konstruktion, Management, Technologie und Landwirtschaft) angeboten. Nach Abschluss dieser sogenannten vocational schools werden sie in den militärischen oder den zivilen Nationaldienst eingeteilt (vgl. HRC, 2015 Report, S. 394; Landinfo, S. 13). Wer das zwölfte Schuljahr mit schlechten Noten beendet, wird in der Regel dem militärischen National Service zugeordnet (Kibreab, The Eritrean National Service, S. 21).

Jugendliche, welche die Secondary School nicht besuchen, können ab dem 18. Lebensjahr direkt von der Kebabi-Verwaltung zum Nationaldienst aufgeboten werden, teilweise durch mündliche Ankündigung. Auch Jugendliche, die die Schule noch besuchen, werden manchmal von der Verwaltung zum Dienst aufgeboten. Seit etwa 2001 finden zudem landesweit Razzien (sog. Giffas) statt, bei denen Ortschaften oder Stadtteile von der Armee abgeriegelt und junge Männer und Frauen daraufhin überprüft werden, ob sie ihrer Dienstpflicht nachkommen. Jene, die ihrer Dienstpflicht nicht nachkommen, können inhaftiert und anschliessend der Grundausbildung in Sawa, Wi'a, Kiloma, Mai Dima und Meiter zugeführt werden (vgl. Kibreab, The Eritrean National Service, S. 21; Landinfo, S. 15; SFH, S. 9). Im Rahmen dieser Lehrgänge bleibt ihnen der Zugang zum Schulunterricht verwehrt und sie erhalten nur eine militärische Ausbildung (vgl. HRC, 2015 Report, S. 370). Wann und wie oft solche Razzien heute tatsächlich noch stattfinden ist nicht bekannt, weil die diesbezügliche Quellenlage widersprüchlich ist (vgl. EASO, Nationaldienst, S. 20). Sowohl bei der Rekrutierung über Sawa als auch über die Giffas kommt es vor, dass Minderjährige in den Dienst eingezogen werden (vgl. etwa AI, 20 years of Independence, S. 25; HRC, 2015 Report, S. 367).

5.1.5  Aufgrund der dünnen Faktenlage kann quantitativ nicht genau abgeschätzt werden, wie viele junge Frauen und Männer nach der Grundausbildung den militärischen Einheiten zugeteilt werden und welche Zahl den Nationaldienst im zivilen Sektor leistet beziehungsweise eine höhere Ausbildung absolviert. Es ist jedoch überzeugend dargelegt worden, dass der Nationaldienst mittlerweile als Mittel zur Arbeitskraftbeschaffung für das ganze Wirtschaftssystem benutzt wird (FAZ, Auf gepackten Koffern; Stauffer, S. 135 ff.; Kaplan, S. 1; Kibreab, The Eritrean National Service, S. 32). Angesichts der Abhängigkeit der eritreischen Ökonomie vom Nationaldienst ist deshalb davon auszugehen, dass die überwiegende Zahl der dienstpflichtigen Personen in zivilen Bereichen arbeitet (Stauffer, S. 218). Diese Einschätzung deckt sich mit Angaben des eritreischen Präsidentenberaters Yemane Gebreab aus dem Jahr 2016, wonach rund 90 % der Dienstpflichtigen in zivilen Projekten engagiert sind (SEM, S. 47).

5.2  Nachfolgend ist zu untersuchen, welche Bedingungen im eritreischen Nationaldienst herrschen. Dabei ist einerseits zwischen der Grundausbildung und der eigentlichen Dienstleistung, im Rahmen der eigentlichen Dienstleistung aber vor allem zwischen den verschiedenen Dienstzweigen zu unterscheiden, zumal auch in den verfügbaren Quellen ein weitgehender Konsens zumindest dahingehend zu bestehen scheint, dass sich die Verhältnisse in der Grundausbildung (vgl. dazu nachfolgend, E. 5.2.1) massgeblich von den Bedingungen im militärischen Nationaldienst (vgl. dazu nachfolgend, E. 5.2.2) und dem zivilen Nationaldienst (vgl. dazu nachfolgend, E. 5.2.3) unterscheiden (UK Home Office, National Service, Rz. 10.1.1-10.1.8). Zu thematisieren ist ausserdem die weiterhin undefinierte Dauer der Nationaldienstleistung (vgl. dazu nachfolgend, E. 5.3, welcher auf dem Referenzurteil des BVGer D-2311/2016 vom 17. August 2017 aufbaut [vgl. namentlich E. 12.5]).

5.2.1  Seit dem Schuljahr 2002/2003 werden alle eritreischen Schülerinnen und Schüler für das zwölfte Schuljahr nach Sawa berufen und dort in der Warsay-Yikealo-Schule unterrichtet (AI, Just Deserters, S. 19). Das zwölfte Schuljahr umfasst zunächst eine sieben- bis achtmonatige akademische Ausbildung, die mit einer mehrtägigen schriftlichen Prüfung im Februar
oder März abgeschlossen wird; darauf folgt eine maximal sechsmonatige militärische Ausbildung (EASO, Länderfokus, S. 37, UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.9; Landinfo, S. 12), die aus körperlichem Training, Schulung militärischer Abläufe sowie Unterricht in der Handhabung von Waffen und Munition besteht; zudem soll eine ideologische Grundausrichtung geschult werden. Nicht nur im militärischen, sondern auch im akademischen Teil der Ausbildung ist der Alltag stark militarisiert (Habte, S. 463); es herrscht "eiserne Disziplin" (Bozzini, S. 75; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Äusserungen des eritreischen Informationsministeriums, wonach der Aufenthalt in Sawa als lebensprägendes Ereignis insbesondere disziplinierend wirken soll [Eritrean Ministry of Information, Sawa: Eritrea's Cultural Boot Camp, 30. September 2016, abrufbar unter http://www.shabait.com/categoryblog/22647-sawa-eritreas-cultural-boot-camp sowie Sawa: From makeshift camp to semi-urban centre, abrufbar unter http://www.shabait.com/categoryblog/7523-sawa-from-makeshift-camp-to-semi-urban-center , beides zuletzt abgerufen am 4. Juni 2018]). Weitere - rein militärische - Ausbildungslager befinden sich in Wi'a, Kiloma, Mai Dima und Meiter (vgl. oben, E. 5.1.4); Amnesty International erwähnt weitere Ausbildungslager in Nakfa, Oubol, Gergera und Mendefera (AI, Just Deserters, S. 25). Die militärische Ausbildung besteht auch hier im Wesentlichen aus physischen Übungen, dem Training militärischer Abläufe und Waffenübungen (SFH, S. 10).

Sämtliche Stätten der Grundausbildung sind bekannt für schwierige Lebensbedingungen und einen harten Alltag (allgemein: HRC, 2015 Report, S. 374 ff.; SFH, S. 10; bestätigt selbst durch das eritreische Informationsministerium, vgl. Eritrean Ministry of Information, Sawa: Eritrea's Cultural Boot Camp, a.a.O.). Besonders harte Bedingungen sollen in jenen Lagern herrschen, in denen vorwiegend Personen militärisch ausgebildet werden, die bei Giffas oder bei der illegalen Ausreise aufgegriffen wurden (AI, Just Deserters, S. 25; spezifisch für Wi'a: Landinfo, S. 15; HRC, 2015 Report, S. 376 [strenge Überwachung]). Familienkontakte finden nur sporadisch statt (Habte, S. 473) und das Taschengeld ist mit 145 Nakfa äusserst knapp bemessen (Landinfo, S. 16). Insbesondere in den Berichten des HRC von 2015 und 2016 wird überdies dargelegt, dass die Rekrutinnen und Rekruten systematisch der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgeliefert seien und abweichende Meinungen, Fluchtversuche und Ungehorsam von diesen bisweilen drakonisch bestraft würden (UNHRC, 2015 Report, S. 280-311 sowie S. 366-378; UNHRC, 2016 Report, S. 53 f.). Berichtet wird ausserdem von weitverbreiteten sexuellen Übergriffen, denen dienstleistende Frauen insbesondere durch ihre militärischen Vorgesetzten ausgesetzt seien (UNHRC, 2015 Report S. 378-390; Kibreab, Sexual Violence, S. 135 ff.).

Während in den verfügbaren Quellen kaum umstritten ist, dass die Grundausbildung viele Entbehrungen fordert und in den verschiedenen Camps auch klimatisch bedingt schwierige Lebensbedingungen herrschen, wird in Bezug auf die kolportierten Misshandlungen und sexuellen Übergriffe zumindest in Frage gestellt, dass diese systematisch stattfinden. Eine vom DIS konsultierte regionale Nichtregierungsorganisation mit Büro in Asmara qualifiziert die Berichte über Misshandlungen im Nationaldienst als deutlich übertrieben: Die Rekrutinnen und Rekruten seien in der Regel weder überarbeitet noch unterernährt; auch bestünden keine Hinweise darauf, dass sie systematisch misshandelt würden (DIS, S. 10). Verschiedene internationale Beobachterinnen und Beobachter, die sich in Eritrea aufgehalten haben oder weiterhin dort aufhalten, kritisieren die Methodik der Berichte des UNHRC (vgl. oben, E. 4.3 und ausserdem UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 13.4; Stauffer, S. 140 ff.);  den grundsätzlich repressiven Charakter des eritreischen Regimes stellen sie zwar nicht in Frage - von dem in den UNHRC-Berichten geschilderten Ausmass an Misshandlungen könne jedoch keine Rede sein (FAZ, Alles gar nicht so schlimm?; Landinfo, S. 6 f.; BBC). Auch der Befund, dass es zu systematischen sexuellen Übergriffen kommt, wird - insbesondere mit dem Hinweis, dass solch flächendeckende Übergriffe den Nationaldienst von innen her diskreditieren würden - von verschiedener Seite in Frage gestellt (Landinfo, S. 12 f.; UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.10).

5.2.2  Die Verhältnisse im militärischen Zweig des Nationaldiensts lassen sich aufgrund einer weitgehend mangelnden Differenzierung in den verfügbaren Quellen kaum von jenen in der Grundausbildung unterscheiden. Berichtet wird jedoch, dass viele Militärdienstleistende nicht im eigentlichen Sinne militärische Aufgaben erfüllen, sondern in zivilen Bereichen arbeiten und beispielsweise in der Gefängnisverwaltung oder in Sicherheitsdiensten zum Einsatz kommen (HRC, 2015 Report, S. 396; Kibreab, The Eritrean National Service, S. 32). Für den strikt militärischen Teil des Nationaldiensts wird von schwierigen Lebensbedingungen berichtet: Das Klima an den Örtlichkeiten der militärischen Einrichtungen ist zum Teil extrem heiss, weshalb mangelnde Wasserreserven zu existenziellen Problemen führen. Viele Einheiten ziehen durchs Land, ohne in permanenten Strukturen untergebracht zu sein. Die medizinische Versorgung ist nur sehr elementar vorhanden; so fehlt es etwa an medizinischem Material und Medikamenten (zum Ganzen HRC, 2015 Report, S. 396 ff.).

Prägend für die Dienstleistung im militärischen Zweig ist die kaum beschränkte Entscheidungsmacht der Vorgesetzten, der die Soldatinnen und Soldaten auch aufgrund des Fehlens einer funktionierenden Militärjustiz fast schutzlos ausgesetzt sind (HRW, Service for Life, S. 27). Aufgrund der unvorhersehbaren Gewährung von Urlauben sind beispielweise Familienkontakte nur sporadisch möglich. Auch von drakonischen Bestrafungen und sexuellen Übergriffen wird berichtet (HRC, 2015 Report, S. 403 ff.). Das UK Home Office zitiert jedoch verschiedene Quellen, welche den flächendeckenden Charakter solcher Übergriffe zumindest für Sawa verneinen (UK Home Office, National Service, Rz. 9.9.2-9.9.7). Auch Landinfo relativiert die Häufigkeit körperlicher und sexueller Übergriffe (Landinfo, S. 6 f.).

5.2.3  Wie im militärischen Zweig, entscheiden die Nationaldienstleistenden auch im zivilen Nationaldienst nicht von sich aus, welche Arbeit sie verrichten; vielmehr werden Arbeitstätigkeit und Einsatzort von den zuständigen Behörden zugeteilt (vgl. beispielhaft RTS, Temps Présent : Erythrée; SEM-Fokus, S. 48). Im Übrigen gibt es aber zahlreiche Hinweise darauf, dass sich die Leistung des zivilen Nationaldienstes in vielen Fällen kaum von einer gewöhnlichen Arbeitstätigkeit unterscheidet: Zwar untersteht auch der zivile Nationaldienst dem Verteidigungsministerium; die Dienstleistenden in den Ministerien, Schulen, an Gerichten, in Spitälern, bei lokalen Behörden und staatlichen Unternehmen arbeiten aber in erster Linie unter der Aufsicht ihrer zivilen Arbeitgeber und auch die Anwesenheitspflicht scheint lockerer gehandhabt zu werden als im Militärdienst (Landinfo, S. 15). Auch der HRC schreibt, die Dienstleistung im zivilen Zweig unterscheide sich deutlich von derjenigen im militärischen Bereich, insbesondere, wenn der Dienst in Verwaltung, Schulen oder Spitälern geleistet werde; so komme es beispielsweise regelmässig vor, dass Dienstleistende ihren Arbeitsort - zuweilen auch für längere Zeit - verliessen, um andernorts Einkommen zu erwirtschaften, ohne dass es in diesem Zusammenhang zu harten Bestrafungen komme (vgl. HRC, 2015 Report, S. 427).

Als problematisch erachtet wird jedoch die tiefe Entlöhnung für die Dienstleistung, welche sich zumindest bis 2015 um 700 Nakfa bewegte (AI, Just Deserters, S. 31; UNHRC, 2015 Report, S. 421 f., S. 425 ff.). Am 1. Juli 2015 ist nach Angaben von Finanzminister Berhane Habtemariam ein neues Lohnschema für den zivilen Teil des Nationaldiensts in Kraft getreten, das anstelle des "Taschengelds" eigentliche Löhne vorsieht; eine Ausweitung der neuen Anordnungen auf den militärischen Nationaldienst ist ihm zufolge angedacht. Die neuen Anordnungen sollen rückwirkend per Juli 2015 Lohnerhöhungen auf 2'000 Nakfa zur Folge haben, wobei Personen mit höherer Bildung 3'500 bis 4'000 Nakfa als Entschädigung erhalten sollen; diese Beträge liegen über dem durchschnittlichen Lohnniveau in Eritrea (SEM, S. 53). Offenbar gab es seit 2015 tatsächlich vereinzelt Fälle von Lohnerhöhungen (vgl. Landinfo, S. 16; UK Home Office, National Service, Rz. 10.4.9, UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.7). In einem Film von RTS ist im Gesundheitsbereich von Löhnen um 2'000 Nakfa die Rede (RTS, Temps Présent : Erythrée). Allerdings gingen diese Lohnerhöhungen offenbar mit einer Erhöhung der Steuerlast und weiteren Abzügen einher, so dass die Löhne sich real kaum erhöht haben dürften (USDOS, S. 24). Dies ist insbesondere deshalb problematisch, weil im zivilen Nationaldienst offenbar Essen und Unterkunft nicht immer von den staatlichen Behörden zur Verfügung gestellt werden. Viele Dienstleistende können ihren Grundbedarf allein mit der Entschädigung für ihre Nationaldienstätigkeit kaum decken. Wenn die Möglichkeit besteht, müssen sie zur Existenzsicherung verschiedenen Beschäftigungen gleichzeitig nachgehen und sich namentlich auch im informellen Sektor betätigen (vgl. UNHRC, 2015 Report, S. 426 f.; UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.17.3).

5.3  Die Dienstdauer ist gemäss Art. 8 der Nationaldienst-Proklamation auf eine militärische Ausbildung von sechs Monaten und zwölf Monate aktiven Dienst festgesetzt. Im Mai 2002 verlängerte die eritreische Regierung die Dienstpflicht im Rahmen der "Warsay Yikealo Development Campaign" aber auf unbestimmte Zeit (vgl. HRC, 2015 Report, S. 35; Landinfo, S. 11; HRW, Service for Life, S. 43). Die nach wie vor unbestimmte Dauer des Nationaldienstes wurde von Eritrea bisher mit der no-war-no-peace-Situation gegenüber Äthiopien begründet, das sich nach dem Ende des Grenzkriegs (1998-2000) weigerte, den Entscheid der unabhängigen Ethiopian-Eritrean Boundary Commission (EEBC) umzusetzen und besetztes Territorium an Eritrea zurückzugeben (vgl. ICG, Exodus, S. 3; Hirt, S. 302; HRC, 2015 Report, S. 46 f.).

Trotz dieser grundsätzlich undefinierten Dienstdauer sind in den letzten Jahren nach Angaben der eritreischen Regierung vermehrt Angehörige des zivilen Teils des Nationaldiensts demobilisiert oder entlassen worden. Auch internationale Vertreter in Eritrea geben an, es komme vor, dass Nationaldienst-Angehörige aus dem zivilen Teil entlassen würden. Zum militärischen Teil lägen ihnen kaum Informationen vor (vgl. SEM, S. 47 f.). Die Entlassung aus dem zivilen Dienst kann beim Personalbüro des Ministeriums, bei dem der Dienst geleistet wird, beantragt werden (vgl. UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.18.2). Das Vorgehen hierbei ist aber intransparent, inkonsistent und oft vom direkten Vorgesetzten abhängig (vgl. HRC, 2015 Report, S. 362 f.; UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.18.2 und 9.18.5; Landinfo, S. 5); der HRC erwähnt zudem, dass beim Entlassungsprozedere auch Korruption im Spiel sei (vgl. HRC, 2016 Report, S. 39 f.). Frauen werden in den letzten Jahren bei Heirat, Geburt und aus religiösen Gründen zunehmend vom Dienst befreit. Dies hat zu einem Anstieg von Heiraten in jungen Jahren geführt (vgl. Landinfo, S. 18; AI, Just Deserters, S. 28; UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.18.28). Zudem gibt es Berichte über Entlassungen aus familiären Gründen, wenn jemand Alleinernährer einer Familie ist (vgl. UK Home Office, Fact-Finding-Mission, Rz. 9.18.23 und 9.18.28). Einige der aus dem Dienst Entlassenen konnten danach ihre Arbeit nicht frei wählen und mussten für die Regierung arbeiten, wenn auch zu einem höheren Lohn (vgl. HRW, World Report, S. 2). Zudem ist es vorgekommen, dass aus dem Dienst Entlassene wieder einberufen wurden (vgl. HRC, 2015 Report, S. 364; Landinfo, S. 15), was auch in der Nationaldienst-Proklamation so vorgesehen ist (Art. 23 und 28).

In jüngeren Berichten werden bezüglich der durchschnittlichen Dienstdauer verschiedene Zahlen genannt. So schreibt das SEM, Schätzungen gingen von durchschnittlich 5 bis 10 Jahren im zivilen Dienst aus, eine längere Dienstdauer sei aber möglich. Zum militärischen Dienst gebe es keine zuverlässigen Angaben (vgl. SEM, S. 50). Dies deckt sich mit Beobachtungen im Gesundheitsbereich, wonach der Nationaldienst oft Jahre andauert (vgl. RTS, Temps Présent : Erythrée). Viele Angehörige des Nationaldienstes dienen also auch heute noch jahrelang, was offenbar eines der Hauptmotive darstellt, Eritrea illegal zu verlassen (AI, Just Deserters, S. 15; IRRI, S. 25; DIS, S. 7).

6. 
Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich, regelt das Staatssekretariat das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme (Art. 44 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AuG [SR 142.20])

6.1  Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AuG).

6.1.1  Nachdem der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG - und damit auch jene nach Art. 1A Abs. 2 FK - nicht erfüllt (vgl. Verfügung des SEM vom 7. August 2017, Ziff. III [in der Beschwerde nicht angefochten], findet das Abschiebungsverbot nach Art. 33 Abs. 1 FK vorliegend keine Anwendung.

6.1.2  In Frage kommt jedoch eine Anwendung des Non-Refoulement-Gebots nach Art. 3 EMRK. Diese Norm verbietet den Vollzug einer Wegweisung, wenn stichhaltige Gründe zur Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Zielstaat dem ernsthaften Risiko (engl. "real risk", frz. "risque réel") einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder von Folter ausgesetzt wäre (vgl. Thurin Oliver, Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung, Wien 2009, S. 102, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Weitgehend deckungsgleichen Schutz bietet Art. 3 FoK, obwohl die Norm ihrem Wortlaut nach auf das Risiko von Folter beschränkt ist (De Weck Fanny, Non-Refoulement under the European Convention on Human Rights and the UN Convention against Torture, Leiden 2017, S. 455). In Frage steht bei Art. 3 EMRK - und auch bei Art. 3 FoK - nicht die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Zielstaates, sondern jene des wegweisenden Staates, dessen Abschiebungsmassnahmen direkt zur Folge hätten, dass die betroffene Person dem ernsthaften Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung beziehungsweise von Folter ausgesetzt wäre (vgl. Blum Nina, The European Convention on Human Rights beyond the nation-state, Basel 2015, S. 28; nachfolgend wird im Dienste besserer Lesbarkeit nur noch von "unmenschlicher Behandlung" die Rede sein, da jede Folter gleichzeitig auch eine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" darstellt und jede "erniedrigende Behandlung" zugleich "unmenschlich" ist; vgl. Beriger Julian-Ivan/ Brunner Arthur, Das Non-Refoulement-Prinzip als Hinderungsgrund für Dublin-Überstellungen - unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK, in: Mobilität - Mobilité - Mobility, Recht der mobilen Gesellschaft, Zürich/St. Gallen 2015, S. 195 ff., S. 204, m.w.H. auf die Rechtsprechung  des EGMR).

Indem das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen Behandlung in einem anderen Staat in den sachlichen Anwendungsbereich der EMRK gerückt wird, statuiert das Non-Refoulement-Gebot eine "beschränkte extraterritoriale Anwendbarkeit" der EMRK (EGMR, Urteil vom 21. November 2001, Al-Adsani v. Vereinigtes Königreich, Nr. 35763/97, § 39; vgl. auch
Röben Volker, Grundrechtsberechtigte und -verpflichtete, Grundrechtsgeltung, in: Dörr/Grote/Marauhn [Hrsg.], EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl, Tübingen 2013, Kap. 5 Rz. 118 ff.). Dies rechtfertigt sich nach der Rechtsprechung des EGMR dadurch, dass Art. 3 EMRK eine der zentralen Konventionsgarantien darstellt, als absolute Garantie keinerlei Einschränkungen zulässt (EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989, Soering v. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, § 88) und insofern als unantastbares Recht zu qualifizieren ist. Im Soering-Urteil unterstrich der EGMR zudem den Umstand, dass Art. 3 EMRK in seiner Funktion als Non-Refoulement-Gebot international anerkannte Standards in der Bekämpfung der Folter wiederspiegle und zudem dem Schutz vor schweren und nicht wiedergutzumachenden Schäden diene. Diese Erwägungen seien auf andere Konventionsgarantien nicht ohne Weiteres übertragbar und es könne von den Konventionsstaaten nicht verlangt werden, dass sie ausländische Personen ohne Aufenthaltsrecht auf ihrem Staatsgebiet nur dann ausschafften, wenn die Verhältnisse im Zielland vollumfänglich dem Standard der Konventionsgarantien entsprächen (EGMR, Entscheidung vom 28. Februar 2006, Z. und T. v. Vereinigtes Königreich, Nr. 27034/05, Rechtliche Erwägungen)

Im Verlaufe der Zeit hat der EGMR Abschiebungen gestützt auf andere Konventionsgarantien dennoch für unzulässig erklärt, wobei Fälle zu Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) diesbezüglich den Anfang machten. Gemäss dem EGMR reicht hier das ernsthafte Risiko einer Verletzung von Art. 6 EMRK allerdings nicht aus; erforderlich ist vielmehr das ernsthafte Risiko einer flagranten Verletzung, die bei ihrer Realisierung so schwer wiegen würde, dass sie die eigentliche Substanz des Anspruchs auf ein faires Verfahren in Frage stellen würde (vgl. statt vieler EGMR, Urteil vom 27. Oktober 2011, Ahorugeze v. Schweden, Nr. 37075/09; vgl. für einen Fall, wo stichhaltige Gründe für die Annahme einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle der Wegweisung ausdrücklich verneint, eine drohende "flagrante Verletzung" von Art. 6 EMRK jedoch bejaht wurde EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012, Othman [Abu Qatada] v. Vereinigtes Königreich, Nr. 8139/09, §§ 160-207 [Art. 3 EMRK], §§ 236-287 [Art. 6 EMRK]). In jüngerer Zeit hat der EGMR im Zusammenhang der Übergabe von Terrorverdächtigen durch europäische Behörden an den amerikanischen Auslandsgeheimdienst parallel zu Art. 3 EMRK verschiedentlich Verletzungen von Art. 5 EMRK angenommen, weil die europäischen Behörden vom ernsthaften Risiko einer Inhaftierung der Betroffenen ohne Gewährung grundlegendster strafprozessualer Rechte hätten ausgehen müssen (vgl. EGMR, Urteil vom 24. Juli 2014, Al Nashiri v. Polen, Nr. 28761/11, §§ 526-532; EGMR, Urteil vom 23. Februar 2016, Nr. 44883/09, §§ 292-303). Auch hier standen dem Inhalt nach also "flagrante Verletzungen" von Art. 5 EMRK in Frage (vgl. zu diesem Massstab EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012, Othman [Abu Qatada] v. Vereinigtes Königreich, Nr. 8139/09, § 233).

Die Frage, ob auch Art. 4 EMRK dem Vollzug der Wegweisung entgegenstehen kann, hat der EGMR bis dato nicht zu beantworten gehabt. Im Fall M.O. v. Schweiz berief sich der Beschwerdeführer vor dem EGMR zwar auf Art. 4 EMRK als Hindernis für den Vollzug seiner Wegweisung nach Eritrea; weil er die Garantie jedoch im innerstaatlichen Verfahren nicht angerufen hatte, enthielt sich der EGMR in Anwendung des Ausschöpfungsgrundsatzes (Art. 35 Abs. 1 EMRK) einer inhaltlichen Prüfung der Rüge (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2017, M.O. v. Schweiz, Nr. 41282/16, §§ 82-93). Offen gelassen hat der EGMR die Frage auch in einer Entscheidung, welche unter anderem die Frage zum Gegenstand hatte, ob die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Nigeria dem Risiko ausgesetzt wäre, wieder in einen Prostitutionsring verwickelt zu werden (vgl. EGMR, Entscheidung vom 29. November 2011, V.F. v. Frankreich, Nr. 7196/10, Rechtliche Erwägungen, 1. c. ii.).

Unbesehen dieser Rechtsprechungslücke spricht jedoch vieles dafür, dass der EGMR auch Art. 4 EMRK die "beschränkte extraterritoriale Anwendbarkeit" zusprechen würde, die Art. 3 EMRK, und in qualifizierten Fällen auch Art. 5 und Art. 6 EMRK, zukommt. Ausser Frage steht dies jedenfalls für das Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR Art. 4 EMRK neben Art. 2 und Art. 3 EMRK - und aus denselben Gründen (Schabas William A., The European Convention on Human Rights - A Commentary, Oxford 2015, S. 206) - zu den grundlegenden Artikeln der Konvention zählt (EGMR, Urteil vom 26. Juli 2005, Siliadin v. Frankreich, § 82). Wie Art. 3 EMRK wirkt auch Art. 4 Abs. 1 EMRK absolut und lässt keinerlei Einschränkungen zu (Behnsen Alexander, in: Karpenstein/Mayer [Hrsg.], EMRK Kommentar, 2. Aufl. 2015, Rz. 3 zu Art. 4 EMRK); zudem gehört die Bestimmung zu den wenigen Garantien, die auch im Notstandsfall keinerlei Abweichungen zulassen (Art. 15 Abs. 2 EMRK). Bestehen stichhaltige Gründe zur Annahme, dass eine Person im Falle ihrer Abschiebung dem ernsthaften Risiko einer Verletzung des Sklavereiverbots (Art. 4 Abs. 1 EMRK) ausgesetzt wäre, würde eine Abschiebung deshalb unzulässig.

Differenziert betrachtet werden muss die Frage für das Zwangsarbeitsverbot (Art. 4 Abs. 2 EMRK). Zwar unterscheidet der EGMR bei seiner Aufzählung der "grundlegenden Garantien" der EMRK, wie oben gesehen, nicht zwischen Art. 4 Abs. 1 EMRK und Art. 4 Abs. 2 EMRK und bezeichnet Art. 4 EMRK insgesamt als grundlegende Konventionsgarantie; Art. 4 Abs. 2 EMRK erfährt jedoch - anders als Art. 4 Abs. 1 EMRK - gewisse Einschränkungen, indem Art. 4 Abs. 3 EMRK verschiedene Diensttätigkeiten des Einzelnen für den Staat von seinem Anwendungsbereich ausnimmt (vgl. UK Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], MST and Others [national service - risk categories] Eritrea CG, [2016] UKUT 00443 [IAC], 11. Oktober 2016 [fortan UKUT, MST and Others], Ziff. 373). Das Zwangsarbeitsverbot ist zudem - im Unterschied zum Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft - in Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht genannt; von ihm kann im Notstandsfall unter Wahrung der Verhältnismässigkeit abgewichen werden. Es spricht daher vieles dafür, eine Abschiebung unter dem Gesichtspunkt des Zwangsarbeitsverbots (Art. 4 Abs. 2 EMRK) - wie im Übrigen auch bei Art. 5 und Art. 6 EMRK - erst, aber immerhin dann als unzulässig zu betrachten, wenn das ernsthafte Risiko einer flagranten Verletzung der Bestimmung besteht.

Relativiert wird die Bedeutung der eben erörterten Rechtsfrage durch den Umstand, dass eine flagrante Verletzung des Zwangsarbeitsverbots kaum denkbar ist, ohne dass gleichzeitig auch Art. 3 EMRK verletzt wäre (vgl. UKUT, MST and Others, Ziff. 376; vgl. für eine parallele Argumentation im Zusammenhang von Art. 9 EMRK EGMR, Entscheidung vom 28. Februar 2006, Z und T v. Vereinigtes Königreich, a.a.O.). Es ist - gerade mit Blick auf die hier vorzunehmende Einordnung der Bedingungen im eritreischen Nationaldienst - davon auszugehen, dass das ernsthafte Risiko einer flagranten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK den Vollzug der Wegweisung nach Eritrea auch unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 EMRK als unzulässig erscheinen liesse. Gleichwohl prüft das Bundesverwaltungsgericht nachfolgend die Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs (angesichts drohender Einziehung in den eritreischen Nationaldienst) zunächst unter den Gesichtspunkten von Art. 4 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 EMRK und dann - subsidiär - unter jenem von Art. 3 EMRK. Dieses Vorgehen drängt sich nur schon deshalb auf, weil im Lichte des Urteils des EGMR im Fall M.O. v. Schweiz geklärt werden muss, ob und inwieweit Art. 4 Abs. 2 EMRK einem Vollzug der Wegweisung bei drohender Einziehung in den eritreischen Nationaldienst entgegensteht (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2017, M.O. v. Schweiz, a.a.O., §§ 82-93).

Während bei Art. 3 EMRK und Art. 4 Abs. 1 EMRK das ernsthafte Risiko einer Verletzung dieser Bestimmungen zur Annahme der Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs und damit zur Anordnung der vorläufigen Aufnahme (Art. 83 Abs. 1 AuG) ausreicht, käme diese Rechtsfolge bei Art. 4 Abs. 2 EMRK nur unter der Bedingung des ernsthaften Risikos einer flagranten Verletzung in Betracht.

6.1.3  Bei der Prüfung von Wegweisungsvollzugshindernissen gilt gemäss der gefestigten Praxis des Bundesverwaltungsgerichts der gleiche Beweisstandard wie bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft; das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (Art. 7 AsylG vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).

Im Falle von Art. 3 EMRK besteht das Wegweisungsvollzugshindernis im ernsthaften Risiko einer zukünftigen unmenschlichen Behandlung. Die blosse Möglichkeit einer zukünftigen unmenschlichen Behandlung genügt zur Annahme eines solchen ernsthaften Risikos nicht (EGMR, Urteil vom 30. Oktober 1991, Vilvarajah und andere v. Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87, § 111) - erforderlich ist vielmehr, die hohe Wahrscheinlichkeit einer solchen Behandlung (EGMR, Urteil vom 10. Juli 2014, Rakhimov v. Russland, Nr. 50552/13, § 93). Das Bundesverwaltungsgericht hat sich vom Vorliegen eines solchen ernsthaften Risikos aufgrund des eben Ausgeführten unter Anwendung des Beweismassstabs der Glaubhaftigkeit zu überzeugen. Dass nur der Nachweis einer bestimmten Wahrscheinlichkeit verlangt wird, hat mit dem (ebenfalls herabgesetzten) Beweismass direkt nichts zu tun, sondern hängt damit zusammen, dass die betroffene Person  den unwiderlegbaren Beweis für die ihr im Falle einer Abschiebung drohende unmenschliche Behandlung gar nicht beibringen kann: Dies würde nämlich bedeuten, "à lui demander de prouver l'existence d'un évènement futur, ce qui est impossible [...]" (EGMR, Urteil vom 14. Februar 2017, Allanazarova v. Russland, Nr. 46721/15 § 103, m.w.H.). Analoges gilt auch bei der Beurteilung von Art. 4 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 EMRK als allfälligen Wegweisungsvollzugshindernissen (vgl. soeben, E. 6.1.2), zumal vom Gericht in diesen Fällen wie in Fällen zum Refoulement-Verbot nach Art. 3 EMRK eine Prognoseentscheidung zu treffen ist (vgl. zum Begriff der Prognoseentscheidung Ossenbühl, Die richterliche Kontrolle von Prognoseentscheidungen der Verwaltung, in: System des Rechtsschutzes, Köln 1985, S. 731 ff.).

In den nachfolgenden Erwägungen ist die materielle Frage zu prüfen, ob unter Annahme einer zukünftigen Einziehung in den eritreischen Nationaldienst das ernsthafte Risiko einer Verletzung des Sklavereiverbots (Art. 4 Abs. 1 EMRK; vgl. nachfolgend E. 6.1.4), einer flagranten Verletzung des Zwangsarbeitsverbots (Art. 4 Abs. 2 EMRK; vgl. nachfolgend, E. 6.1.5) oder des Verbots der unmenschlichen Behandlung (Art. 3 EMRK; vgl. nachfolgend, E. 6.1.6) bestünde. Dabei ist im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wie bereits erwähnt, zumindest Glaubhaftmachung (Art. 7 AsylG) dieses ernsthaften Risikos erforderlich. Dass der EGMR in seinem eigenen Verfahren für die Annahme eines ernsthaften Risikos einen Beweis "au-delà de tout doute raisonnable" verlangt (vgl. EGMR [Grosse Kammer], Urteil vom 13. Dezember 2012, El-Masri v. Mazedonien, §§ 151, 199) und das Beweismass damit höher ansetzt als das Bundesverwaltungsgericht, bedarf vorliegend - auch mit Blick auf Art. 53 EMRK - keiner weiteren Erörterung.

6.1.4  Art. 4 Abs. 1 EMRK verbietet Sklaverei und Leibeigenschaft. Sklaverei liegt gemäss der auch für die EMRK herangezogenen Definition des Sklavereiabkommens vom 25. September 1926 (SR 0.311.37) vor, wenn gegenüber Personen mit Eigentumsrechten verbundene Befugnisse ausgeübt werden (Art. 1 Abs. 1; vgl. auch Art. 7 Ziff. 2 Bst. c des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs [Römer Statut; SR 0.312.1]) und diese hierdurch zum Objekt gemacht werden (EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, Rantsev v. Zypern, Nr. 25965/04, § 276). Die Definition der Leibeigenschaft unter Art. 4 Abs. 1 EMRK geht über Art. 1 Abs. 2 Sklavereiabkommen hinaus (Meyer-Ladewig Jens/Huber Bertold, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer [Hrsg.], EMRK Handkommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2017, Rn. 3 zu Art. 4 EMRK) und wird beschrieben als dauerhafte Pflicht, jemandem unter Zwang zu dienen. Leibeigenschaft ist insofern eine besonders schwere Form der Freiheitsberaubung, welche die Leibeigenen zwingt beim anderen zu leben, ohne dass sie diesen Zustand ändern könnten (EGMR, Urteil vom 26. Juli 2005, Siliadin v. Frankreich, Nr. 73316/01, § 123). Die Abgrenzung zur Zwangsarbeit nach Art. 4 Abs. 2 EMRK liegt in der subjektiv empfundenen Unabänderlichkeit und Dauerhaftigkeit des Zustands, wobei sich dieses Empfinden auf objektive Gründe stützen muss (EGMR, Urteil vom 11. Oktober 2012, C.N. und V. v. Frankreich, Nr. 67724/09, § 91). In der Literatur werden in diesem Sinne beispielsweise die Zwangsprostitution und die Rekrutierung von Kindersoldaten als Leibeigenschaft bezeichnet (Behnsen Alexander, a.a.O., Rz. 4 zu Art. 4 EMRK).

Der UNO-Menschenrechtsrat qualifiziert die Dienstleistung im eritreischen Nationaldienst als Sklaverei im Sinne von Art. 7 Ziff. 2 Bst. c des Römer Statuts (HCR, 2016 Report, S. 51; vgl. auch HRC, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 7. Juni 2017, abrufbar unter <https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/A_HRC
_35_39_E.pdf [zuletzt abgerufen am 7. Juni 2018], S. 58) und damit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies wird unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien damit begründet, dass das Erfordernis des Vorliegens von Eigentumsrechten an einer Person (Art. 7 Ziff. 2 Bst. c Römer Statut) nicht einschränkend zu verstehen sei. Angesichts der ungenügenden Rechtsgrundlagen des eritreischen Nationaldienstes, der willkürlichen und unbestimmten Dienstdauer, des Dienstleistungszwangs, der Nutzung von Zwangsarbeit für Bedürfnisse der People's Front for Democracy and Justice (PFDJ) und mit ihr verbundener privater Personen, der unmenschlichen Bedingungen der Dienstleistung, dem weitverbreiteten Vorkommen von Folter und sexueller Gewalt, der extremen Zwangsmassnahmen zur Abschreckung vor Fahnenflucht, der aussergerichtlichen Bestrafungen von Desertionsversuchen, der Beschränkungen der Religionsfreiheit und der katastrophalen Auswirkungen des Nationaldiensts auf die Religionsfreiheit und das Familienleben sei eine Qualifikation des Nationaldienstes als Sklaverei angebracht, auch wenn die eritreischen Nationaldienstleistenden nicht wie eine Sache behandelt würden (HCR, 2016 Report, S. 51 ff.).

Das UK Upper Tribunal kritisierte diese Einschätzung des UNO-Menschenrechtsrats: Die im 2015-Report zusammengetragenen Indizien liessen nicht den Schluss zu, dass die geschilderten Angriffe auf die Zivilbevölkerung so weitverbreitet und systematisch stattgefunden hätten, dass mit Blick auf Art. 7 Ziff. 1 Römer Statut Verbrechen gegen die Menschlichkeit bejaht werden könnten (UKUT, MST and Others, Ziff. 412). Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts kann der Argumentation des UNO-Menschenrechtsrats aber auch für die hier zu beurteilende Frage des Sklavereiverbots (Art. 4 Abs. 1 EMRK) als Wegweisungsvollzugshindernis nicht gefolgt werden. Die in Art. 1 Abs. 1 Sklavereiabkommen ausdrücklich aufgenommene Voraussetzung, dass zur Annahme von Sklaverei gegenüber der betroffenen Person eigentumsrechtliche Befugnisse ausgeübt werden müssten, muss auch deshalb unangetastet bleiben, weil es in Abschiebungsfällen andere Schutznormen gibt, die bei drohenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit angerufen werden könnten (insbesondere Art. 3 EMRK). Die Verpflichtung eritreischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, Nationaldienst zu leisten, kann nach Auffassung des Gerichts klarerweise nicht als Ausübung eigentumsrechtlicher Befugnisse durch den eritreischen Staat angesehen werden. Auch wenn der Nationaldienst ausserdem formal nicht befristet ist und sich teilweise über Jahre erstreckt (vgl. oben, E. 5.3), kann zudem nicht von jenem dauerhaften Zustand ausgegangen werden, der für die Annahme von Leibeigenschaft vorausgesetzt wäre. Beim eritreischen Nationaldienst handelt es sich diesen Erwägungen gemäss weder um Sklaverei noch um Leibeigenschaft im Sinne von Art. 4 Abs. 1 EMRK. Das Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) steht dem Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers deshalb auch bei einer anstehenden Einziehung in den Nationaldienst nicht entgegen

6.1.5  Art. 4 Abs. 2 EMRK verbietet die Zwangs- und Pflichtarbeit, lässt jedoch offen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Auch den travaux préparatoires zur EMRK lässt sich diesbezüglich nichts entnehmen (vgl. Marauhn Thilo, Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, in: Dörr/Grote/Marauhn [Hrsg.], EMRK/GG Konkordanzkommentar Band I, 2. Aufl., Tübingen 2012, Kap. 12 Rn. 15; Schabas, a.a.O., S. 210). Zur Konkretisierung des Zwangs- und Pflichtarbeitsbegriffs zieht der EGMR Art. 2 Ziff. 1 des Übereinkommens Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation [ILO]) über Zwangs- oder Pflichtarbeit (SR 0.822.713.9) heran; demnach gilt als Zwangs- und Pflichtarbeit jede "Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat" (EGMR, Urteil vom 23. November 1983, Van der Mussele v. Belgien, Nr. 8919/80, § 32). Anknüpfend an diese Definition ("Androhung einer Strafe") verlangt der EGMR den Einsatz körperlichen oder geistigen Zwangs, mit dem eine Arbeitsleistung gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt wird (EGMR, Urteil vom 26. Juli 2005, Siliadin v. Frankreich, a.a.O., § 117). Erforderlich ist nach der Rechtsprechung mit Blick auf die Intensität der Zwangswirkung ausserdem ein Element der Ungerechtigkeit oder Unterdrückung; damit sollen Fälle ohne besondere Härten vom Tatbestand ausgenommen werden (Marauhn, a.a.O., Kap. 12 Rn. 16). Im Rahmen einer Gesamtwürdigung ist zur Beurteilung des Vorliegens von Zwangs- und Pflichtarbeit deshalb zu berücksichtigen, ob die Arbeit im normalen Rahmen der beruflichen Aktivitäten liegt, ob sie entlohnt wird, ob sie dem Allgemeinwohl dient und ob die Last verhältnismässig ist (vgl. mit einer Zusammenfassung der Rechtsprechung EGMR, Guide sur l'article 4 de la Convention européenne des droits de l'homme [Version vom 30. April
2018], abrufbar unter <https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_4
_FRA.pdf> [zuletzt abgerufen am 7. Juni 2018], § 32).

Für die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 EMRK heranziehen lässt sich ausserdem Art. 4 Abs. 3 EMRK, der den sachlichen Schutzbereich von Art. 4 Abs. 2 EMRK von verschiedenen zulässigen Staatsdiensten abgrenzt (EGMR [Grosse Kammer], Urteil vom 7. Juli 2011, Stummer v. Österreich, Nr. 37452/02, § 120; vgl. Marauhn, a.a.O. Kap. 12 Rn. 12). Nicht als Zwangs- und Pflichtarbeit gelten namentlich Dienstleistungen militärischer Art beziehungsweise die Pflicht zur Ableistung eines Ersatzdienstes (Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK), Notstandspflichten (Art. 4 Abs 3 Bst. c EMRK) und übliche Bürgerpflichten (Art. 4 Abs. 3 Bst. d EMRK). Weil sich die eritreische Regierung - entgegen der Einschätzung der ILO (vgl. Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations [CEACR], Observation adopted 2017, published 107th ILC session [2018], Forced Labour Convention - Eritrea, abrufbar unter http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=1000:13100:0::NO:13100:P13100_COMMENT_ID:3333004 [zuletzt abgerufen am 7. Juni 2018]) - unter Hinweis auf den Grenzkonflikt mit Äthiopien darauf beruft, der Nationaldienst stelle keine Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne von Art. 2 Ziff. 1 des Übereinkommens Nr. 29 der ILO über Zwangs- oder Pflichtarbeit dar, ist nachfolgend darzulegen, weshalb der eritreische Nationaldienst in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 EMRK fällt und keine der Ausnahmen nach Art. 4 Abs. 3 EMRK greift (nachfolgend E. 6.1.5.1). Darauf aufbauend wird zu prüfen sein, ob mit dem Wegweisungsvollzug nach Eritrea das ernsthafte Risiko einer flagranten Verletzung des Zwangs- und Pflichtarbeitsverbots (Art. 4 Abs. 2 EMRK) einhergehen würde (nachfolgend E. 6.1.5.2).

6.1.5.1  Dienstverweigerungen und Desertionen werden in Eritrea rigoros bestraft (vgl. EMARK 2006/3 E. 4.4-4.10). Der Nationaldienst weist damit das von Art. 4 Abs. 2 EMRK verlangte Zwangselement auf. Dies allein reicht zur Annahme von Zwangs- und Pflichtarbeit jedoch nicht aus, zumal verschiedene Formen von ausdrücklich als zulässig anerkannten Staatsdiensten (Art. 4 Abs. 3 EMRK) im Interesse des Gemeinwohls und der gesamtgesellschaftlichen Solidarität (vgl. EGMR, Urteil vom 23. November 1983, Van der Mussele v. Belgien, a.a.O., § 38) von der Grundausrichtung her ähnlich ausgestaltet sind. Nachfolgend ist daher zu prüfen, ob die Ausnahmetatbestände von Art. 4 Abs. 3 EMRK greifen.

Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit gilt nach Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK namentlich eine Dienstleistung militärischer Art. Sinn dieses Ausnahmetatbestands ist es, die allgemeine Wehrpflicht, die zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der EMRK auch in Europa noch flächendeckend Bestand hatte (Schabas, a.a.O., S. 215), zu gewährleisten. Der EGMR legt den Tatbestand von Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK dabei eng aus und fasst im Prinzip nur strikt militärische Dienstleistungen darunter (und auch diese nur, soweit sie im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht obligatorisch sind [vgl. EGMR, Urteil vom 4. Juni 2015, Chitos v. Griechenland, Nr. 51637/12, § 87, wo reguläre Mitglieder der Armee vom Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK ausgenommen werden]). Wäre der eritreische Nationaldienst strikt militärisch ausgestaltet und zudem in seiner Dauer begrenzt, würde er wohl grundsätzlich unter Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK fallen. Schon die sechsmonatige Grundausbildung zum Nationaldienst enthält jedoch neben den militärischen auch zivile Komponenten (vgl. oben, E. 5.2.1). Schon deshalb kann der eritreische Nationaldienst nicht als Dienstleistung militärischer Art im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK qualifiziert werden. Weiter lässt sich nur in seltenen Fällen abschätzen, ob eine Person, die nach Eritrea zurückkehrt, ihren Nationaldienst in einer zivilen oder einer militärischen Einheit leisten würde. Ausserdem ist glaubhaft dargelegt worden, dass eritreische Nationaldienstangehörige oft auch dann in zivilen Bereichen arbeiten, wenn sie nach der Grundausbildung dem militärischen Zweig zugeordnet worden sind (vgl. oben, E. 5.2.2). Auch eine feststehende Zuweisung in den militärischen Zweig würde daher nichts daran ändern, dass eine Subsumption des militärischen Nationaldienstes in Eritrea unter Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK nicht möglich ist. Diese Einschätzung deckt sich mit jener des britischen Upper Tribunal; dieses hält in einem Leiturteil zusätzlich zu den eben ausgeführten Argumenten fest, dass der eritreische Nationaldienst gemäss Art. 5 der Nationaldienst-Proklamation insbesondere auch der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes diene (UKUT, MST and Others, Ziff. 419), was eine Anwendung von Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK ausschliesse.

Vom Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 EMRK ausgenommen sind neben Dienstleistungen militärischer Art auch solche, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes treten, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist (Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK [zweiter Teilsatz]). Auch die Anwendung dieser Ausnahmebestimmung kommt im eritreischen Kontext aber nicht in Frage. Dienstverweigerung aus Gewissensgründen ist dort nicht vorgesehen (vgl. oben, E. 5.1.3). Damit kann auch der zivile Nationaldienst nicht als "Ersatzdienst" für den militärischen angeschaut werden, wie es Art. 4 Abs. 3 Bst. b EMRK voraussetzen würde. Eine anderweitige Auslegung dieser Bestimmung stünde quer zu ihrem Wortlaut, welcher die Ausnahme klar auf Länder beschränkt, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist. Darüber hinaus widerspräche sie auch der geltenden Lehre und Praxis, wonach die Ausnahmen von Art. 4 Abs. 3 EMRK restriktiv zu beurteilen sind (vgl. EGMR, Urteil vom 4. Juni 2015, Chitos v. Griechenland, a.a.O., § 83; Frowein Jochen Abraham/Peukert Wolfgang, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Rz. 14 zu Art. 4). Bürgerpflichten, die - wie der eritreische Nationaldienst in seiner zivilen Ausgestaltung - nicht als Ersatzdienst wegen Dienstverweigerung aus Gewissensgründen zu erfüllen sind, sind vielmehr mit Blick auf die Ausnahmeklausel von Art. 4 Abs. 3 Bst. d EMRK zu prüfen. Diese Bestimmung nimmt Arbeiten oder Dienstleistungen, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehören, vom Anwendungsbereich des Zwangs- und Pflichtarbeitsverbots aus.

Auch die Berufung auf einen Notstand im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Bst. c EMRK verfängt im eritreischen Kontext nicht, zumal einem solchen Notstand zeitlich enge Grenzen auferlegt sein müssen (vgl. Malinverni Giorgio, Art. 4 EMRK in: Pettiti/Decaux/Imbert [Hrsg.], La Convention Européenne des Droits de l'Homme, 2. Aufl., Paris 1999, S. 177 ff., S. 178; Marauhn, a.a.O. Kap. 12 Rn. 23). Auch die ILO beschränkt die Tragweite der inhaltlich gleichartigen Ausnahmeklausel von Art. 2 Abs. 2 Bst. d des Übereinkommens Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit auf Situationen, die unvorgesehen und dringlich den Einsatz der Arbeitskraft der Bevölkerung voraussetzen (ILO, Giving globalization a human face, abrufbar unter <http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_norm/---relconf/document
s/meetingdocument/wcms_174846.pdf> [zuletzt abgerufen am 8. Juni 2018], S. 114 f.). Die von der eritreischen Regierung zur Rechtfertigung der unbeschränkten Nationaldienstdauer angerufene no-war-no-peace-Situation mit Äthiopien besteht bereits seit Jahren und könnte angesichts der Friedensbemühungen in jüngster Zeit (vgl. Süddeutsche Zeitung) in Zukunft gänzlich obsolet werden. Der eritreische Nationaldienst kann daher auch nicht als Notstandspflicht im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Bst. c EMRK qualifiziert werden.

Die eritreische Regierung proklamiert, das System des eritreischen Nationaldienstes sei darauf ausgerichtet, die eritreische Wirtschaft und die Einheit der Gesellschaft nach Erklärung der Unabhängigkeit zu stärken (vgl. oben, E. 5.1.1). Die Dienstpflicht soll also dem Allgemeinwohl und damit einem Anliegen dienen, das in einem derart jungen und wenig entwickelten Land wie Eritrea eine besondere Berechtigung hat. Damit könnte der Nationaldienst grundsätzlich unter den Ausnahmetatbestand von Art. 4 Abs. 3 Bst. d EMRK fallen, wonach Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört, keine Zwangs- und Pflichtarbeit darstellt. Gegen eine solche Annahme sprechen jedoch verschiedene Gründe: Die effektive Ausgestaltung des Nationaldienstes pervertiert den ursprünglichen Zweck des Nationaldiensts, indem er als Mittel zur Arbeitskraftbeschaffung für das ganze Wirtschaftssystem benutzt wird (vgl. oben, E. 5.1.5). Diese Zweckentfremdung allein könnte schon dazu veranlassen, den eritreischen Nationaldienst als völkerrechtswidrige Zwangsarbeit zu qualifizieren (vgl. in diesem Zusammenhang auch das im Rahmen der ILO geschlossene Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 25. Juni 1957 [SR 0.822.720.5], dessen Art. 1 Bst. b vorsieht, dass Zwangs- oder Pflichtarbeit nicht als "Methode der Rekrutierung und Verwendung von Arbeitskräften für Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung" verwendet werden darf). Ein wesentlicher Aspekt, den es in Bezug auf den zivilen eritreischen Nationaldienst ebenfalls zu beachten gilt, ist die willkürlich festgelegte und unabsehbar lange Dauer desselben (vgl. oben, E. 5.3). Ein Dienst zum Wohle der Allgemeinheit kann aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann als übliche Bürgerpflicht anerkannt werden, wenn er in seiner Dauer verhältnismässig erscheint. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann der eritreische Nationaldienst daher - zumindest in seiner heutigen Ausgestaltung - auch nicht als übliche Bürgerpflicht im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Bst. d EMRK verstanden werden.

Die Bedingungen im eritreischen Nationaldienst sind folglich als Zwangsarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EMRK zu qualifizieren; die Ausnahmetatbestände gemäss Art. 4 Abs. 3 EMRK greifen nicht.

6.1.5.2  Für die Annahme der Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs aufgrund einer drohenden Einziehung in den eritreischen Nationaldienst genügt jedoch nicht, dass dieser als Zwangs- und Pflichtarbeit zu bezeichnen ist; erforderlich wäre vielmehr, dass durch die Einziehung das ernsthafte Risiko einer flagranten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK bestünde, der eritreische Nationaldienst mithin Art. 4 Abs. 2 EMRK seines essenziellen Inhalts berauben würde. Dies ist nachfolgend einerseits mit Blick auf die generellen Bedingungen des eritreischen Nationaldiensts zu prüfen, anderseits mit Blick auf die kolportierten Misshandlungen und sexuellen Übergriffe; gerade letztere wären nämlich - ihr systematisches Vorkommen vorausgesetzt - geeignet, die Verletzung des Zwangs- und Pflichtarbeitsverbots als flagrant erscheinen zu lassen.

Aufgrund der verfügbaren Quellen (vgl. oben, 4.1-4.3) geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Bemessung der Dienstdauer und die Gewährung von Urlauben im eritreischen Nationaldienst für die Einzelperson kaum vorhersehbar sind. Die durchschnittliche Dienstdauer lässt sich nicht genau beziffern, auszugehen ist jedoch davon, dass sie zwischen fünf und zehn Jahre beträgt und in Einzelfällen darüber hinausgehen kann. Die Lebensbedingungen gestalten sich sowohl in der Grundausbildung als auch im militärischen und im zivilen Nationaldienst schwierig; im zivilen Nationaldienst insbesondere deshalb, weil Verpflegung und Unterkunft nicht immer zur Verfügung gestellt werden und der Nationaldienstsold - trotz einzelner Verbesserungen in jüngster Zeit - kaum ausreicht, um den Lebensunterhalt zu decken. Dabei ist kontextualisierend freilich auch zu berücksichtigen, dass die Einkommen in Eritrea und in der Region generell sehr tief sind (Eritrea belegt in der Übersicht des United Nations Development Programme [UNDP] über das Human Development Index bei einem Pro-Kopf-Inlandprodukt [GDP von 1'411 US-Dollar den 179. Platz von 188  [Djibouti bei einem GDP von 3'120 US-Dollar Platz 172; Äthiopien bei einem GDP von 1'530 US-Dollar Platz 174; Südsudan bei einem GDP von 1'741 US-Dollar Platz 181]; vgl. UNDP, Human Development Report 2016, abrufbar unter http://hdr.undp.org/sites/default/files/2016_human_development_report.pdf [zuletzt abgerufen am 8. Juni 2018], S. 234 ff.). Das Gericht ist in einer Gesamtsicht der Auffassung, dass der effektiv zu befürchtende Nachteil, auf unabsehbare Zeit eine niedrig entlöhnte Arbeit für den Staat ausführen zu müssen, zwar eine unverhältnismässige Last darstellt und insofern auch als Zwangsarbeit im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EMRK zu qualifizieren ist; der Nachteil beraubt jedoch Art. 4 Abs. 2 EMRK nicht seines essenziellen Gehalts, sondern ist auch im Kontext des sozialistischen eritreischen Wirtschaftssystems und der Staatsdoktrin der "self reliance" zu sehen, gemäss welcher die eritreischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unabhängig von internationalen Hilfsorganisationen, ausländischen Staaten und Investoren die Zukunft Eritreas - gegebenenfalls unter Einsatz grosser Entbehrungen - eigenständig erschaffen sollen (vgl. Stauffer, S. 136 f.; Eritrean Ministry of Information, Self-reliance key to Eritrea's independence and development, 6. September 2017, abrufbar unter http://www.shabait.com/categoryblog/24691-self-reliance-key-to-eritreas-independence-and-development  [zuletzt abgerufen am 14. Juni 2018]).

Angesichts der Realkennzeichen verschiedener Schilderungen im Bericht des UNO-Menschenrechtsrats (vgl. namentlich HRC, 2015 Report, S. 282 ff.) ist das Gericht darüber hinausgehend überzeugt, dass es im eritreischen Nationaldienst - insbesondere in der Grundausbildung und im militärischen Nationaldienst - zu Misshandlungen kommt. Nicht erstellt ist - auch angesichts der überwiegenden Zahl von Einsätzen im zivilen Zweig des Nationaldienstes (vgl. oben, E. 5.1.5) -, dass diese Misshandlungen derart flächendeckend sind, dass jede Nationaldienstleistende und jeder Nationaldienstleistende dem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, selbst solche Übergriffe zu erleiden. Zwar besteht die Möglichkeit einer solchen Benachteiligung; dies alleine reicht jedoch gemäss der Rechtsprechung nicht aus - verlangt wäre vielmehr die hohe Wahrscheinlichkeit einer Misshandlung, was aufgrund der verfügbaren Quellen jedoch nicht angenommen werden kann. Dasselbe gilt mit Blick auf die sexuellen Übergriffe gegenüber weiblichen Dienstleistenden, die zwar in Einzelfällen hinreichend dokumentiert sind; die Quellen lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass jede Dienstleistende mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von solchen Übergriffen betroffen wäre.

Zusammenfassend ist aufgrund der verfügbaren Quellen nicht davon auszugehen, es bestehe generell das ernsthafte Risiko einer krassen Verletzung des Verbots der Zwangs- und Pflichtarbeit während des Nationaldienstes. Auch für Frauen ist eine solche ernsthafte Gefahr - trotz der kolportierten sexuellen Übergriffe - zu verneinen.

6.1.6  Unter Art. 3 EMRK fallen könnten namentlich die Misshandlungen und sexuellen Übergriffe, von denen insbesondere in den Berichten des UNO-Menschenrechtsrates (vgl. HCR, 2015 Report, S. 282 ff.) die Rede ist. Unter Verweis auf die Ausführungen unter E. 6.1.5 ist das Gericht jedoch auch hier der Auffassung, dass keine hinreichenden Belege dafür existieren, dass diese Misshandlungen und sexuellen Übergriffe derart flächendeckend sind, dass jede Nationaldienstleistende und jeder Nationaldienstleistende dem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, selbst solche Übergriffe zu erleiden. Es besteht daher kein ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen Behandlung im Falle einer Einziehung in den eritreischen Nationaldienst.

6.1.7  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die drohende Einziehung in den eritreischen Nationaldienst - auch für den Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren - nicht zur Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs führt (Art. 83 Abs. 3 AuG).

Zu beachten ist freilich, dass die vorstehenden Erwägungen lediglich die Situation von freiwilligen Rückkehrerinnen und Rückkehrern betreffen, zumal die eritreischen Behörden keine Zwangsrückführungen aus der Schweiz akzeptieren, und sich an diesem Umstand bis zum allfälligen Abschluss eines Rückführungsabkommens zwischen der Schweiz und Eritrea auch nichts ändern dürfte. Insofern kann offen bleiben, wie sich die Situation für Personen gestalten würde, die unter Zwang nach Eritrea zurückgeführt werden und bei denen davon auszugehen ist, dass sie keine Möglichkeiten hatten, ihr Verhältnis zum eritreischen Staat zu regeln.

6.1.8  Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, ihm drohe aufgrund seiner - von der Vorinstanz nicht in Frage gestellten - illegalen Ausreise bei einer Rückkehr nach Eritrea eine Inhaftierung - und damit zusammenhängend - eine unmenschliche Behandlung, kann auf das oben (E. 3.1) bereits erwähnte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-7898/2015 vom 30. Januar 2017 verwiesen werden. Demnach haben zahlreiche Personen, welche illegal aus Eritrea ausgereist seien, relativ problemlos in ihre Heimat zurückkehren können. Daher sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass einer Person einzig aufgrund ihrer illegalen Ausreise aus Eritrea eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohe. Eine geltend gemachte Furcht vor ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 AsylG erscheine allein aufgrund einer illegalen Ausreise nicht mehr als objektiv begründet (vgl. zum Ganzen Urteil des BVGer 
D-7898/2015 vom 30. Januar 2017 E. 5.1).

Dieselben Gründe lassen darauf schliessen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner illegalen Ausreise bei einer (freiwilligen [vgl. oben, E. 6.1.7]) Rückkehr nach Eritrea  kein ernsthaftes Risiko einer Inhaftierung droht. Damit ist das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen Behandlung auch diesbezüglich zu verneinen.

6.2  Gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimat- oder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist - unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AuG - die vorläufige Aufnahme zu gewähren (vgl. BVGE 2014/26 E. 7.9 und 7.10).

6.2.1  Die Aufzählung von Gefährdungssituationen in Art. 83 Abs. 4 AuG (Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt, medizinischer Notlage) ist nicht abschliessend (vgl. BVGE 2014/26 E. 7.1 und 7.5). Die erwähnten Gefährdungssituationen verdeutlichen jedoch, dass nicht beliebige Nachteile oder Schwierigkeiten die Annahme einer konkreten Gefährdung rechtfertigen. Es sind vielmehr Gefahren für Leib oder Leben, welche zur Folge haben, dass die von der Wegweisung betroffene Person im Falle einer Rückkehr in den Heimat- oder Herkunftsstaat dort in eine existenzielle Notlage geraten wird (vgl. BVGE 2014/26 E. 7.2).

6.2.2  Die Beantwortung der Frage, ob die Ausländerin oder der Ausländer im Falle des Vollzugs der Wegweisung im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet ist, erfordert eine Prognose, welche vor dem länderspezifischen Hintergrund im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung unter Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort und der individuellen Lebensumstände der betroffenen Person vorzunehmen ist. Ob die Gefährdung tatsächlich eintreten wird, lässt sich aufgrund der Natur der Sache nicht strikt beweisen. Gemäss ständiger Praxis des Bundesverwaltungsgerichts genügt es deshalb, wenn die Gefährdung entsprechend dem für die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 7 Abs. 2 AsylG angewandten Beweismass (überwiegende Wahrscheinlichkeit; vgl. oben E. 6.1.3) glaubhaft gemacht wird (vgl. BVGE 2014/26 E. 7.7.4 m.w.H.).

6.2.3  Wie unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs bereits festgestellt worden ist (vgl. E. 6.1.5.2), ist die Bemessung der Dienstdauer und die Gewährung von Urlauben im eritreischen Nationaldienst für die Einzelperson kaum vorhersehbar, da die Nationaldienstleistenden diesbezüglich stark der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgesetzt sind. Die durchschnittliche Dienstdauer lässt sich nicht genau beziffern, auszugehen ist jedoch von mindestens fünf bis zehn Jahren. Die Lebensbedingungen gestalten sich in dieser Zeit als schwierig; im zivilen Nationaldienst insbesondere deshalb, weil Verpflegung und Unterkunft nicht immer zur Verfügung gestellt werden und der Nationaldienstsold - trotz einzelner Verbesserungen in jüngster Zeit - kaum ausreicht, um den Lebensunterhalt zu decken. Diese speziellen Umstände unterscheiden Personen, die in den Nationaldienst einrücken müssen, von anderen Rückkehrerinnen und Rückkehrern, die den Nationaldienst schon geleistet haben oder nicht dienstpflichtig sind, und die für ihren Lebensunterhalt beispielsweise durch Tätigkeiten in der Landwirtschaft und unter Rückgriff auf ihre familiären Strukturen aufkommen können. Für Letztere wurde die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs - unter dem Vorbehalt einer individuellen Prüfung - kürzlich bejaht (vgl. Urteil D-2311/2016 vom 17. August 2017 [als Referenzurteil publiziert] E. 17.2). Allerdings geraten die Dienstleistenden allein aufgrund der allgemeinen Verhältnisse im Nationaldienst nicht in eine existenzielle Notlage.

6.2.4  Bei den Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, von denen im Zusammenhang mit dem Nationaldienst in Eritrea berichtet wird (vgl. E. 6.1.5.2), handelt es sich alsdann um schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, wie sie auch in Kriegen, Bürgerkriegen und Situationen allgemeiner Gewalt häufig vorkommen. Als solche fallen sie nicht nur in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK, sondern auch in jenen von Art. 83 Abs. 4 AuG. Wie bereits dargelegt, kommt es in Eritrea während der Grundausbildung und im militärischen oder zivilen Nationaldienst jedoch nicht derart flächendeckend zu Misshandlungen oder sexuellen Übergriffen, dass davon ausgegangen werden müsste, jede Nationaldienstleistende und jeder Nationaldienstleistende sei dem ernsthaften Risiko ausgesetzt, selbst solche Übergriffe zu erleiden. Vor diesem Hintergrund besteht auch kein Grund zur Annahme, Nationaldienstleistende seien überwiegend wahrscheinlich von solchen Übergriffen betroffen. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, sie seien generell im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AuG konkret gefährdet. Die drohende Einziehung in den eritreischen Nationaldienst führt mithin auch nicht zur Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs.

6.2.5  Zusammenfassend ergibt sich, dass der Vollzug der Wegweisung für Personen, die bei einer Rückkehr nach Eritrea voraussichtlich in den Nationaldienst eingezogen würden (vgl. Referenzurteil des BVGer
D-2311/2016 vom 17. August 2017 [E. 13.2-13.4]) nicht unzumutbar ist. Damit kann der Vollzug der Wegweisung für den Beschwerdeführer, der keine anderen Unzumutbarkeitsgründe vorbringt als die anstehende Einziehung in den eritreischen Nationaldienst, auch nicht als unzumutbar qualifiziert werden.

6.3  Zwar ist darauf hinzuweisen, dass derzeit die zwangsweise Rückführung nach Eritrea generell nicht möglich ist. Die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr steht jedoch praxisgemäss der Feststellung der Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs im Sinne von Art. 83 Abs. 2 AuG entgegen. Es obliegt daher dem Beschwerdeführer, sich bei der zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12), weshalb der Vollzug der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AuG).

7. 
Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu Recht als zulässig, zumutbar und möglich bezeichnet. Eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme fällt somit ausser Betracht (Art. 83 Abs. 1-4 AuG).

8. 
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig sowie vollständig feststellt (Art. 106 Abs. 1 AsylG) und - soweit diesbezüglich überprüfbar - angemessen ist. Die Beschwerde ist abzuweisen.

9.   

9.1  Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Das mit der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wurde jedoch mit Zwischenverfügung vom 11. September 2017 gutgeheissen, weshalb keine Verfahrenskosten aufzuerlegen sind.

 

9.2  Die amtliche Rechtsbeiständin reichte mit Eingabe vom 23. Januar 2018 eine Kostennote ein, welche für den Fall des Unterleigens einen Aufwand von Fr. 1'532.- ausweist. Sowohl der ausgewiesene Aufwand als auch der geltend gemachte Tarif erscheinen als angemessen. Der amtlichen Rechtsbeiständin wird demnach vom Bundesverwaltungsgericht ein Honorar in der Höhe von Fr. 1'532.- (inklusive Auslagen und Mehrwertsteuerzuschlag) zugesprochen.

(Dispositiv nächste Seite)


Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

3. 
Der amtlichen Rechtsbeiständin wird vom Bundesverwaltungsgericht ein Honorar in der Höhe von Fr. 1'532.- zugesprochen.

4. 
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

 

Der vorsitzende Richter:

Der Gerichtsschreiber:

 

 

David R. Wenger

Arthur Brunner

 

 

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